Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfassungsmäßigkeit. unechte Rückwirkung
Leitsatz (amtlich)
Zur verfassungsrechtlichen Überprüfung einer (unecht rückwirkenden) Herabsetzung des Mutterschaftsgeldes.
Orientierungssatz
1. In den Fällen der unechten Rückwirkung ist zwischen dem Gemeininteresse einerseits und dem Vertrauen des Einzelnen auf den Fortbestand der früheren Regelung andererseits abzuwägen und die entsprechende Vorrangigkeit zu erörtern. Eine unechte Rückwirkung ist daher nur dann verfassungswidrig, wenn sie in einen Vertrauenstatbestand eingreift und die Bedeutung des gesetzgeberischen Anliegens für die Allgemeinheit das Interesse des Einzelnen am Fortbestand des bisherigen Zustandes nicht übersteigt. Bei solcher Interessenabwägung ist das sozialstaatliche Prinzip zu beachten (vgl BVerfG vom 3.10.1973 1 BvL 30/71 = BVerfGE 36, 73, 84), und es ist auch der durch Art 14 Abs 1 S 1 GG gewährte Eigentumsschutz zu berücksichtigen.
2. Eine vermögenswerte Rechtsposition genießt den Schutz der Eigentumsgarantie dann, wenn sie auf nicht unerheblichen Eigenleistungen des Versicherten beruht und zudem der Sicherung seiner Existenz dient.
Normenkette
RVO § 200 Abs 4 S 3 Fassung: 1983-12-22; GG Art 20 Abs 1 Fassung: 1949-05-23; GG Art 14 Abs 1 S 1 Fassung: 1949-05-23
Verfahrensgang
LSG Hamburg (Entscheidung vom 24.10.1985; Aktenzeichen VI KRBf 36/84) |
SG Hamburg (Entscheidung vom 13.07.1984; Aktenzeichen 22 KR 110/84) |
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Klägerin vom 1. Januar bis 15. März 1984 ein Mutterschaftsgeld in der bis zum 31. Dezember 1983 gewährten Höhe von täglich 25 DM oder nur von täglich 17 DM zusteht. Die Klägerin hält die durch das Haushaltsbegleitgesetz 1984 (HBegleitG) vom 22. Dezember 1983 (BGBl I 1532) mit Wirkung ab 1. Januar 1984 erfolgte Herabsetzung des Höchstbetrages von täglich 25 DM auf täglich 17 DM für verfassungswidrig.
Die Klägerin, die am 16. September 1983 ein Kind geboren hat, bezog bis zum 15. März 1984 den jeweiligen Höchstbetrag des Mutterschaftsgeldes, nämlich bis 31. Dezember 1983 von täglich 25 DM und von 17 DM anschließend. Sie begehrt den Unterschiedsbetrag von täglich 8 DM. Ihre Klage gegen den ablehnenden Bescheid der Beklagten vom 15. März 1984 und den Widerspruchsbescheid vom 15. Mai 1984 blieb erfolglos. Das Landessozialgericht (LSG) hat ihre Berufung zurückgewiesen und ausgeführt, daß die Herabsetzung des während des Mutterschaftsurlaubs gewährten Mutterschaftsgeldes durch das HBegleitG mit der Verfassung vereinbar sei. Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Klägerin. Sie rügt die Verletzung materiellen Rechts und beantragt, das angefochtene Urteil, das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 13. Juli 1984 sowie den Bescheid der Beklagten in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 15. Mai 1984 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin für die Zeit vom 1. Januar 1984 bis 15. März 1984 ein kalendertägliches Mutterschaftsgeld in Höhe von 25 DM abzüglich des für diesen Zeitraum tatsächlich gezahlten Mutterschaftsgeldes zu zahlen.
Die Beklagte und die Beigeladene sind der Revision entgegengetreten.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet.
Den ablehnenden Bescheiden der Beklagten steht der Inhalt der vorausgegangenen Bewilligungsbescheide nicht entgegen. Denn die Beklagte hat der Klägerin für den hier streitigen Zeitraum kein Mutterschaftsgeld in Höhe von 25 DM bewilligt.
Die zu entscheidende Rechtsfrage geht daher allein dahin, ob die durch Art 1 Nr 4 Buchst b des HBegleitG vom 22. Dezember 1983 (BGBl I 1532) mit Wirkung ab 1. Januar 1984 erfolgte Herabsetzung des für die Zeit des Mutterschaftsurlaubs zu gewährenden Mutterschaftsgeldes von 25 DM auf 17 DM insoweit mit der Verfassung vereinbar ist, als diese Herabsetzung auch laufende Leistungsfälle betraf, bei denen die Schutzfrist also schon vor dem 1. Januar 1984 begonnen hatte (§ 200 Abs 4 Satz 2 Reichsversicherungsordnung -RVO- in der bis zum 31. Dezember 1985, nämlich bis zum Inkrafttreten des Bundeserziehungsgeldgesetzes vom 6. Dezember 1985 - BGBl I 2154 - in Geltung gewesenen Fassung).
Der Art 1 Nr 6 des Gesetzes zur Verwirklichung der mehrjährigen Finanzplanung des Bundes, II. Teil - Finanzänderungsgesetz 1967 - vom 21. Dezember 1967 (BGBl I 1259) hatte mit Wirkung vom 1. Januar 1968 für Versicherte ein Mutterschaftsgeld in Höhe des Arbeitsentgelts, jedoch mindestens 3,50 DM und höchstens 25 DM, für die Zeit von sechs Wochen vor der Entbindung und (grundsätzlich) für acht Wochen nach der Entbindung festgesetzt. Durch das Gesetz zur Einführung des Mutterschaftsurlaubs vom 25. Juni 1979 (BGBl I 797) wurde im Anschluß an die arbeitsrechtliche Schutzfrist des § 6 Abs 1 des Mutterschutzgesetzes (MuSchG) ein Mutterschaftsurlaub bis sechs Monate nach der Geburt eingeführt. Im Artikel 1 (Änderung des Mutterschutzgesetzes) Nr 4 des Gesetzes wurde bestimmt, daß versicherte Frauen für die Zeit der Schutzfristen des § 3 Abs 2 und des § 6 Abs 1 sowie für die Zeit ihres Mutterschaftsurlaubes nach § 8a Mutterschaftsgeld nach den Vorschriften der RVO erhalten. Zugleich wurde durch Artikel 2 (Änderung der RVO) Nr 2 dem § 200 Abs 3 RVO ein Absatz 4 des Inhalts hinzugefügt, daß den in Absatz 1 bezeichneten Versicherten das Mutterschaftsgeld für die Zeit ihres Mutterschaftsurlaubes nach § 8a MuSchG weitergezahlt werde. Durch das obengenannte HBegleitG (Gesetz über Maßnahmen zur Entlastung der öffentlichen Haushalte und zur Stabilisierung der Finanzentwicklung in der Rentenversicherung sowie über die Verlängerung der Investitionshilfeabgabe) wurde dann mit Wirkung vom 1. Januar 1984 der Höchstbetrag des Mutterschaftsgeldes für die Zeit des Mutterschaftsurlaubs von 25 DM auf 17 DM gekürzt; durch Artikel 1 (Änderung der RVO) Nr 4 Buchst b wurde § 200 RVO dahin geändert, daß im Absatz 4 nach Satz 2 folgender Satz 3 angefügt wurde: "Es beträgt für die Zeit des Mutterschaftsurlaubs höchstens 17 Deutsche Mark für den Kalendertag".
Mit Wirkung vom 1. Januar 1986 wurde durch das Gesetz über die Gewährung von Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub (Bundeserziehungsgeldgesetz -BErzGG-) vom 6. Dezember 1985, BGBl I 2154, ein allgemeines Erziehungsgeld vom Tage der Geburt bis zur Vollendung des zehnten Lebensmonats bzw (für Kinder, die nach dem 31. Dezember 1987 geboren werden) bis zur Vollendung des zwölften Lebensmonats eingeführt, das monatlich 600 DM beträgt, dessen Höhe jedoch vom Beginn des siebten Lebensmonats an bei bestimmten Einkommensüberschreitungen gemindert wird; § 200 Abs 4 RVO und die betroffenen Bestimmungen des MuSchG wurden aufgehoben.
Die durch das HBegleitG vorgenommene streitige Kürzung des Mutterschaftsgeldes findet, da eine Übergangsregelung fehlt, auf alle Leistungsfälle ab 1. Januar 1984 Anwendung. Insofern wirkte das Gesetz auf spezifische Umstände ein, die zum Zeitpunkt seines Inkrafttretens zwar noch nicht abgeschlossen waren, aber doch schon begonnen hatten. Eine solche unechte Rückwirkung des Gesetzes ist, soweit sie für den Einzelnen rechtliche Nachteile bringt, dem Gesetzgeber nur beschränkt erlaubt, nämlich nur insoweit, als der Grundsatz des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes der nachteiligen Regelung nicht entgegensteht. Während nachteilige Gesetze mit echter Rückwirkung - die also an gänzlich abgeschlossene Tatbestände nachteilige Rechtsfolgen knüpft - grundsätzlich nichtig sind (BVerfGE 25, 371, 403; 30, 367, 385 f; 30, 392, 401; 48, 1, 20; 50, 177, 193), ist die nachteilige unechte Rückwirkung verfassungsrechtlich grundsätzlich erlaubt und nur ausnahmsweise unzulässig. Beide Folgen sind Ausfluß der Rechtssicherheit und damit des Schutzes des Vertrauens auf die Verläßlichkeit des Gesetzes (BVerfGE 24, 75, 98). Ein solcher Vertrauensschutz ist im Falle des rechtsnachteiligen Anknüpfens an völlig abgeschlossene Tatbestände - bei der echten Rückwirkung - in weit stärkerem Umfang geboten als in den Fällen unechter Rückwirkung, wo das nachteilige Gesetz an zwar in der Vergangenheit begonnene, aber doch in die Gegenwart hineinreichende spezifische Umstände anknüpft. In solchen Fällen ist zwischen dem Gemeininteresse einerseits und dem Vertrauen des Einzelnen auf den Fortbestand der früheren Regelung andererseits abzuwägen und die entsprechende Vorrangigkeit zu erörtern. Eine unechte Rückwirkung ist daher nur dann verfassungswidrig, wenn sie in einen Vertrauenstatbestand eingreift und die Bedeutung des gesetzgeberischen Anliegens für die Allgemeinheit das Interesse des Einzelnen am Fortbestand des bisherigen Zustandes nicht übersteigt (vgl Leibholz/Rinck, Kommentar zum Grundgesetz -GG-, Stand Dezember 1985, Anm 45 zu Art 20 mwN; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd 1, 2. Aufl 1984, S 835, mwN). Bei solcher Interessenabwägung ist das sozialstaatliche Prinzip zu beachten (BVerfGE 36, 73, 84), und es ist auch der durch Art 14 Abs 1 Satz 1 GG gewährte Eigentumsschutz zu berücksichtigen (vgl Leibholz/Rinck, aa0, Anm 41 - S 513 - zu Art 20 GG mwN). 370 Der Gesetzgeber des HBegleitG hat in die Rechtsposition der Klägerin insofern nachteilig eingegriffen, als diese im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes bereits entbunden hatte. Hätte der Gesetzgeber in einer Übergangsregelung bestimmt, daß die streitige Herabsetzung erst bei einer nach dem 31. Dezember 1983 eingetretenen Schwangerschaft erfolge oder doch wenigstens dann nicht eintrete, wenn der Beginn der Schutzfrist des § 3 Abs 2 MuSchG vor dem 1. Januar 1984 liege, so wäre die Klägerin nicht benachteiligt worden. Das Unterlassen einer solchen Regelung war jedoch nicht verfassungswidrig.
Der Gesetzgeber hat die oben aufgezeigten, sich aus dem Grundsatz der Rechtssicherheit ergebenden Grenzen zwar insbesondere bei Dauerverhältnissen zu beachten (vgl BVerfGE 31, 94, 99). Die Herabsetzung des Mutterschaftsgeldes betraf jedoch nur den Zeitraum vom Ende der Schutzfrist bis zum Ablauf von sechs Monaten nach der Geburt, und die Herabsetzung erfolgte insoweit auch in vertretbarem Umfang, während die Höhe des Mutterschaftsgeldes in der Zeit der Schutzfristen nicht angetastet wurde. Das mit dem HBegleitG verfolgte Ziel der Entlastung des öffentlichen Haushalts brauchte bei dieser Sachlage jedenfalls dann nicht gegenüber dem Vertrauen der Klägerin auf den Fortbestand der vorangegangenen Regelung zurückzutreten, wenn es sich beim Mutterschaftsgeld nicht um eine vom verfassungsrechtlichen Eigentumsschutz erfaßte Leistung handelt. Dieser (negative) Umstand liegt hier aber vor.
Wie der Senat schon in seinem Urteil vom 24. November 1983, 3 RK 41/82, KVRS A 2670/2, entschieden hat, stellt das Mutterschaftsgeld eine Leistung dar, die der Staat - anders als etwa bei rentenversicherungsrechtlichen Regelleistungen - in Erfüllung seiner Fürsorgepflicht gewährt. Der Anspruch auf diese Leistung steht daher nicht unter dem Eigentumsschutz des Art 14 GG (vgl BVerfGE 53, 257, 290 ff sowie BVerfG, Beschluß vom 16. November 1984, 1 BvR 142/84, durch den die gegen das genannte Urteil des Bundessozialgerichts -BSG- vom 24. November 1983 gerichtete Verfassungsbeschwerde mangels hinreichender Erfolgsaussicht nicht zur Entscheidung angenommen wurde). Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat in seinen Urteilen vom 16. Juli 1985 - 1 BvL 5/80, 1 BvR 1023, 1052/83 und 1227/84 - (BVerfGE 69, 272) erstmals entschieden, ob, unter welchen Voraussetzungen und in welchem Umfang sozialversicherungsrechtliche Positionen, die nicht zu den wesentlichen Regelleistungen der gesetzlichen Rentenversicherung gehören, den Schutz der Eigentumsgarantie genießen. Nach den vorangegangenen Entscheidungen unterliegen diesem Schutz Ansprüche auf Versichertenrenten aus der gesetzlichen Rentenversicherung und solche Rechtspositionen der Versicherten nach Begründung des Rentenversicherungsverhältnisses, die bei Erfüllung weiterer Voraussetzungen - etwa des Ablaufs der Wartezeit und des Eintritts des Versicherungsfalles - zum Vollrecht erstarken können (Rentenanwartschaften, vgl BVerfGE 53, 257, 289 f). In dem genannten Verfahren des BVerfG (BVerfGE 69, 272) war ua zu klären, ob die krankenversicherungsrechtliche Aussicht der Rentenversicherten auf eine beitragsfreie Krankenversicherung als Rentner dem Eigentumsschutz unterliegt. Das BVerfG hat dahin entschieden, daß diese Rechtsposition nicht die konstituierenden Merkmale des durch Art 14 GG geschützten Eigentums aufweisen. Nach seinen Ausführungen genießt eine vermögenswerte Rechtsposition den Schutz der Eigentumsgarantie dann, wenn sie auf nicht unerheblichen Eigenleistungen des Versicherten beruht und zudem der Sicherung seiner Existenz dient. Das hier streitige Mutterschaftsgeld beruht aber nicht auf den Eigenleistungen der Anspruchsberechtigten (vgl die Kostenregelung in § 200d Abs 3 RVO aF).
Soweit durch die vorangegangene gesetzliche Regelung für die Klägerin ein Vertrauenstatbestand dahin begründet wurde, daß die Höhe des Mutterschaftsgeldes nicht nur während der Zeit der Schutzfristen, sondern darüber hinaus auch für den anschließenden Mutterschaftsurlaub keiner gesetzlichen Einschränkung unterworfen werde, überwiegt somit das öffentliche Interesse an der gesetzlichen Regelung. Zwar hat das ab 1. Januar 1986 für diesen Zeitraum zu gewährende Erziehungsgeld von monatlich 600 DM bei einer Umrechnung auf den Kalendertag wiederum eine geringfügige Erhöhung - auf täglich rund 20 DM - erfahren. Solche Veränderungen und Anpassungen an die jeweiligen Möglichkeiten und deren Einschätzungen liegen aber im Rahmen des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums.
Die Revision konnte daher keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen