Entscheidungsstichwort (Thema)

Verweigerung einer Operation wegen festgestellten, zum Tode führenden Magenkarzinoms bei fortgeschrittener berufsbedingter Silikose eines 73jährigen. Ursächlicher Zusammenhang zwischen Tod und Berufskrankheit

 

Leitsatz (amtlich)

Die Vermutung des § 589 Abs 2 RVO gilt auch dann, wenn die Berufskrankheit für den Tod des Versicherten nur dadurch ursächlich geworden sein kann, daß sie den Versicherten bewogen hat, die durch eine - von der Berufskrankheit unabhängige - Krankheit erforderliche Operation zu verweigern.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Bei der Kausalitätsfrage im Rahmen von § 589 Abs 2 RVO ist auch zu prüfen, welche Auswirkungen das Krankheitsgeschehen gerade auf die in Betracht kommende Einzelpersönlichkeit mit ihrer jeweils gegebenen Struktureigenart im körperlich-seelischen Bereich gehabt hat. Insoweit muß die Vermutung des § 589 Abs 2 RVO auch dann gelten, wenn die Berufskrankheit für den Tod des Versicherten nur dadurch ursächlich geworden sein kann, daß sie den Versicherten, auch wegen seines fortgeschrittenen Alters, bewogen hat, die durch eine - von der Berufskrankheit unabhängige - Krankheit erforderliche Operation zu verweigern.

2. Ferner wird von der Rechtsprechung eine wesentliche Bedingung im Rechtssinne auch dann bejaht, wenn bei einem Geschädigten, der an einer vom Arbeitsunfall unabhängigen, tödlichen Krankheit leidet, die Unfallfolgen den Tod um mindestens etwa ein Jahr beschleunigt haben. Steht aber - wie im konkreten Fall - außerdem fest, daß der Versicherte möglicherweise nur um ein Jahr länger gelebt hätte, wenn er sich hätte operieren lassen, so hat er die Operation bereits aus objektiven Gründen ohne Schaden für den Anspruch seiner Frau auf Witwenrente aus der Unfallversicherung verweigern dürfen.

 

Normenkette

RVO § 589 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1963-04-30, § 590

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 19.01.1984; Aktenzeichen L 2 BU 45/81)

SG Dortmund (Entscheidung vom 18.05.1981; Aktenzeichen S 22 BU 74/80)

 

Tatbestand

Die Klägerin ist die Witwe des 1979 verstorbenen Versicherten A. N.. Der 1906 geborene Versicherte bezog von der Beklagten seit 1953 wegen einer Quarzstaublungenerkrankung Rente in Höhe von 50 vom Hundert (vH), seit 1971 in Höhe von 70 vH der Vollrente. Seit 1978 litt er unter Oberbauchbeschwerden, zunächst nicht eindeutiger Ursache. Im Mai 1979 wurde ein Magenkarzinom festgestellt. Unter anderem wegen seiner Quarzstaublungenerkrankung lehnte der Versicherte eine Operation ab. Am 3. September 1979 verstarb er an den Folgen des Magenkarzinoms.

Die Beklagte lehnte die Gewährung von Hinterbliebenenleistungen mit der Begründung ab, daß die Berufskrankheit für den Tod nicht ursächlich gewesen sei (Bescheid vom 18. März 1980). Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, der Klägerin die gesetzlichen Hinterbliebenenleistungen zu gewähren (Urteil vom 18. Mai 1981). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 19. Januar 1984) und im wesentlichen ausgeführt: Nach § 589 Abs 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) stehe dem (zur Gewährung von Hinterbliebenenrenten führenden) Tod durch Arbeitsunfall der Tod des Versicherten gleich, dessen Erwerbsfähigkeit durch die Folgen einer Berufskrankheit um 50 vH oder mehr gemindert sei. Dies gelte nicht, wenn offenkundig sei, daß der Tod mit der Berufskrankheit nicht in ursächlichem Zusammenhang stehe. Es sei jedoch nicht offenkundig, daß der Tod des Versicherten nicht durch die Berufskrankheit verursacht worden sei. Denn aus dem vom SG eingeholten Sachverständigengutachten gehe hervor, daß der Versicherte möglicherweise ein Jahr länger gelebt hätte, wenn er sich hätte operieren lassen. Zwar hätte die Quarzstaublungenerkrankung der Operation möglicherweise nicht entgegengestanden. Doch habe der Versicherte das anders gesehen. Auf seine subjektiven Vorstellungen komme es an. Wegen seiner Lungenerkrankung, aber auch wegen seines fortgeschrittenen Alters, habe er die Operation verweigern dürfen.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 589 Abs 2 RVO sowie des § 103 Sozialgerichtsgesetz (SGG). § 589 Abs 2 RVO sei auf einen solchen Fall von vornherein nicht anwendbar. Es sei kaum anzunehmen, daß nach dem Willen des Gesetzgebers auch eine Vermutung dafür spreche, daß die Unterlassung einer lebensrettenden Behandlung eines nicht berufsbedingten Leidens auf die Berufskrankheit zurückzuführen sei. Im übrigen habe das LSG nicht festgestellt, ob sich der Kläger wirklich wegen der Silikose nicht zu einer Operation entschlossen habe. § 103 SGG sei verletzt, weil das LSG sich hinsichtlich dieses Punktes zu weiteren Ermittlungen hätte gedrängt fühlen müssen.

Die Beklagte beantragt, das angefochtene Urteil sowie das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 18. Mai 1981 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Bei Zugrundelegung der vom LSG getroffenen tatsächlichen Feststellungen besteht der Anspruch der Klägerin auf Witwenrente zu Recht. Die Feststellungen des LSG sind auch nicht verfahrensfehlerhaft zustande gekommen.

Nach §§ 589, 590 RVO ist bei einem Tod durch Arbeitsunfall der Witwe eine Witwenrente zu gewähren. Dem Tod durch Arbeitsunfall steht der Tod eines Versicherten gleich, dessen Erwerbsfähigkeit durch die Folgen einer Berufskrankheit, wie sie in der Verordnung über Berufskrankheiten genannt sind, um 50 vH oder mehr gemindert ist. Der Versicherte litt an einer der genannten Berufskrankheiten, da er Silikose hatte. Die aus § 589 Abs 2 RVO folgende Annahme, die Berufskrankheit habe zum Tode geführt, ist widerlegt, wenn offenkundig ist, daß der Tod mit der Berufskrankheit nicht in ursächlichem Zusammenhang steht (Satz 2 der Vorschrift). Diese Regelung bezweckt, eine den Hinterbliebenen günstige Entscheidung zu ermöglichen, wenn die Todesursache nicht eindeutig geklärt ist (Urteil des erkennenden Senats vom 4. August 1981 in SozR 2200 § 589 Nr 5). Der ursächliche Zusammenhang zwischen Berufskrankheit und Tod besteht nur dann "offenkundig" nicht, wenn die Berufskrankheit (hier Quarzstaublungenerkrankung) mit einer jeden ernsthaften Zweifel ausschließenden Wahrscheinlichkeit nicht rechtlich wesentliche Ursache des Todes ist (Bundessozialgericht -BSG- in SozR Nr 4 zu § 589 RVO; SozR 2200 § 589 Nr 5).

Der Auffassung der Beklagten ist insoweit nicht zuzustimmen, als sie meint, § 589 Abs 2 RVO sei auf einen Fall generell nicht anwendbar, in welchem die Berufskrankheit nur dadurch habe ursächlich werden können, daß sie eine (rechtzeitige) Operation verhindert habe. Wohl hat der Senat entschieden (Urteil vom 15. Dezember 1972 - 5 RKnU 31/70, SozR Nr 11 zu § 589), § 589 Abs 2 RVO sei nicht anwendbar, wenn zu beurteilen ist, ob der Entschluß des Versicherten zum Freitod durch eine der in dieser Vorschrift genannten Berufskrankheiten rechtlich wesentlich verursacht ist. Den Grund dafür kann man ua in den vielen, auch vom Gesundheitszustand unabhängigen (zum Teil geistigen) Einflüssen auf die menschliche Willensbildung sehen. Es ist daher nicht anzunehmen, daß der Gesetzgeber in einem jeden solchen Fall dem Versicherungsträger den Beweis dafür auferlegen wollte, daß der Versicherte sich unabhängig von seiner Berufskrankheit zur Selbsttötung entschlossen hätte. Vor allem aber handelt es sich um einen Fall der Selbstschädigung, der mit Rücksicht auf die Regelung in § 553 Satz 1 RVO ohnehin nur unter eingeschränkten Voraussetzungen zu Versicherungsleistungen führen kann, nämlich nur, wenn es bewiesenermaßen allein die Berufskrankheit war, die den Versicherten zu der Tat bewogen hat (so Urteil des erkennenden Senats vom 24. November 1982 in SozR 2200 § 589 Nr 6). Anders liegt der Fall dann, wenn der durch die Berufskrankheit hervorgerufene (körperliche oder geistige) Gesundheitszustand eine lebensrettende ärztliche Maßnahme verhindert haben soll. Diese Fallgestaltung ist noch hinreichend typisch für die Folgeschäden, die eine Krankheit nach sich ziehen kann, so daß man von einer Überwälzung der Beweislast auf den Versicherungsträger entsprechend dem Wortlaut des § 589 Abs 2 RVO auszugehen hat (vgl BSG SozR 2200 § 589 Nr 2).

Der durch § 589 Abs 2 Satz 2 RVO verfügte Ausschluß einer Hinterbliebenenentschädigung allein für den Fall der Offenkundigkeit, daß Berufskrankheit und Tod des Versicherten nicht in ursächlichem Zusammenhang stehen, betrifft nicht nur die aus naturwissenschaftlich-medizinischer Sicht theoretisch mögliche Ursachenkette im allgemeinen. Vielmehr findet die Bestimmung auch Anwendung auf die Frage, ob die den Verlauf der Kausalkette markierenden Einzelstationen in der Person des verstorbenen Versicherten gegeben waren (BSG SozR Nr 12 zu § 589 RVO S Aa 15). Auch insoweit gilt der nach der ständigen Rechtsprechung des BSG im Unfallversicherungsrecht maßgebende Ursachenbegriff der wesentlichen Bedingung oder der wesentlich mitwirkenden Ursache (BSG SozR 2200 § 589 Nr 6 S 16 mwN). Er besagt, daß von den Ursachen im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne, also den Bedingungen, die nicht hinweggedacht werden können, ohne daß der Erfolg entfiele, diejenigen berücksichtigt werden, die wegen ihrer besonderen qualitativen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich beigetragen haben. Hieraus folgt für die Anwendung des § 589 Abs 2 Satz 2 RVO, daß der Unfallversicherungsträger die Hinterbliebenen nur dann nicht zu entschädigen hat, wenn die Berufskrankheit den Tod "offenkundig" nicht wesentlich im Rechtssinne - auch nur "mittelbar" mitverursacht hat (so bereits BSG in SozR Nr 12 zu § 589 RVO).

Geht man von der Feststellung des LSG aus, daß der Versicherte (gleichwertig) von dem Umstand, daß er silikosekrank war, wie auch von seinem fortgeschrittenen Alter zur Vermeidung der Operation bestimmt wurde, so war die Silikose eine wesentliche Ursache im genannten Sinne für seinen Entschluß. Zu Recht hat das LSG es auch für bedeutungslos erachtet, ob dies eine normale Reaktion war, ob also andere an seiner Stelle ebenso gehandelt hätten. Bei der Kausalitätsfrage ist vielmehr zu prüfen, welche Auswirkungen das Unfallgeschehen (Krankheitsgeschehen) gerade auf die in Betracht kommende Einzelpersönlichkeit mit ihrer jeweils gegebenen Struktureigenart im körperlich-seelischen Bereich gehabt hat (BSGE 28, 14 = SozR Nr 10 zu § 548 RVO S Aa 14 mwN).

Von der Rechtsprechung des BSG wird eine wesentliche Bedingung im Rechtssinne auch dann bejaht, wenn bei einem Geschädigten, der an einer vom Arbeitsunfall unabhängigen, zum Tode führenden Krankheit leidet, die Unfallfolgen den Tod um mindestens etwa ein Jahr beschleunigt haben (BSG SozR 2200 § 589 Nr 2 S 4 mwN). Das LSG hat insoweit auf das diesbezügliche Vorbringen der Klägerin hin Beweis erhoben und geklärt, daß der Versicherte durchaus möglicherweise ein Jahr länger gelebt hätte, wenn er sich hätte operieren lassen und daß er sich durch seine Berufskrankheit hat dazu bestimmen lassen, die Operation zu verweigern. Die eine Überzeugung stützt das LSG auf ein Sachverständigengutachten, die andere auf die Äußerungen des Hausarztes des Versicherten.

Das LSG hat mit dieser Wertung weder den dargelegten, im Unfallversicherungsrecht geltenden Begriff der Ursächlichkeit verkannt noch sind seine Feststellungen - wie die Beklagte meint - unverwertbar, weil sie verfahrensfehlerhaft zustande gekommen seien.

Entgegen der Auffassung der Beklagten hat das LSG nicht § 103 SGG (Grundsatz der Amtsermittlung) verletzt, indem es weitere Beweiserhebungen unterlassen hat. Das wäre nur der Fall, wenn das LSG sich von seiner Rechtsauffassung aus hätte gedrängt fühlen müssen, Beweis zu erheben (BSG SozR 1500 § 103 Nr 19). Das LSG hatte jedoch den vermutlich einzigen Zeugen gehört, der zu der Frage etwas sagen konnte, aus welchem Grunde der Versicherte die Operation unterlassen hatte, nämlich seinen Hausarzt; denn er hatte den Versicherten in dieser Frage beraten. Welche weiteren Beweise das LSG zu der Frage hätte erheben können, wie die Entschlußbildung des Versicherten zustande gekommen war, hat auch die Beklagte nicht dargelegt.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1664967

BSGE, 230

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