Orientierungssatz
1. Bei der Umwandlung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit in ein Altersruhegeld ruht das Altersruhegeld beim Zusammentreffen mit einer Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung teilweise gemäß RVO § 1278 Abs 1. Daran ändert nichts, daß die Verletztenrente wegen einer Berufskrankheit gewährt wird, deren Beginn nach Eintritt der Erwerbsunfähigkeit liegt. Der Ausschlußgrund des Ruhens gemäß RVO § 1278 Abs 3 ist nur insoweit anzuwenden, als die Rente nach Anwendung der Ruhensvorschriften den Zahlbetrag der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nicht unterschreiten darf.
2. Zur Frage der Auslegung von Gesetzen (Gesetzeswortlaut, Sinn und Zweck des Gesetzes).
Normenkette
RVO § 1278 Abs. 1 Fassung: 1965-06-09, Abs. 3 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 19. November 1971 und das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 14. Juni 1971 werden aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Der Kläger bezog seit September 1967 die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Vom April 1968 an erhält er außerdem wegen Staublungenerkrankung die Verletztenrente aus der Unfallversicherung. Die zuständige Berufsgenossenschaft (BG) hat den 16. April 1968 als Zeitpunkt der Erkrankung angenommen (Bescheid der BG der keramischen und Glas-Industrie vom 20. August 1968). Nachdem der Kläger im März 1969 das 65. Lebensjahr vollendet hatte, wurde die Versichertenrente mit Wirkung vom 1. April 1969 in das Altersruhegeld umgewandelt. - Am 6. Juli 1970 erteilte die beklagte Landesversicherungsanstalt (LVA) dem Kläger den Bescheid, daß das Altersruhegeld wegen des gleichzeitigen Bezugs der Verletztenrente zu einem Teil ruhe, weil die Staublungenkrankheit sich vor Erreichen der Altersgrenze entwickelt habe, wenn auch nach dem Eintritt von Erwerbsunfähigkeit. Auf diesen Sachverhalt treffe § 1278 Abs. 3 Nr. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO), also diejenige Vorschrift nicht zu, welche die Rechtsfolge des Ruhens unter der Voraussetzung ausschließe, daß der Versicherungsfall der Unfallversicherung dem der Rentenversicherung nachfolge. - Die Kürzung des Altersruhegeldes nahm die Beklagte vom 1. September 1970 an vor.
Der Klage, mit der sich der Kläger gegen die Kürzung seiner Rente wendet, haben Sozialgericht (SG) und Landessozialgericht (LSG) stattgegeben. Das Berufungsgericht hat der Tatsache, daß die als Arbeitsunfall zu erachtende Berufskrankheit sich zwischen zwei verschiedenen Versicherungsfällen der Rentenversicherung ereignet hat, keine für das Ruhen der Versichertenrente beachtliche Bedeutung beigemessen. Der Auffassung des Bundessozialgerichts - BSG - (BSG 24,150), daß diese Rente wegen des späteren Versicherungsfalles zum Teil ruhe, hat es sich nicht angeschlossen. Es hat gemeint, § 1278 Abs. 3 Nr. 1 RVO lasse für die Auslegung, die ihm das BSG gegeben habe und die auf eine Gesetzesänderung hinauslaufe, keinen Raum. Das BSG habe denn auch erkannt, daß seine Auffassung unter Umständen ein unbefriedigendes Ergebnis zeitigen könnte. Deshalb habe es - ohne einen Anhalt des Gesetzes - zur Konstruktion einer Besitzstandsgarantie gegriffen, nämlich entschieden, daß zB im Falle des Ruhens der Erwerbsunfähigkeitsrente dem Rentner mindestens ein Betrag verblieben müsse, der der - vorher bezogenen - Rente wegen Berufsunfähigkeit entspreche.
Die Beklagte hat Revision eingelegt. Sie beantragt, die angefochtenen Urteile aufzuheben und die Klage abzuweisen. Sie stützt sich auf die Rechtsprechung des BSG, die dem erkennbaren Willen des Gesetzgebers gerecht werde.
Der Kläger ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.
Die Revision ist begründet.
Da das Altersruhegeld des Klägers mit einer Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung zusammentraf, ruht das Altersruhegeld teilweise gemäß § 1278 Abs. 1 RVO. Daran ändert nichts, daß die Verletztenrente wegen einer Berufskrankheit gewährt wurde, deren Beginn nach Eintritt der Erwerbsunfähigkeit lag. Bei dieser Sachlage hatte der Kläger allerdings monatlich denjenigen Betrag zu beanspruchen, der der ungeschmälerten Rente wegen Erwerbsunfähigkeit entsprach. Diese Entscheidung folgt der Interpretation, die das BSG dem § 1278 Abs. 1 und 3 RVO - für einen gleichliegenden Fall in der in BSG 24, 150 veröffentlichten Entscheidung - gegeben hat. An dieser Auffassung ist trotz der abweichenden Meinung des Berufungsgerichts festzuhalten.
Für das Auslegungsergebnis, welches das BSG in dem angeführten Urteil gefunden hat, war wichtig, daß auf die Frage nach der Ruhensfolge bei einem Arbeitsunfall zwischen dem einen und dem anderen Versicherungsfall der Rentenversicherung aus dem Gesetzestext eine Antwort unmittelbar nicht zu entnehmen ist. Die hier zu beachtende Vorschrift, durch die das Ruhen bei einer Mehrheit von sozialen Leistungen ausgeschlossen wird, nämlich § 1278 Abs. 3 Nr. 1 RVO, spricht lediglich davon, daß "ein Unfall ... sich nach Eintritt der Berufsunfähigkeit oder der Erwerbsunfähigkeit oder nach Vollendung des 65. Lebensjahres ereignet". Mit dieser Formulierung werden die nebeneinandergestellten Versicherungsfälle gleichgestellt. Damit ist aber nicht notwendig der hier zu beurteilende Sachverhalt erfaßt. Es ist offen, ob es allein auf die Zeitfolge zwischen dem Unfall und einem ersten Versicherungsfall in der Rentenversicherung ankommt. Dies ist zumindest nicht unzweideutig angeordnet. Deshalb ist es ungeklärt, ob der Gesetzgeber den zu entscheidenden Fall vorausschauend erfaßt hat. Das Berufungsgericht hält das Gesetz zwar in dieser Beziehung für "klar gefaßt". Es gibt aber keine nähere Erläuterung für seine Ansicht. Hinzu kommt, daß das Berufungsgericht dem Wortlaut des Gesetzes einen Vorrang vor anderen Auslegungskriterien einräumt, die diesem nicht allgemein und nicht ohne weiteres zukommt. Demgegenüber hat das BSG § 1278 Abs. 1 und 3 RVO aus dem systematischen Zusammenhang heraus und aus einer Erforschung der im Gesetz berücksichtigten Interessen gedeutet. Für das Verhältnis der abgestuften Rentenleistungen zueinander hat es aus den Vorschriften der §§ 1253 Abs. 2, 1254 Abs. 2, 1248 Abs. 6 und 1247 Abs. 5 RVO das Rechtsprinzip abgeleitet, daß eine einmal festgestellte Rente durch die nachfolgende Bewilligung einer weiteren - sie nach Art und Umfang umfassenden oder sich mit ihr im Grunde deckenden - Rente nicht schlechterdings beseitigt wird. Dieser Grundgedanke ist mit der Absicht verwandt, die dem Abs. 3 des § 1278 RVO zugrunde liegt. Derjenige, der noch als Erwerbsbehinderter Versicherungszeiten zurückgelegt hat, soll ein vorher erworbenes Rentenrecht ungekürzt behalten. Diese gesetzgeberischen Erwägungen waren mit dem anscheinend widerstreitenden Interesse in Einklang zu bringen, auf dem § 1278 Abs. 1 RVO beruht. Dieses Interesse besteht - vereinfacht ausgedrückt - darin, daß die gehäuften sozialen Leistungen in ihrer Summe nicht höher sein sollen als das Einkommen, das sie ersetzen (BSG 27, 230, 231; 28, 279, 281). Den Konflikt der einander entgegenstehenden Belange hat das BSG aus Rechtsgedanken heraus gelöst, die im Gesetz selbst verwirklicht worden sind, und zwar sowohl in der unmittelbar einschlägigen Norm des § 1278 RVO als auch in anderen auf sie zu beziehenden Normen. Wegen der Begründung im einzelnen wird auf die erwähnte frühere Entscheidung hingewiesen.
Das BSG hat sich seiner Entscheidung bewährter und anerkannter Auslegungsmethoden bedient. Das Berufungsgericht verkennt, daß die Deutung des Wortlauts eines Gesetzes, selbst wenn er unmißverständlich in eine Richtung weist oder zu deuten scheint, mit anderen Auslegungswegen konkurriert. Diese Konkurrenz wird sogar eher von dem Satz beherrscht, daß höher als der Wortlaut des Gesetzes sein Zweck und Sinn zu bewerten sind (RGZ 142, 36, 40; BGH NJW 1955; 1276, 1278). Indessen gibt es unter den einzelnen Auslegungsfaktoren keine von vornherein und ein für allemal fixierte Rangordnung (statt vieler: Siebert, Die Methode der Gesetzesauslegung, 1958, 38 f., 45; Friedrich Müller, Juristische Methodik, 1971, 181 f.; auch: 148). Stets hat sich die Verteilung der Gewichte unter den einzelnen Interpretationselementen am Sachproblem zu orientieren. Das war hier der im Gesetz erkennbare Interessenkonflikt.
Danach sind die angefochtenen Urteile aufzuheben. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen