Leitsatz (amtlich)
Trifft die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit oder das Altersruhegeld mit einer Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung zusammen, so ruht die Rente aus der Rentenversicherung gemäß RVO § 1278 Abs 1 auch dann, wenn die Verletztenrente für einen Unfall gewährt wird, der sich vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit oder vor Vollendung des 65. Lebensjahres, aber nach Eintritt der Berufsunfähigkeit ereignet hat. Als Rente wegen Erwerbsunfähigkeit oder als Altersruhegeld ist jedoch monatlich mindestens der Betrag auszuzahlen, der der Rente wegen Berufsunfähigkeit ohne Anwendung des RVO § 1278 Abs 1 entspricht.
Normenkette
RVO § 1278 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23, Abs. 3 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 30. September 1963 und das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 6. Juli 1961 werden - mit Ausnahme der Entscheidungen über die Kosten - aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit mindestens in Höhe des Betrages zu gewähren, der dem jeweiligen Monatsbetrag der Rente wegen Berufsunfähigkeit entspricht.
Die Klage im übrigen wird abgewiesen.
Kosten sind für den Revisionsrechtszug nicht zu erstatten.
Gründe
In diesem Rechtsstreit ist streitig, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang die Rente des Klägers aus der Rentenversicherung wegen des gleichzeitigen Bezugs einer Verletztenrente aus der Unfallversicherung ruht (§ 1278 RVO).
Der Kläger war im September 1958 berufsunfähig (§ 1246 Abs. 2 RVO) geworden. Im selben Monat hatte er Versichertenrente beantragt. Am 7. November 1958 wurde er durch einen Arbeitsunfall erwerbsunfähig (§ 1247 Abs. 2 RVO). Die zuständige Berufsgenossenschaft gewährt ihm vom 15. März 1959 an eine Verletztenrente.
Die Beklagte nahm an, daß der Kläger die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit vom Zeitpunkt des Zusammentreffens mit der Verletztenrente an nur gekürzt beanspruchen könne. Daß dem Kläger bereits vor dem Unfall die Berufsunfähigkeitsrente zugestanden hatte und diese in ihrem Zahlbetrag die gekürzte Erwerbsunfähigkeitsrente überstieg, erschien der Beklagten im Hinblick auf § 1278 Abs. 1 RVO unerheblich. An dieser Auffassung hielt die Beklagte auch fest, als der Kläger im Oktober 1962 das 65. Lebensjahr vollendete und die Bewilligung des Altersruhegeldes beantragte.
Zu Beginn des Ruhens der Rente im Jahre 1959 betrug die Erwerbsunfähigkeitsrente - ungekürzt - monatlich 330,50 DM. Der Maximalbetrag, der nach Ansicht der Beklagten durch die doppelten Renteneinkünfte nicht überschritten werden durfte, war nach dem Jahresarbeitsverdienst (85 v. H. von jährlich 6.491,- DM = 5.517,35 DM) zu berechnen. (Die Rentenbemessungsgrundlage - §§ 1278 Abs. 1, 1255 Abs. 1, 3 RVO - schied als Richtmaß aus, weil sie hinter dem Jahresarbeitsverdienst zurückblieb). Der monatliche Höchstbetrag an Rentenbezügen
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betrug mithin 5.517,35 DM : 12 = |
459,78 DM; |
hiervon zog die Beklagte den Monatsbetrag der Verletztenrente von |
302,90 DM |
ab, so daß für die Auszahlung der Erwerbsunfähigkeitsrente nur |
156,88 DM, |
aufgerundet (§ 1297 RVO): |
156,90 DM |
zur Verfügung standen und nicht von der Folge des Ruhens betroffen wurden. Zur gleichen Zeit hätte die Rente wegen Berufsunfähigkeit monatlich 256,60 DM betragen.
Der Kläger hat sich mit der Klage gegen die Kürzung seiner Rente gewandt. Er meint, das Verfahren der Beklagten verstoße gegen Abs. 3 Nr. 1 des § 1278 RVO. Da er bereits vor dem Unfall berufsunfähig gewesen sei, komme nach der genannten Vorschrift ein Ruhen der Versichertenrente überhaupt nicht in Betracht. An der Rechtsfolge des § 1278 Abs. 3 Nr. 1 RVO ändere sich auch nichts dadurch, daß er später erwerbsunfähig und nach weiterer Zeit 65 Jahre alt geworden sei.
Sozialgericht (SG) und Landessozialgericht (LSG) haben der Klage stattgegeben (Urteil des SG Ulm vom 6. Juli 1961; Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 30. September 1963). Die Vorinstanzen finden die Deutung, die der Kläger dem § 1278 Abs. 3 Nr. 1 RVO gibt, im Wortlaut des Gesetzes bestätigt. Sie halten sie auch deshalb für richtig, weil anderenfalls der unfallverletzte Erwerbsunfähige schlechter gestellt wäre als ein Rentner, der nach dem Unfall weiterhin berufsunfähig geblieben sei.
Das LSG hat die Revision zugelassen. Die Beklagte hat das Rechtsmittel eingelegt, den - zunächst gestellten - Antrag auf Abweisung der Klage aber nicht mehr in vollem Umfange aufrechterhalten; sie beantragt, die Klage nur in dem Umfang abzuweisen, daß dem Kläger die Erwerbsunfähigkeitsrente mindestens in Höhe der ihm ohne Anwendung des § 1278 Abs. 1 RVO zustehenden Rente wegen Berufsunfähigkeit verbleibe. Die Argumentation des Klägers ignoriert ihres Erachtens das Gesetzesgebot des § 1278 Abs. 1 RVO. Mit dieser Vorschrift sei es nicht zu vereinbaren, daß die Renteneinkünfte aus der Unfallversicherung und der Rentenversicherung zusammen ohne jede Einschränkung das Arbeitseinkommen überschreiten könnten. Dagegen erscheine es angebracht, dem § 1253 Abs. 2 RVO den allgemeinen Rechtsgrundsatz zu entnehmen, daß die Rente in Höhe einer einmal zuerkannten Berufsunfähigkeitsrente auch nach Eintritt der Erwerbsunfähigkeit ungeschmälert weiterzuzahlen sei; denn die Erwerbsunfähigkeit umschließe die Berufsunfähigkeit; deshalb umfasse die Erwerbsunfähigkeitsrente auch die Leistung wegen Berufsunfähigkeit.
Die Revision ist begründet. Die Rente, die der Kläger wegen Erwerbsunfähigkeit bezieht, wird wegen des gleichzeitigen Bezugs der Verletztenrente von der Folge des Ruhens gemäß § 1278 Abs. 1 RVO betroffen; jedoch darf die monatlich auszuzahlende Leistung nicht unter den Betrag herabsinken, der dem Kläger jeweils für den einzelnen Monat aus der Rente wegen Berufsunfähigkeit auszufolgen wäre.
Dieses Ergebnis findet in den Vorschriften des § 1278 Abs. 1 und 3 RVO einen hinreichend erkennbaren Ausdruck. Aus dem Gesetzestext hat das Berufungsgericht zwar einen anderen Schluß gezogen. Es hat gemeint, daß es für § 1278 Abs. 3 Nr. 1 RVO allein auf die Zeitfolge zwischen dem Unfall und dem Eintritt eines Versicherungsfalles in der Rentenversicherung ankomme. Das Gesetz knüpfe lediglich an ein bestimmtes - für die Rentenversicherung relevantes - Geschehen an und spreche nicht von den einzelnen Rentenarten. Dieser Hinweis ist richtig. Deshalb kann aus Abs. 3 Nr. 1 des § 1278 RVO allein und unmittelbar nicht entnommen werden, wie sich das Zusammentreffen von Renten aus der Unfallversicherung und aus der Rentenversicherung auswirkt, wenn der Unfall zwischen dem einen und dem anderen der Rentenversicherungsfälle liegt. Jedoch zwingt diese Gesetzesstelle nicht zu der ihr vom LSG gegebenen Deutung.
In ihr tritt nicht notwendig der Gedanke zutage, daß ein Ruhen der Rente aus der Rentenversicherung stets zu unterbleiben habe, wenn vor dem Unfall irgendein Versicherungsfall der Rentenversicherung eingetreten ist. Die Ausnahme des Abs. 3 Nr. 1 von der in Abs. 1 angeordneten Regel des Ruhens kann sich ebensogut nur auf den zuerst eingetretenen Rentenversicherungsfall beziehen. Deshalb ist für die Frage, wie die Rente wegen nachfolgender weiterreichender Versicherungsfälle zu behandeln ist, nach zusätzlichen Auslegungsstützen zu suchen. Andere gesetzliche Vorschriften der Rentenversicherung geben ebenfalls keinen direkten Aufschluß. Das Gesetz garantiert wohl in den §§ 1253 Abs. 2, 1254 Abs. 2 RVO für die Fälle der Umwandlung von Renten ein Leistungsminimum, doch sind diese für die Rentenberechnung maßgebenden Vorschriften nicht unmittelbar auf das Ruhen von Renten zu übertragen. Eher könnte schon an die §§ 1248 Abs. 6 und 1247 Abs. 5 RVO gedacht werden, in denen ausgesprochen ist, daß neben dem Altersruhegeld die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit und neben dieser die Rente wegen Berufsunfähigkeit "nicht gewährt" wird. Diese Gesetzesbestimmungen sind dahin verstanden worden, daß eine Auszahlung der betreffenden Renten untersagt sei, daß aber das Rentenstammrecht an sich fortbestehe (vgl. Söchting, Die Sozialversicherung 1963, 334). Unter "Nichtgewährung" läßt sich aber auch der Fall unterordnen, daß anstelle des älteren Rechts ein neuer originärer Anspruch tritt und das ältere Recht entfällt (vgl. BSG 19, 188, 189). Es konnte also bislang den §§ 1247 Abs. 5 und 1248 Abs. 6 RVO noch kein einheitlich anerkannter Sinngehalt abgewonnen werden. Gleichwohl lassen diese Bestimmungen i. V. m. den §§ 1253 Abs. 2 und 1254 Abs. 2 RVO ein Rechtsprinzip erkennen, das für das Verhältnis der abgestuften Rentenleistungen zueinander bezeichnend ist. Dieses Prinzip besteht darin, daß eine festgestellte Rente durch die nachfolgende Bewilligung einer weiteren - sie nach Art und Umfang umfassenden oder sich mit ihr im Grunde deckenden - Rente nicht schlechterdings beseitigt wird, sondern solange in den Hintergrund tritt, wie die zweite Rente den von der ersten ausgefüllten Raum effektiv einnimmt. Dieser Grundsatz gilt freilich nicht ausnahmslos; er ist nicht maßgebend, wenn das Gesetz keine Umwandlung von Renten, sondern die Entstehung eines neuen originären Anspruchs vorsieht. Aus dem erwähnten Grundsatz heraus lassen sich Anhaltspunkte für eine Tendenz des Gesetzes und damit Hinweise für den Sinn und die Bedeutung des § 1278 Abs. 3 Nr. 1 RVO gewinnen. Der dort ausgesprochene Gedanke, daß das später zum Bezug der Versichertenrente hinzutretende Einkommen aus der Unfallversicherung sich auf die erste Leistung nicht mindernd auswirken solle, kann nur voll realisiert werden, wenn dem allgemeinen Rechtsprinzip der Vorzug vor der Folge des Ruhens gegeben wird. Das bedeutet, daß in Fällen der vorliegenden Art dem Berechtigten der Wert seiner Berufsunfähigkeitsrente belassen werden muß. Deshalb ist die Rechtsansicht unzutreffend, welche die Beklagte zunächst vertreten, aber inzwischen aufgegeben hat, nämlich daß es für das Ruhen der Erwerbsunfähigkeitsrente allein auf die Zeitfolge zwischen Unfall und Eintritt der Erwerbsunfähigkeit abzustellen sei und auf die vorher anerkannte Berufsunfähigkeitsrente keine Rücksicht genommen zu werden brauche.
Mit diesen Erwägungen ist aber nicht die Meinung des Klägers gerechtfertigt, die dahin geht, daß Abs. 1 des § 1278 RVO überhaupt nicht - auch nicht für die Erwerbsunfähigkeitsrente - Platz greife, weil mit der zeitlichen Priorität der Berufsunfähigkeit vor dem Unfall der Tatbestand des Absatzes 3 Nr. 1 aaO ein für allemal gegeben sei. Diese Argumentation verkennt, daß das Gesetz dem in § 1278 Abs. 3 Nr. 1 RVO berücksichtigten Interesse für den Fall den Vorrang gegeben hat, daß dieses Interesse mit dem Ziel des § 1278 Abs. 1 RVO notwendigerweise in vollem Umfange kollidiert. Dies kann sich auf jeder der drei angeführten Leistungsebenen, also auf der Ebene der Rente wegen Berufsunfähigkeit, Erwerbsunfähigkeit und Alters verwirklichen. Ein Sachverhalt, der sich - wie der vorliegende - zwischen mehreren Leistungsstufen abspielt, ist anders geartet. Die einander widerstrebenden Belange schließen sich dann nicht unbedingt gegenseitig aus. Es ist auch nicht zu erkennen, daß das Gesetz nicht beide Ziele soweit wie möglich nebeneinander verfolgt wissen will.
Für die Regelung in § 1274 Abs. 3 RVO aF, der inhaltlich mit Abs. 3 des § 1278 nF übereinstimmte, war ausschlaggebend, daß die Verletztenrente nur gering sei, wenn sie wegen eines Unfalls zu gewähren war, den ein bereits invalider oder über 65 Jahre alter Arbeiter erlitt. Der Jahresarbeitsverdienst, der bei invaliden oder alten Menschen der Berechnung der Verletztenrente zugrunde lag, war erwartungsgemäß niedriger als der Verdienst, den diese in der Vollkraft ihrer Jahre erreicht hatten. Eine geringe Verletztenrente sollte nun nicht die Rente aus der Rentenversicherung herabdrücken (vgl. BSG 6, 115, 117; DRV 1939, 83). Dieser Beweggrund des Gesetzgebers verdient indessen für das neue Recht keine uneingeschränkte Beachtung. Das neue Recht will in erster Linie eine angemessene Relation hergestellt wissen zwischen der Summe aller Sozialversicherungsbezüge und dem Einkommen, das der Berechtigte bei voller Arbeitsleistung haben würde. Die bei Schaffung des früheren Rechts angestellten Überlegungen, daß es sich nicht lohnt, wegen des Bezugs einer kleinen Verletztenrente das Ruhen eines Teils der - alten - Invalidenrente anzuordnen, passen nicht mehr zu der heutigen Gestaltung des Ruhens der Rente. Damals war die Wirkung des Ruhens eine andere. Die Ruhensfolge wurde nicht - wie es heute der Fall ist - von dem Brutto-Arbeitseinkommen abgeleitet; das Ruhen ergriff vielmehr - bis zur Höhe der Unfallrente - immer 1/4 der Invalidenrente. Dieser Unterschied läßt auch eine unterschiedliche Interpretation angebracht erscheinen. Heute sieht das Gesetz neben dem Jahresarbeitsverdienst die Rentenbemessungsgrundlage des § 1255 Abs. 1 und 3 RVO - beide in Höhe von 85 v. H. - als zulässiges Rentenmaximum vor. In der Rentenbemessungsgrundlage spiegelt sich der Arbeitsverdienst des Versicherten während seines Versicherungslebens wider. Das Ruhen kann also nicht mehr zu einer unangemessenen Beschneidung des Renteneinkommens führen. Es erscheint zwar verständlich, daß demjenigen, der trotz Berufsunfähigkeit weitergearbeitet hat, sein erworbenes Rentenrecht ungeschmälert erhalten bleibt; daß in derselben Situation auch eine spätere Erwerbsunfähigkeitsrente von jedem Ruhen verschont bleiben soll, entspricht nicht dem Sinn und Zweck der Rentenvorschrift und ist auch nicht gerechtfertigt. Denn dann würde der Berechtigte, der vor seiner Erwerbsunfähigkeit berufsunfähig war, besser gestellt als derjenige, der sogleich erwerbsunfähig wird. Die Erwerbsunfähigkeitsrente des Klägers wird also vom Ruhen erfaßt, ihm muß also mindestens ein Betrag verbleiben, der der Rente wegen Berufsunfähigkeit entspricht.
Bei der vom Senat gewonnenen Lösung kann es allerdings möglich werden, daß ein Berechtigter wohl seine Berufsunfähigkeitsrente weiter bezieht, wegen der später eingetretenen Erwerbsunfähigkeit aber aus der Rentenversicherung keinen zusätzlichen Ausgleich erhält. Es könnte deshalb daran gedacht werden, in Fällen wie dem vorliegenden nicht von der ganzen Erwerbsunfähigkeitsrente, sondern nur von dem Unterschiedsbetrag, um den die Erwerbsunfähigkeitsrente die Berufsunfähigkeitsrente übersteigt, auszugehen. Gegenüberzustellen wären dann die Summe aus Verletztenrente und Differenzbetrag zwischen Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrente auf der einen Seite und der äußerste Grenzwert des § 1278 Abs. 1 RVO (85 v. H. des Jahresarbeitsverdienstes oder der Rentenbemessungsgrundlage) auf der anderen Seite. Gegen dieses Verfahren spricht jedoch, daß der Differenzbetrag zwischen zwei Renten verselbständigt und rechtlich wie eine Rente behandelt würde. Dafür bietet das Gesetz keinen Anhalt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 2325526 |
BSGE, 150 |