Leitsatz (amtlich)
1. Ein Abhilfebescheid, der den Kläger klaglos stellt, wird - ebenso wie ein Ausführungsbescheid (SGG § 154) - nicht Gegenstand des Verfahrens nach SGG § 96.
2. Durch den Erlaß eines Grundurteils nach SGG § 130 wird der Streitgegenstand auf den Grund des Anspruchs eingeschränkt, auch wenn vorher Leistung in bestimmter Höhe begehrt war.
Leitsatz (redaktionell)
1. Wird eine Leistungsklage (SGG § 54 Abs 4) mit einer Anfechtungsklage (SGG § 54 Abs 1) verbunden, so ist das Urteil, das den Leistungsträger dem Grunde nach zur Leistung verurteilt, kein Zwischenurteil, sondern ein Endurteil.
2. Der in Ausführung des Grundurteils des SG ergangene Bewilligungsbescheid wird nicht gemäß SGG § 96 Gegenstand des Berufungsverfahrens. Der Bewilligungsbescheid kann wegen der Höhe der Leistung nur mit Widerspruch und Klage angefochten werden.
Normenkette
SGG § 96 Fassung: 1953-09-03, § 130 Fassung: 1953-09-03, § 54 Abs. 4 Fassung: 1953-09-03, Abs. 1 Fassung: 1953-09-03
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 08.03.1977; Aktenzeichen L 5 Ar 1759/76) |
SG Mannheim (Entscheidung vom 28.11.1972; Aktenzeichen S 9/10 Ar 2409/71) |
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 8. März 1977 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten darüber, ob durch die Rücknahme der Berufung seitens der Beklagten und durch Erlaß von Bescheiden, die dem Grunde nach dem Klagebegehren entsprechen, der Rechtsstreit beendet ist oder ob die Bescheide der Beklagten Gegenstand des Verfahrens vor dem Landessozialgericht (LSG) geworden sind und von diesem über sie weiter zu befinden ist.
Die 1945 geborene Klägerin beendete im Dezember 1970 ihr Medizinstudium. Bis zum 8. Mai 1971 war sie als Medizinalassistentin beschäftigt. Am 10. Mai 1971 meldete sie sich arbeitslos und beantragte die Gewährung von Arbeitslosenhilfe (Alhi). Ab 1. August 1971 war sie wieder in Arbeit.
Die Beklagte lehnte zunächst die Gewährung von Alhi ab (Bescheid vom 26. Juli 1971; Widerspruchsbescheid vom 14. Dezember 1971). Das Sozialgericht (SG) hob die angefochtenen Bescheide der Beklagten auf und verurteilte die Beklagte, der Klägerin vom 10. Mai 1971 bis 31. Juli 1971 Alhi zu gewähren (Urteil vom 28. November 1972). Die Beklagte legte Berufung ein.
Mit Bescheiden vom 2. September 1976 gewährte die Beklagte der Klägerin Alhi für die Zeit vom 10. Mai bis 31. Juli 1971. Die Klägerin vertrat die Auffassung, daß die Alhi zu niedrig berechnet sei und erhob Widerspruch, der erfolglos blieb (Widerspruchsbescheid vom 15. Dezember 1976). Vorsorglich legte sie Klage ein, betonte aber, daß über die neuen Bescheide in dem bei dem LSG anhängigen Berufungsverfahren zu entscheiden sei.
Die Beklagte nahm mit am 16. September 1976 beim Berufungsgericht eingegangenen Schriftsatz die Berufung zurück. Sie übernahm die der Klägerin entstandenen Kosten des Rechtsstreits. Die Klägerin vertrat die Meinung, daß trotz der Rücknahme der Berufung vor dem Berufungsgericht das Verfahren fortzusetzen sei, da die Bescheide vom 2. September 1976 nach § 96 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Gegenstand des Verfahrens geworden seien und über die Höhe der Alhi durch das LSG nunmehr entschieden werden müsse.
Mit Urteil vom 8. März 1977 hat das LSG den Rechtsstreit als durch die Rücknahme der Berufung erledigt erklärt. Es hat im wesentlichen ausgeführt:
Das Urteil des SG habe dem Antrag der Klägerin, ihr “vom 10. Mai 1971 bis 31. Juli 1971 Alhi zu gewähren„, voll entsprochen. Beschwert gewesen durch das Urteil sei lediglich die Beklagte. Indem sie ihre Berufung zurückgenommen habe, könne kein Rechtsstreit mehr anhängig sein. Hätte die Klägerin im Berufungsverfahren obsiegt, so hätte dies auch nur zur Zurückweisung der Berufung führen können. Urteile, in denen im Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit über einen Anspruch auf wiederkehrende Leistungen nur dem Grunde nach entschieden würde, seien keine Zwischenurteile, sondern Endurteile. Wenn die Klägerin Einwendungen gegen die Berechnungsweise ihrer Alhi habe, so sei dies in einem neuen Verfahren zu klären.
Die Revision der Klägerin ist durch Beschluß des Senats zugelassen worden.
Die Klägerin trägt vor:
Die Bescheide vom 2. September 1976, mit denen ihr Alhi für die Zeit vom 10. Mai bis 31. Juli 1971 gewährt worden sei, seien Gegenstand des Verfahrens vor dem LSG geworden. Dem lasse sich nicht entgegenhalten, daß diese Bescheide lediglich das erstinstanzliche Urteil ausgeführt hätten. Dieses Urteil sei nicht ausführungsfähig gewesen, solange es mit der Berufung angefochten gewesen sei. Solange habe es ihm an der Rechtskraft gefehlt. Die Beklagte habe auch keine vorläufige Regelung durch Ausführungsbescheide gewollt. Das Bundessozialgericht (BSG) habe entschieden, daß § 96 SGG auch im Berufungsverfahren zu beachten sei (BSGE 4, 24). Die Voraussetzungen für die Anwendung des § 96 SGG seien gegeben. Die gewährenden Bescheide stellten den klassischen Fall einer Ersetzung bzw Änderung der zunächst angefochtenen, ablehnenden Bescheide dar.
Die Alhi sei zu niedrig angesetzt worden. Die Beklagte lege den Berechnungen ein Entgelt von 250,-- DM wöchentlich zugrunde. Bei üblicher und normaler Arbeitsfähigkeit sei aber von einem tariflichen Monatsgehalt in Höhe von 1.695,-- DM auszugehen. Auch könne das Referendargehalt ihres Ehemannes als zweckgebundene Leistung zur Ausbildung ihr nicht angerechnet werden. Sollte gleichwohl der Unterhaltszuschuß des Ehemannes anzurechnen sein, dann habe auf jeden Fall die Beklagte die beruflich bedingten Aufwendungen (Werbungskosten) nicht angemessen berücksichtigt. Zu Unrecht außer Betracht gelassen seien auch die sich aus Anbaumaßnahmen ergebenden Kosten, die ihr und ihrem Ehemann angefallen seien.
Die Klägerin beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen,
hilfsweise,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, bei der Berechnung der Alhi einen Einheitslohn von mindestens 1.365,-- DM monatlich zugrunde zu legen und eine Anrechnung des Unterhaltszuschusses des Ehemannes der Klägerin ganz zu unterlassen,
hilfsweise,
von den anrechnungsfähigen Einkünften des Ehemannes die vom Finanzamt Heidelberg anerkannten berufsbedingten sonstigen Werbungskosten von 1.748,30 DM, dividiert durch 52, wöchentlich als Minimum abzusetzen, die im Gewährungszeitraum nachgewiesenen Baukosten als laufende Ausgaben abzuziehen und entsprechende neue Bescheide zu erteilen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).
II.
Die Revision der Klägerin ist unbegründet. Zu Recht hat das LSG entschieden, daß der Rechtsstreit erledigt ist.
Das Urteil des SG erging am 28. November 1972. Die Beklagte legte am 15. Juni 1973 Berufung ein. Mit Bescheiden vom 2. September 1976 gewährte die Beklagte der Klägerin die begehrten Leistungen dem Grunde nach.
Diese Bescheide mögen sich zunächst als “Ausführungsbescheide„ dargestellt haben. Nachdem die Beklagte jedoch am 16. September 1976 die Berufung zurücknahm, wurde klar, daß es sich bei der Leistung der Beklagten nicht um eine vorläufige Regelung handeln solle, bei der sich die Beklagte alle Rechte vorbehalten wollte, sondern um eine endgültige Erfüllung, um “Abhilfe-„ oder “Erledigungsbescheide„. Sinn der ergangenen Bescheide war es damit nicht, das erstinstanzliche Urteil so lange auszuführen, bis eine endgültige gerichtliche Entscheidung ergangen war, sondern dem Prozeß durch Erfüllung des eingeklagten Anspruchs ein Ende zu bereiten. Aus dem Sinn des § 96 SGG ist zu entnehmen, daß nicht nur in den Fällen der “Ausführungsbescheide„, sondern auch in den Fällen der “Abhilfebescheide„ oder “Erledigungsbescheide„ § 96 SGG nicht angewendet werden kann (Meyer-Ladewig, Kommentar zum SGG, § 96 SGG RdNr 4). In einem solchen Falle wird die Beschwer des Klägers in vollem Umfange beseitigt (so auch Miesbach, Sozialgerichtsbarkeit 1958, Beilage zu Heft 12 S 7).
Im vorliegenden Falle ist der Anspruch der Klägerin dem Grunde nach völlig erfüllt, obwohl der Sinn ihres Begehrens in erster Instanz nicht allein darin gelegen haben mag, überhaupt Alhi zu bekommen, sondern Alhi in einer bestimmten Höhe und obwohl die Gewährung der Alhi der Höhe nach diesem Begehren nicht entsprechen mag; denn in zweiter Instanz hatte sich der Streitgegenstand auf den Grund des Anspruchs verengt. Das ergibt sich daraus, daß das SGG bei Leistungsklagen, die mit einer Anfechtungsklage verbunden sind, ein Grundurteil vorsieht, das anders als im Zivilprozeß kein Zwischenurteil, sondern ein Endurteil ist (BSGE 27, 81). Das SGG anerkennt damit auch einen Rechtsstreit, der nicht nur über den Grund des Anspruchs geführt wird und der dennoch endet, wenn lediglich über den Grund entschieden worden ist. Das gilt sogar dann, wenn der Kläger ursprünglich nicht nur Klage auf Leistung überhaupt, sondern auf eine bestimmte Leistung erhoben hat; denn bei Leistungsklagen nach § 54 Abs 4 SGG steht es im nicht nachprüfbaren Ermessen des Gerichts, ob es ein Grundurteil erlassen will (BSG SozR Nr 1 zu § 130 SGG). - Bei einer reinen Leistungsklage, die hier nicht vorliegt, kann das allerdings anders sein (vgl BSG SozR Nr 7 zu § 130 SGG) -. Im vorliegenden Falle legte nur die Beklagte Berufung ein und nur sie konnte dies zulässigerweise. Es blieb daher bei diesem auf den Grund des Anspruchs beschränkten Streitgegenstand.
Da im vorliegenden Falle ein Grundurteil des SG vorliegt, die Berufung nur auf eine Beschwer der Beklagten hin zulässig war, und die Beklagte die Beschwer der Klägerin beseitigt hat, indem sie entsprechend dem Urteil erster Instanz endgültig geleistet hat, ist für eine Fortsetzung des Rechtsstreits kein Raum mehr.
Die Zurücknahme der Berufung durch die Beklagte allein vermag allerdings - wie die Klägerin richtig ausgeführt hat - den Rechtsstreit dann nicht zu beenden, wenn die Abhilfebescheide der Beklagten Gegenstand des Berufungsverfahrens nach § 96 SGG geworden wären -. So ist entschieden worden (BSG SozR Nr 8 zu § 96 SGG), daß der neue Verwaltungsakt auch dann Gegenstand des Verfahrens bleibt, wenn die Klage gegen den ersten Verwaltungsakt später zurückgenommen wird. Entsprechendes gilt, wenn der neue Verwaltungsakt im Berufungsverfahren Gegenstand des Rechtsstreits wird und die Berufung zurückgenommen wird. Anerkannt ist auch, daß im Berufungsverfahren der zweite Bescheid selbst dann Gegenstand des Rechtsstreits wird, wenn die Berufung nicht zulässig gewesen ist (Meyer-Ladewig, § 96 Anm 2). Im vorliegenden Falle hat jedoch die Beklagte den Rechtsstreit durch Klaglosstellung beendet und ist damit dem Grundurteil gefolgt, so daß § 96 SGG keine Anwendung mehr finden kann; vielmehr ist der Streit über die Höhe der Leistung in einem neuen Verfahren zu entscheiden.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen