Entscheidungsstichwort (Thema)
Sachaufklärung. Beweiswürdigung
Orientierungssatz
Das Gericht verletzt seine Sachaufklärungspflicht und die Grenzen freier Beweiswürdigung, wenn es kein fachärztliches Gutachten zu der Frage anfordert, ob durch eine Kriegsverletzung hervorgerufene Darmlähmungen "präkanzerogene Zustände" waren, die dem Ausbruch eines Darmkrebses vorangegangen sind, und ihn ausgelöst haben.
Normenkette
SGG §§ 103, 128
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 14.08.1956) |
SG Oldenburg (Entscheidung vom 15.07.1955) |
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Celle vom 14. August 1956 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I.
Der Ehemann der Klägerin bezog wegen "Störungen seitens des Rückenmarks nach Schußverletzung und wiederkehrende Verrenkung des linken Schultergelenkes" als Schädigungsfolgen aus dem ersten Weltkrieg eine Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) um 70 v.H. Er starb am 29. Januar 1952 an Darmkrebs. Den Antrag der Klägerin auf Witwenrente lehnte das Versorgungsamt Oldenburg durch Bescheid vom 10. Oktober 1952 ab; ihren Widerspruch wies das Landesversorgungsamt Niedersachsen durch Bescheid vom 22. Februar 1954 zurück. Mit der Klage trug die Klägerin vor, ihr Ehemann habe infolge seiner Kriegsverletzung auch an weitgehenden Lähmungserscheinungen, u.a. an der Blase und am Darm, gelitten; diese Lähmungen hätten zu dem Krebsleiden geführt. Durch Urteil vom 15. Juli 1955 wies das Sozialgericht (SG.) Oldenburg die Klage ab. Das Landessozialgericht (LSG.) Celle wies die Berufung durch Urteil vom 14. August 1956 zurück: Der Darmkrebs, der zum Tode geführt habe, sei nicht auf die Kriegsverwundung zurückzuführen; die Voraussetzungen, unter denen eine Gewalteinwirkung wie sie Verwundung darstelle, als Ursache eines Krebsleidens in Betracht komme, hätten hier nicht vorgelegen; zwar seien nach der Verwundung auch Darm und Blase des Ehemannes der Klägerin gelähmt gewesen; diese Lähmungserscheinungen hätten sich jedoch nach einiger Zeit verloren. Die Revision ließ das LSG. nicht zu. Das Urteil wurde der Klägerin am 7. September 1956 zugestellt. Am 26. September 1956 legte sie Revision ein und beantragte,
die Entscheidungen der Vorinstanzen aufzuheben, den Beklagten zu verurteilen, den Tod des Ehemannes der Klägerin als Schädigungsfolge im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes anzuerkennen und ihr Witwenrente zu gewähren,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Gleichzeitig begründete sie die Revision: Das LSG. habe in medizinischer Hinsicht den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt; trotz der schwierigen Zusammenhangsfrage habe es kein fachärztliches Gutachten eingeholt; dies sei um so mehr notwendig gewesen, als ihr Ehemann früher an Darmlähmungen gelitten habe, die auf die Verwundung zurückzuführen seien; es sei nicht ausgeschlossen, daß der Krebs bereits bei der Untersuchung im Jahre 1949 bestanden, sich jedoch noch der Diagnostik entzogen habe; das LSG. habe unter diesen Umständen die Grenzen seines Rechts, die Beweise frei zu würdigen (§ 128 SGG), überschritten und seine Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts (§ 103 SGG) verletzt.
Der Beklagte beantragte,
die Revision als unzulässig zu verwerfen,
hilfsweise,
sie als unbegründet zurückzuweisen.
II.
1. Die Berufung ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthaft, die Klägerin hat mit Recht gerügt, das Verfahren des LSG. leide an einem wesentlichen Mangel.
Das LSG. hat festgestellt, es sei nicht wahrscheinlich, daß der Tod des Ehemannes der Klägerin an Darmkrebs mit den Folgen seiner Verwundung ursächlich zusammenhängt; ein solcher Zusammenhang sei - von anderen Voraussetzungen abgesehen - nur in Betracht zu ziehen, wenn der Krebs dort entstanden sei, wo die Gewalt eingewirkt habe, und wenn mit einer gewissen inneren Wahrscheinlichkeit die Gewalteinwirkung als Ursache der späteren Geschwulst schwer wegdenkbar sei; "es ist auch die medizinische Erfahrungstatsache hervorzuheben, daß Darmkrebs unabhängig von Krieg und Frieden häufig bei Männern höheren Lebensalters auftritt". Diese allgemein gehaltenen Erwägungen vermögen die Feststellung des LSG. nicht zu tragen. Es hat sich hier nicht darum gehandelt, ob der Krebs unmittelbar auf eine Gewalteinwirkung zurückzuführen gewesen ist. Der vorliegende Fall weist vielmehr die Besonderheit auf, daß bei dem Ehemann der Klägerin als Folge der Verwundung Rückenmarks- und Nervenstörungen aufgetreten sind, die u.a. auch zu langanhaltenden Lähmungen am Darm und an der Blase geführt haben; davon ist auch das LSG. ausgegangen. Unter diesen Umständen hat das LSG. prüfen müssen, ob die Gesundheitsstörungen des Ehemannes der Klägerin, die als Folgen der Schußverwundung aufgetreten sind, für das Krebsleiden bedeutsam gewesen sind. Das LSG. hat aber weder untersucht, ob die chirurgischen und neurologischen Befunde von Dr. R... im Jahre 1949 als "krebsbegünstigende Faktoren" in Betracht kommen noch hat es erörtert, welche Bedeutung insoweit den Darmlähmungen zuzumessen ist. Das LSG. hat sich insoweit nicht mit dem Hinweis begnügen dürfen, daß Dr. Riemann, der Facharzt für Nerven- und Geisteskrankheiten ist, im Jahre 1949 an den Bauchorganen nichts Krankhaftes beobachtet habe, zumal nicht ersichtlich ist, wie Dr. R... zu diesem Befund gekommen ist. Auch wenn sich die Darmlähmungen - wie Dr. R... zur Vorgeschichte seines Gutachtens aufgenommen hat - "zufriedenstellend zurückgebildet" gehabt haben, hat das LSG. jedenfalls prüfen müssen, ob sich der Darmkrebs etwa auf dem Boden dieser Lähmungserscheinungen entwickelt hat. Zwar mag, wie das LSG. angenommen hat, der Krebs im wesentlichen konstitutionell bedingt sein, dies schließt aber wie auch in der medizinischen Wissenschaft erörtert worden ist - nicht aus, daß gewisse Gesundheitsstörungen und Vorerkrankungen als sog. "präkanzeröse Zustände" für die Entstehung einer bösartigen Geschwulst, wie es der Darmkrebs ist, jedenfalls mitverantwortlich sein können (vgl. auch Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen, zusammengestellt vom BMA., Neuausgabe 1958, S. 119). Das LSG. hätte daher untersuchen müssen, ob es sich bei den als Schädigungsfolge anerkannten Rückenmarks- und Nervenstörungen und den dadurch bedingten Lähmungserscheinungen am Darm um solche "präkanzeröse Zustände" gehandelt hat und ob diese für das Darmkrebsleiden von Einfluß gewesen sind. Hierüber hat das LSG. nur entscheiden können, wenn es zuvor noch ein fachärztliches Gutachten eingeholt gehabt hat. Es hat, wenn es dies unterlassen hat, den Sachverhalt nicht genügend aufgeklärt, und es hat auch nicht das Gesamtergebnis des Verfahrens gewürdigt, das bei einer erschöpfenden Aufklärung des Sachverhalts zu erwarten gewesen ist; es hat danach gegen die Verfahrensvorschriften der §§ 103 und 128 SGG verstoßen. Die Revision ist daher nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft.
2. Die Revision ist auch begründet. Das Urteil beruht auf dem gerügten Mangel des Verfahrens, denn es ist möglich, daß das LSG. bei richtiger Anwendung der verfahrensrechtlichen Vorschriften zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre (BSG. 2 S. 197 [201]). Das Urteil ist daher aufzuheben. Der Senat kann jedoch nicht selbst entscheiden, da hierzu noch tatsächliche Feststellungen erforderlich sind. Die Sache ist deshalb zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.
Fundstellen