Leitsatz (amtlich)
Erleidet ein Versicherter auf dem von seinem normalen Heimweg abweichenden Weg von der Arbeitsstätte zur Wohnung seiner zukünftigen Schwiegereltern, bei denen er seine Mittagsmahlzeit einnehmen wollte, einen Unfall, so ist dieser Weg, wenn er nicht wesentlich länger ist als der normale Heimweg, als Weg von der Arbeitsstätte anzusehen und es ist dieser Unfall zu entschädigen.
Normenkette
RVO § 543 Fassung: 1942-03-09
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 2. Juni 1960 aufgehoben.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 21. November 1957 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
Der Kläger begehrt von der Beklagten Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung wegen eines Wegeunfalls.
Am 29. April 1955 fuhr der Kläger, welcher auf der Zeche P in B beschäftigt war, nach Beendigung der Frühschicht mit seinem Motorrad, für das er noch keinen Führerschein besaß, das er jedoch gleichwohl hin und wieder zur Zurücklegung des Weges nach und von der Arbeitsstätte benutzte, von der Zeche P III über die R-, S-, G- zur P.-straße. An der Einmündung der Gstraße in die P.-straße fuhr er nicht nach links in Richtung seiner Wohnung, die sich in einer in der B.-straße befindlichen Wohnbaracke der Zeche befand, sondern bog rechts ab, um bei den Eltern seiner Braut, der Familie ... die in der P.-straße wohnt, seine Mittagsmahlzeit einzunehmen und an einer Tankstelle in der Nähe dieser Wohnung zu tanken. Auf der P.-straße, etwa 60 m hinter der Einmündung der Straße "A", erlitt er gegen 14.35 Uhr einen Verkehrsunfall, indem er durch einen entgegenkommenden Kraftwagen, der an einem parkenden Kraftwagen vorbeifuhr, nach rechts gedrückt wurde und gegen einen Straßenbaum fuhr. Er zog sich einen offenen Bruch des rechten Oberschenkels zu. Wegen fortschreitender Komplikationen dieses Bruches mußte später der rechte Oberschenkel am Übergang vom mittleren zum oberen Drittel abgesetzt werden. Ein Strafverfahren wegen Fahrens ohne Führerschein wurde nach § 153 Abs. 2 des Strafgesetzbuches eingestellt.
Die Beklagte hat den erhobenen Anspruch durch Bescheid vom 29. August 1956 mit der Begründung abgelehnt, der Kläger habe den Unfall auf einem erheblichen Umweg erlitten, der eigenwirtschaftlichen Interessen, nämlich dem Auftanken des Motorrades gedient habe, und sei außerdem durch Führung eines Motorrades ohne Führerschein einer selbst geschaffenen Gefahr erlegen.
Auf die am 10. September 1956 erhobene Klage hob das Sozialgericht (SG) Münster, nachdem es die Ruhrknappschaft beigeladen hatte, durch Urteil vom 21. November 1957 den Bescheid der Beklagten auf und verurteilte sie, den Unfall als entschädigungspflichtigen Wegeunfall anzuerkennen und dem Kläger eine Rente nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften zu gewähren. Es stellte sich auf den Standpunkt, daß ein mit der Tätigkeit im Unternehmen zusammenhängender Weg nach und von der Arbeitsstätte auch dann vorliege, wenn der Versicherte, wie hier, um sein Motorrad aufzutanken, einen unbedeutenden Umweg zurücklege. Dadurch, daß der Kläger keinen Führerschein besessen habe, sei der ursächliche Zusammenhang mit der Betriebstätigkeit nicht gelöst worden, da seine Fahrweise für den Unfall nicht ursächlich gewesen sei. Schließlich könne der Schadensersatz wegen Fahrens ohne Führerschein auch nicht gemäß § 557 RVO versagt werden.
Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen hat auf die Berufung der Beklagten die Klage abgewiesen. Zwar stehe das Auftanken eines Fahrzeuges dann mit der Tätigkeit im Unternehmen in einem gewissen inneren Zusammenhang, wenn dieses regelmäßig für den Weg nach und von der Arbeitsstätte benutzt und wenn die nächstgelegene Tankstelle aufgesucht werde. Der Kläger habe aber das Motorrad, mit dem er den Unfall erlitten habe, nur hin und wieder für die Fahrt nach und von der Arbeitsstätte benutzt. Bei dieser Sachlage sei der Versicherungsschutz am Unfalltage von dem Zeitpunkt ab unterbrochen gewesen, wo der Kläger den üblichen Weg verlassen habe, d. h. als er nach rechts in die P.-straße einbog. Etwas anderes würde nur dann gelten, wenn der Kläger bei Benutzung des üblichen Weges mit dem vorhandenen Benzinvorrat seine Wohnung nicht mehr hätte erreichen können. Das sei jedoch nicht der Fall gewesen. Das LSG ließ die Revision zu.
Der Kläger hat gegen das ihm am 19. September 1960 zugestellte Urteil am 23. September 1960 Revision eingelegt und diese am 8. Oktober 1960 begründet. Er führt im wesentlichen aus: Die Überzeugungsbildung des LSG hinsichtlich des Erfordernisses, die Tankstelle aufsuchen zu müssen, sei nicht frei von Denkfehlern. Versicherungsschutz sei gegeben, wenn der Kläger nach rechts in die P.-straße abgebogen sei, um den zur Neige gehenden Benzinvorrat zu ergänzen, und zwar schon dann, wenn er auch nur begründete Zweifel hatte oder haben durfte, ob er die Wohnung noch erreichen würde.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Münster vom 21. November 1957 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie führt im wesentlichen aus, nur die Zurücklegung des Weges nach und von der Arbeitsstätte sei geschützt, nicht aber die erforderlichen Vorbereitungshandlungen. Daher unterliege das Auftanken eines Fahrzeuges nicht dem Versicherungsschutz. Von einem Zusammenhang des Auftankens mit der betriebsnotwendigen Zurücklegung des Weges könne man allenfalls dann sprechen, wenn der getankte Betriebsstoff fast ausschließlich für Fahrten nach und von der Arbeitsstätte benutzt werde; das sei hier aber nicht anzunehmen. Es seien keine Anhaltspunkte dafür gegeben, daß der Kläger bei Benutzung des üblichen Weges seine Wohnung nicht mehr hätte erreichen können. Der Kläger hätte insoweit noch nicht einmal begründete Zweifel haben dürfen. Soweit die entsprechenden Feststellungen des LSG durch den Kläger angegriffen würden, handele es sich um neues Vorbringen, das nicht mehr berücksichtigt werden könne und zudem nicht genügend substantiiert sei. Der versicherungsrechtlich nicht geschützte Besuch bei der Familie sei im übrigen der eigentliche Anlaß für das Verlassen des üblichen Heimweges gewesen.
Die zulässige Revision ist begründet.
Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts hat der Kläger wegen der Folgen des Unfalls vom 29. April 1955 Anspruch auf Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung. Denn er stand auf dem Wege zu dem Unfall unter Versicherungsschutz. Er befand sich auf einem mit der Tätigkeit in dem Unternehmen zusammenhängenden Weg von der Arbeitsstätte im Sinne des § 543 Abs. 1 RVO aF und nicht auf einem bloßen Umweg, wie das Berufungsgericht angenommen hat.
§ 543 RVO spricht von dem Weg "nach und von der Arbeitsstätte". Es kommt also bei dem Weg zur Arbeitsstätte jedenfalls grundsätzlich nicht darauf an, wo dieser Weg begonnen hat (Urt. des 2. Senats des BSG vom 30. Oktober 1964 - 2 RU 157/63), und bei dem Weg von der Arbeitsstätte, wo dieser Weg enden soll. Wenn dies in der Regel auch die Wohnung des Versicherten sein wird, so kann doch an die Stelle der Wohnung ein anderer Anfangs- oder Endpunkt treten. Allerdings darf dieser Weg nicht wesentlich länger sein als der normale Weg von der Wohnung zur Arbeitsstätte bzw. von der Arbeitsstätte zur Wohnung, da der Versicherte durch die Wahl eines anderen Anfangs- oder Endpunktes das Versicherungsrisiko nicht beliebig vergrößern darf. Es ist auch gleichgültig, ob ein solcher Endpunkt mit dem Anfangspunkt des Weges zur Arbeitsstätte bei Beginn der Schicht identisch ist oder nicht. Es kommt hier darauf an, ob die Wohnung der Brauteltern als Endpunkt in diesem Sinne anzusehen ist. Der erkennende Senat hat das bejaht. Die beabsichtigte Dauer dieses rein privaten Zwecken dienenden Aufenthalts in dieser Wohnung war so erheblich, daß der Weg zu ihr eine selbständige Bedeutung hatte. Nach seiner Zielrichtung und Zweckbestimmung sollte der Weg des Klägers von der Arbeitsstätte mit Erreichen der Brautwohnung beendet sein. Die beiden durch das beabsichtigte Aufsuchen dieser Wohnung getrennten Wegstrecken würden, falls sie, wie beabsichtigt, zurückgelegt worden wären, rechtlich keinen einheitlichen Gesamtweg dargestellt haben. Hier fällt besonders ins Gewicht, daß der Kläger in seiner Unterkunft naturgemäß nicht die Annehmlichkeiten einer Familienwohnung besaß, daß also der Besuch in der Wohnung der Schwiegereltern und die dortige Einnahme des Mittagessens einem verständlichen Wunsch entspringt. Hätte der Kläger den Unfall nicht erlitten, sondern nach der Mittagsmahlzeit seine eigene Wohnung aufgesucht, so würde bei natürlicher Betrachtungsweise dieser letzte Weg nicht mehr als Weg von der Arbeitsstätte, sondern als ein solcher von der Brautwohnung zu der eigenen Wohnung des Klägers anzusehen sein und nicht mehr unter Versicherungsschutz stehen.
Der Weg des Klägers von der Arbeitsstätte zu der Brautwohnung hing auch mit der Tätigkeit in dem Unternehmen zusammen, da er dem Verlassen der Arbeitsstätte nach Schichtende diente. Daß an die Stelle der eigenen Wohnung die Brautwohnung treten sollte, ändert daran nichts.
Auch daß der Kläger diesen Weg mit seinem Motorrad nur hin und wieder zurücklegte, spielt keine Rolle. Es steht dem Versicherten im Grundsatz frei, welches Beförderungsmittel er in jedem einzelnen Falle benutzen will.
Ferner entfällt der Versicherungsschutz nicht dadurch, daß der Kläger keinen Führerschein besaß. Nach § 542 Abs. 2 RVO schließt verbotswidriges Handeln den Versicherungsschutz nicht aus. Die Voraussetzungen des § 557 RVO aF, die in bestimmten Fällen strafbarer Handlungen die Möglichkeit vorsieht, die Entschädigung zu versagen, sind hier schon deshalb nicht gegeben, weil kein strafgerichtliches Urteil ergangen ist. Denn das gegen den Kläger gerichtete Strafverfahren ist nach § 153 Abs. 2 StPO eingestellt worden.
Daß der Kläger auch noch die Absicht hatte zu tanken, ist im vorliegenden Fall ohne Belang, da sein Weg im Zeitpunkt des Unfalls aus den angegebenen Gründen ohnedies versichert war.
Nach alledem ist der Unfall von der Beklagten zu entschädigen.
Die Revision ist somit begründet. Das angefochtene Urteil muß aufgehoben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG, das sich im Ergebnis als zutreffend herausstellt, zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen