Orientierungssatz
Das Auftanken eines Kraftfahrzeuges ist nicht als "betriebsbedingt" anzusehen, wenn der mitgeführte Treibstoffvorrat zwar zur Neige geht, aber noch ausreicht, um den jeweiligen Endpunkt des Weges nach oder von der Arbeitsstätte zu erreichen.
Normenkette
RVO § 543 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1942-03-09
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgericht Niedersachsen vom 25. Oktober 1960 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der Kläger wurde am 1. Februar 1957 in Verden/Aller (V.) von einem Verkehrsunfall betroffen. Er war damals als Kassenbote beim Wasserwirtschaftsamt in V. beschäftigt und wohnte in dem etwa 4,5 km von der Stadt entfernten Ort Eitze . Den Weg zwischen Wohnung und Arbeitsstätte legte er gewöhnlich mit seinem Kraftrad zurück. Der kürzeste Weg führte über die Eitzer Straße, den Andreaswall, den Nikolaiwall zur Osterstraße, in der sich die Dienststelle des Klägers befand. Er konnte diese aber auch auf dem etwas längeren Weg über Borstel erreichen, und zwar durch die Lindhooper Straße und über den Holzmarkt oder, wenn in der Lindhooper Straße die Eisenbahnschranke geschlossen war, über die Ulanen- und Zollstraße.
Am Tage des Unfalls wollte der Kläger nach der Mittagspause, die er in seiner Wohnung verbracht hatte, mit dem Kraftrad zurückkehren und unterwegs den Treibstoffvorrat in der Aral-Tankstelle "Zum Schwarzen Bär", Ecke Bremer Straße/Hohe Leuchte ergänzen. Er war über Borstel gefahren und wollte, weil der Bahnübergang in der Lindhooper Straße gesperrt war, zur Tankstelle über die Ulanenstraße und Hohe Leuchte gelangen. Auf der Kreuzung Hohe Leuchte/Husarenstraße stieß er mit einem Lastkraftwagen zusammen. Dabei erlitt er mehrere Knochenbrüche.
Der Beklagte lehnte durch Bescheid vom 24. Oktober 1957 den Entschädigungsanspruch ab, weil der Kläger nicht auf einem mit seiner versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Weg verunglückt sei.
Der Klage hiergegen hat das Sozialgericht (SG) Stade durch Urteil vom 11. November 1958 stattgegeben. Auf die Berufung des beklagten Landes, das den Versicherungsschutz des Klägers vor allem mit dem Hinweis darauf bestreitet, daß die Tankstelle nur auf einem erheblichen, eigenwirtschaftlichen Zwecken dienenden Umweg zu erreichen gewesen wäre, hat das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 25. Oktober 1960 die Klage abgewiesen. Zur Begründung ist im wesentlichen ausgeführt: Es könne dahingestellt bleiben, aus welchen Gründen der Kläger am Unfalltag den nicht unerheblich weiteren Weg über Borstel nach V. gewählt habe und ob auf diesem Wege der Versicherungsschutz an sich gegeben gewesen sei. Denn auf dem Weg, der über Borstel direkt zur Arbeitsstätte des Klägers geführt hätte, habe sich der Unfall nicht ereignet; er sei vielmehr auf einem zusätzlichen Weg eingetreten, der zu einer in der Fahrtrichtung des Klägers hinter der Arbeitsstätte liegenden Aral-Tankstelle hätte führen sollen, weil der Kläger dort sein Kraftrad habe auftanken wollen. Auf diesem Wege habe der Kläger nicht unter Versicherungsschutz gestanden, weil das Auftanken nicht betriebsbedingt gewesen sei. Das Aufnehmen von Treibstoff sei wie jede sonstige Maßnahme, welche der Erhaltung der Betriebsfähigkeit des Fahrzeugs diene, grundsätzlich eine dem privaten Bereich des Versicherten zugehörige Maßnahme; sie diene der Vorbereitung für die Aufnahme der Betriebstätigkeit. Vom Versicherungsschutz werde eine solche Tätigkeit nur erfaßt, wenn sie für die Zurücklegung bzw. Fortsetzung des Weges nach und von der Arbeitsstätte als notwendig anzusehen sei. Ein solcher Ausnahmefall liege hier jedoch nicht vor. Der volle Reservetank habe für eine Fahrt von 14 km gereicht; der Kläger hätte daher mit dem bei Antritt seiner Fahrt zur Arbeitsstätte noch vorhandenen Benzinvorrat bis zur Dienststelle und wieder zurück zu seiner Wohnung gelangen können. Die Verlängerung der Fahrt zur Arbeitsstätte um den Weg über die Tankstelle sei nicht geringfügig gewesen, so daß es sich insoweit nicht um eine für den Versicherungsschutz unschädliche Unterbrechung des üblichen Weges nach der Arbeitsstätte gehandelt habe.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Das Urteil ist dem Kläger am 31. Dezember 1960 zugestellt worden. Er hat hiergegen am 28. Januar 1961 Revision eingelegt. Diese ist am 27. Februar 1961 wie folgt begründet worden: Der Kläger habe sein eigenes Kraftrad für die Zurücklegung der Wege nach und von der Arbeitsstätte benutzt; deshalb hänge auch das Auftanken des Fahrzeuges mit der Zurücklegung dieser Wege zusammen. Der vorliegende Streitfall weise im übrigen Besonderheiten auf, die es rechtfertigten, das Aufsuchen der Tankstelle dem versicherten Weg zuzurechnen. Der Kläger habe beim Antreten der zum Unfall führenden Fahrt nicht erkennen können, daß der Haupttank fast leer gewesen sei. Beim Umschalten auf den Reservetank sei er daher unterwegs gewarnt und gehalten gewesen, den Haupttank baldmöglichst aufzufüllen. Jedenfalls sei für ihn durch das Leerwerden des Benzintanks eine ihn beunruhigende und seine Sicherheit beeinträchtigende Situation geschaffen worden, die sich auf seine Arbeitsleistung hätte nachteilig auswirken können. Darin sei ein betrieblicher Zusammenhang zwischen dem Auftanken des Fahrzeugs und der versicherten Tätigkeit des Klägers zu erblicken. Die Abweichung vom kürzesten Weg zur Arbeitsstätte sei bei dem beabsichtigten Aufsuchen der Tankstelle nur geringfügig gewesen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des LSG Niedersachsen vom 25. Oktober 1960 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG Stade vom 11. November 1958 zurückzuweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er pflichtet dem angefochtenen Urteil bei.
II
Die Revision ist durch Zulassung statthaft, form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, also zulässig. Das Rechtsmittel hatte jedoch keinen Erfolg.
Der Kläger, der am Tage des Unfalls nach der Mittagspause von seiner Wohnung zur Arbeitsstätte mit dem eigenen Kraftrad zurückfahren wollte, verunglückte nach den von der Revision nicht angegriffenen tatsächlichen Feststellungen des angefochtenen Urteils nicht auf dem unmittelbaren Weg dorthin; er war zur Zeit des Unfalls vielmehr von diesem Wege abgewichen und nach einer Tankstelle unterwegs, um den mitgeführten Treibstoffvorrat zu ergänzen. Auf diesem Teil der Fahrt hätte der Kläger, wie das LSG zutreffend angenommen hat, unter Versicherungsschutz nach § 543 Abs. 1 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF nur gestanden, wenn er ohne das beabsichtigte Auftanken die Fahrt zu seiner Dienststelle nicht hätte vollends zurücklegen können. Diese Auffassung steht im Einklang mit den in den Entscheidungen des Senats vom 20. Dezember 1961 (BSG 16, 77 ff) und vom 28. Februar 1962 (BSG 16, 245 ff) entwickelten Grundsätzen zur Frage des Versicherungsschutzes bei Unfällen, die Beschäftigten aus Anlaß der Erhaltung oder Wiederherstellung der Fahrbereitschaft ihrer für die Zurücklegung der Wege nach und von der Arbeitsstätte benützten Kraftfahrzeuge zustoßen. Danach unterliegen Maßnahmen dieser Art dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung (UV), wenn sie unvorhergesehen während der Zurücklegung eines solchen Weges erforderlich werden. Zu ihnen gehören Instandsetzungsarbeiten und - bei Kraftfahrzeugen - das Nachfüllen von Treibstoff, wenn diese Verrichtungen notwendig werden, damit der restliche mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängende Weg in angemessener Zeit zurückgelegt werden kann. Das Auftanken eines Kraftfahrzeuges ist demnach also nicht als "betriebsbedingt" anzusehen, wenn der mitgeführte Treibstoffvorrat zwar zur Neige geht, aber noch ausreicht, um den jeweiligen Endpunkt des Weges nach oder von der Arbeitsstätte zu erreichen. Allerdings dürfen hierbei nach Auffassung des Senats nicht zu strenge Anforderungen an die Voraussetzungen gestellt werden, die für die Annahme einer solchen Notwendigkeit der Treibstoffergänzung gegeben sein müssen. So darf nicht verlangt werden, daß sich der Versicherte jederzeit klar darüber ist, ob der mitgeführte Vorrat für die restliche Fahrt zur Arbeitsstätte oder von dieser zurück gerade noch reicht. Es muß in Betracht gezogen werden, daß unterwegs unerwartete Verkehrsbehinderungen, z. B. Umleitungen, sowie Motorstörungen auftreten können, die unvorhergesehen einen erhöhten Benzinverbrauch nach sich ziehen. Ein brauchbarer Anhaltspunkt für die Beurteilung, wann die Notwendigkeit für das Nachfüllen von Treibstoff zu bejahen ist, mag im allgemeinen darin zu finden sein, daß bei Antritt oder während der Fahrt der Haupttank des Fahrzeugs leer geworden ist und der Inhalt des Reservetanks angegriffen werden muß. Doch wird es im Einzelfall von den jeweiligen Umständen des Geschehens abhängen, ob das im allgemeinen zu den die Aufnahme einer Betriebsarbeit vorbereitenden und daher unversicherten Tätigkeiten gehörende Auftanken eines Kraftfahrzeugs ausnahmsweise in einer ausreichend engen Beziehung zur betrieblichen Sphäre des Beschäftigten steht (vgl. BSG 16, 77).
Im vorliegenden Falle sind keine Umstände ersichtlich, welche die Schlußfolgerung rechtfertigen könnten, daß die Fahrt des Klägers zur Tankstelle mit seiner dienstlichen Tätigkeit in einem den Versicherungsschutz begründenden rechtlich wesentlich inneren Zusammenhang gestanden hätte. Das LSG hat festgestellt, daß der Haupttank des Kraftrades erst nach dem Antritt der Fahrt leer geworden war und der Inhalt des Reservetanks für eine Fahrtstrecke von 14 km reichte, so daß der Kläger nicht nur seine Dienststelle, sondern von ihr aus auch noch seine etwa 4,5 km entfernte Wohnung hätte erreichen können, ohne vorher den Treibstoffvorrat ergänzt zu haben. Bei diesem für das Revisionsgericht bindend festgestellten Sachverhalt (§ 163 SGG) - es handelt sich nicht, wie die Revision meint, um vom LSG als richtig unterstellte Klagebehauptungen - war der Kläger nicht im Interesse einer ungestörten Zurücklegung des Weges nach seiner Arbeitsstätte gezwungen, die Fahrt zu der abseits von dem direkten Weg nach der Arbeitsstätte gelegenen Tankstelle auszudehnen. Auf diesem zum Unfall führenden Teil der Fahrt war daher der Versicherungsschutz unterbrochen. Eine abweichende Beurteilung wird nicht durch die Erwägung der Revision gerechtfertigt, daß sich der Kläger während seiner dienstlichen Tätigkeit durch den Gedanken an die Notwendigkeit, sein Kraftrad aufzutanken, hätte beunruhigt und in seiner Leistungsfähigkeit nachteilig beeinflußt fühlen müssen. Eine solche Beziehung des Auftankens zu der Arbeitstätigkeit wäre zu entfernt und lose, als daß sie geeignet sein könnte, den als Voraussetzung für die Entschädigung aus der gesetzlichen UV erforderlichen inneren Zusammenhang der versicherten Tätigkeit mit der Fahrt zur Tankstelle zu begründen.
Ob es sich bei der Fahrt nach der Tankstelle um einen Umweg oder, wie das LSG angenommen hat, einen Abweg von dem üblichen Weg zur Arbeitsstätte gehandelt hat, konnte auf sich beruhen, da wegen der vorstehend dargelegten fehlenden Betriebsbezogenheit dieses Wegteiles in keinem Fall der Versicherungsschutz des Klägers im Zeitpunkt des Unfalls gegeben sein kann. Es hat sich entgegen der Ansicht der Revision auch nicht um eine nur geringfügige und deshalb den Versicherungsschutz nicht unterbrechende Verlängerung des Weges (Umweg) bzw. Abweichung von dem unmittelbaren Weg zur Arbeitsstätte des Klägers (Abweg) gehandelt; die Gesamtstrecke des üblichen etwa 4,5 km betragenden Weges von der Wohnung zur Arbeitsstätte des Klägers wäre, wenn sich der Unfall nicht ereignet hätte, durch die Fahrt über die Tankstelle um mindestens einen Kilometer und damit um eine nicht unerhebliche Wegstrecke ausgedehnt worden. Hierbei ist nicht ohne Bedeutung, daß in der Zielrichtung der damaligen Fahrt die Tankstelle hinter der Arbeitsstätte des Klägers lag.
Der Entschädigungsanspruch des Klägers ist hiernach von dem Beklagten zu Recht abgelehnt worden. Die Revision war somit als unbegründet zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen