Leitsatz (amtlich)
1. Die Pflicht der Versicherungsträger zur Neufeststellung nach RKG § 93 wird nicht dadurch ausgeschlossen, daß der belastende Bescheid bereits durch eine rechtskräftige sozialgerichtliche Entscheidung bestätigt worden ist (Anschluß BSG 1963-05-29 2 RU 211/61 = SozR Nr 2 zu § 619 aF RVO). An das Gewicht der Gründe, die den Versicherungsträger zur Überzeugung von der Unrechtmäßigkeit seines Bescheides verpflichten sollen, sind in diesem Falle jedoch besonders strenge Anforderungen zu stellen. Die Gründe können rechtlicher wie tatsächlicher Art sein.
2. Überzeugt sich ein Versicherungsträger zwar davon, daß die Begründung seines Bescheides unrichtig war, kann er ihn aber aus anderen , zumindest vertretbaren Gründen im Ergebnis für richtig halten, so ist er nach RKG § 93 nicht verpflichtet, unter Aufhebung des alten Bescheides einen neuen, inhaltlich gleichen Bescheid mit anderer Begründung zu erteilen und damit den Rechtsweg uneingeschränkt neu zu eröffnen.
Normenkette
RKG § 93 Fassung: 1957-05-21
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 19. September 1961 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die Beklagte hat dem Kläger durch Bescheid vom 3. April 1956 die ihm seit dem 1. April 1954 wegen der Folgen eines Unfalls gewährte Knappschaftsrente mit der Begründung entzogen, daß eine wesentliche Besserung eingetreten sei. Sein Widerspruch wurde zurückgewiesen: Berufsunfähigkeit im Sinne des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) liege nicht mehr vor; der Kläger könne auf Arbeiten über Tage, zB als Anschläger, verwiesen werden, die seinem Hauptberuf als Gedingeschlepper gleichartig und wirtschaftlich gleichwertig seien. Das Sozialgericht (SG) hob die angefochtenen Bescheide auf. Das Landessozialgericht (LSG) wies jedoch die Klage ab; der Kläger sei wieder in der Lage, zumindest die Tätigkeit eines Ersten Anschlägers zu verrichten. Die Revision des Klägers wurde als unzulässig verworfen.
Der Kläger beantragte nunmehr eine Überprüfung der Rentenentziehung nach § 93 RKG; die Tätigkeit als Anschläger sei seiner früheren Tätigkeit als Gedingearbeiten nach den maßgeblichen Lohnbestimmungen nicht gleichwertig. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 21. August 1959 ab. Der Widerspruch des Klägers wurde als unzulässig verworfen; die Voraussetzungen für eine Neufeststellung seien nicht gegeben, weil sich die Beklagte nicht von der Fehlerhaftigkeit ihres Bescheides überzeugt habe. Das SG wies die gegen diesen Bescheid erhobene Klage ab; die Beklagte habe bei der Überprüfung ihres Bescheides die gesetzlichen Grenzen ihres Ermessens nicht überschritten, könne sich vielmehr auf die rechtskräftige Entscheidung des LSG stützen. Das LSG wies die Berufung des Klägers zurück. Der Kläger habe gegenüber dem vorangegangenen Verfahren keine neuen Gründe in tatsächlicher Hinsicht vorgebracht, eine anderweitige rechtliche Würdigung werde von § 93 RKG dagegen nicht erfaßt. Aber auch bei einer weitergehenden Auslegung dieser Vorschrift sei die Berufung unbegründet. Bei der Verweisung des Klägers auf gleichwertige Tätigkeiten sei die des Anschlägers nur beispielhaft angeführt worden. Er könne auch noch die Tätigkeiten eines Pumpenwärters, Grubenlokführers und Sprengstoffausgebers verrichten, die der eines Gedingeschleppers gleichwertig seien.
Mit der Revision rügt der Kläger Verletzung des § 93 RKG. Der Versicherungsträger müsse bei entsprechendem Antrag stets in eine neue Prüfung eintreten. Er habe darüber eine bescheidmäßige Entscheidung zu treffen, welche die Gründe enthalten müsse, die seine Überzeugungsbildung maßgebend beeinflußt hätten. Diesen Voraussetzungen entspreche der angefochtene Bescheid der Beklagten nicht.
Der Kläger beantragt,
die angefochtene Entscheidung, das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 29. Juni 1960 sowie die Bescheide der Beklagten vom 21. August und 3. Dezember 1959 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, unter Beachtung des § 93 RKG einen neuen Bescheid zu erteilen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Eine Neufeststellung müsse nur erfolgen, wenn sich der Versicherungsträger überzeugt habe, daß sein früherer Bescheid rechtswidrig sei. Hierzu bestehe für sie aber kein Anlaß, weil sich gegenüber ihrer früheren Entscheidung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht nichts geändert habe. Ihre Überzeugungsbildung im Sinne des § 93 RKG sei fehlerfrei.
Die durch Zulassung statthafte Revision ist zulässig, sachlich jedoch nicht begründet. Die materiell-rechtliche Rüge der Verletzung des § 93 RKG greift nicht durch. Nach dieser Bestimmung, die inhaltlich mit § 1300 der Reichsversicherungsordnung (RVO) übereinstimmt, hat der Versicherungsträger eine Leistung neu festzustellen, wenn er sich bei erneuter Prüfung überzeugt, daß sie zu Unrecht abgelehnt oder entzogen wurde. Der Kläger begehrt mit seiner Klage dem Sinne nach die Aufhebung des Rentenentziehungsbescheides vom 3. April 1956, also die Neufeststellung im Sinne von § 93 Abs. 1 RKG der ihm - nach seiner Ansicht zu Unrecht - entzogenen Knappschaftsrente. Hierfür ist, wie im BSG-Urteil vom 18. November 1960 (Breith. 1961, 342) dargelegt, die Vornahme-, nicht die Leistungsklage der richtige Weg.
Die Beklagte hat nun nicht etwa die vom Kläger beantragte Überprüfung ihres Entziehungsbescheides, sondern vielmehr als Ergebnis dieser Überprüfung die Aufhebung des Entziehungsbescheides abgelehnt und ihm hierüber den mit Gründen und Rechtsmittelbelehrung versehenen Bescheid erteilt. Sie hat auch das nach § 80 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) vorgeschriebene Vorverfahren durchgeführt. Hierbei ist unerheblich, daß die Widerspruchsstelle der Beklagten den Widerspruch fälschlich als unzulässig verworfen hat, statt ihn als unbegründet zurückzuweisen, wie es der Begründung des Bescheides entsprochen hätte; denn sie hat tatsächlich die Begründetheit des Verwaltungsbescheides geprüft und darüber entschieden. Die angefochtenen Bescheide lassen jedenfalls als Grund für die Ablehnung eindeutig erkennen, daß sich die Beklagte nicht von der Unrechtmäßigkeit der Rentenentziehung überzeugt hat. Die Beklagte hat somit ihrer Pflicht, den früheren Bescheid zu überprüfen, den Kläger hierüber zu bescheiden und das Vorverfahren durchzuführen bereits genügt. Der Kläger kann daher nicht etwa - wie im Falle der Untätigkeitsklage - verlangen, die Beklagte zu einer nochmaligen Überprüfung und zur Erteilung eines neuen Bescheides schlechthin zu verpflichten. Sein Anspruch kann sich vielmehr nur auf die Aufhebung des Entziehungsbescheides (Neufeststellungsbescheid i. S. von § 93 RKG) richten.
Da es sich bei der Überprüfung nach § 93 RKG nicht um eine eigentliche Ermessensentscheidung des Versicherungsträgers handelt, unterliegt sie in vollem Umfange der gerichtlichen Nachprüfung. Das gilt auch für die Fälle, in denen der zu überprüfende Bescheid - wie hier - bereits durch die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit bestätigt worden war. Das Recht und die Pflicht der Versicherungsträger, zugunsten der Versicherten solche Bescheide zu ändern, von deren Unrechtmäßigkeit sie sich tatsächlich überzeugt haben, kann nach Wortlaut, Sinn und Zweck dieser Bestimmung auch in solchen Fällen nicht schlechthin ausgeschlossen sein. Dürfen und müssen die Versicherungsträger aber eine Überprüfung vornehmen, so ist es nicht zu rechtfertigen, ihre Überprüfungsentscheidung der richterlichen Kontrolle zu entziehen (s. Urteil des 2. Senats vom 29. Mai 1963 in SozR RVO § 619 aF Nr. 2). Dabei kann es keinen Unterschied machen, ob die Änderung der Überzeugung des Versicherungsträgers durch Gründe rechtlicher oder tatsächlicher Art herbeigeführt werden soll. Abgesehen davon, daß eine klare Trennung häufig schwierig sein würde, lassen Wortlaut und Sinn der Überprüfungsbestimmung auch keinen Grund für eine unterschiedliche Behandlung erkennen. Auch Fehlentscheidungen, die darauf beruhen, daß geltendes objektives Recht übersehen oder in seiner Bedeutung entscheidend verkannt worden ist, müssen der Korrektur nach § 93 RKG unterliegen.
Voraussetzung für eine Pflicht zur Neufeststellung wäre im vorliegenden Falle, daß die Beklagte sich davon überzeugte, die Rente des Klägers zu Unrecht entzogen zu haben. Wollte man diese Voraussetzung in rein subjektivem Sinne verstehen, so wäre die Überprüfungsvorschrift allerdings praktisch für den Versicherten immer dann wertlos, wenn der Versicherungsträger sich "nicht überzeugen will". Das Gericht muß daher in der Lage sein, aus von ihm nachprüfbaren objektiven Merkmalen die Folgerung zu ziehen, daß der Versicherungsträger als "überzeugt" zu gelten hat. Allerdings darf das Gericht nicht einfach seine eigene Überzeugung an die Stelle der Überzeugung des Versicherungsträgers setzen, es muß vielmehr eine gewisse Evidenz der Unrichtigkeit der beanstandeten Maßnahme verlangen. Der Versicherungsträger ist nur dann als von der Unrechtmäßigkeit seines Bescheides überzeugt anzusehen, wenn diese so offensichtlich ist, daß er sie bei erneuter Prüfung hätte erkennen müssen (s. BSG 19, 38/43). War der Bescheid bereits durch eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung bestätigt, so wird man an das Gewicht der Gründe, die den Versicherungsträger von der Unrechtmäßigkeit überzeugen sollen, allerdings besonders hohe Anforderungen stellen müssen.
Die Überzeugung von der Unrechtmäßigkeit muß sich auf den Inhalt des Bescheides, nicht auf seine Begründung beziehen. Überzeugt sich daher ein Versicherungsträger bei Nachprüfung zwar davon, daß die von ihm für die Ablehnung oder Entziehung einer Leistung gegebene Begründung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht durchgreift, hält er die Entscheidung aber aus anderen Gründen im Ergebnis für richtig, so ist er nicht etwa verpflichtet, seinen alten Bescheid aufzuheben und einen neuen, gleichlautenden Bescheid mit anderer Begründung zu erteilen und damit den Rechtsweg uneingeschränkt neu zu eröffnen. Dementsprechend kann er auch nicht im Wege der Vornahmeklage zur Erteilung eines solchen Bescheides verpflichtet werden, wenn das Gericht nur die Unrichtigkeit der Begründung des alten Bescheides feststellt; das Gericht muß dann vielmehr weiter noch prüfen, ob der Bescheid nicht durch andere, zumindest vertretbare Gründe hinreichend gestützt wird.
Im vorliegenden Falle brauchte hiernach die Beklagte ihren Bescheid vom 3. April 1956 nicht aufzuheben. Es geht um die Frage, ob der Kläger zur Zeit der Entziehung nicht mehr berufsunfähig im Sinne des § 35 RKG aF gewesen ist, ob insbesondere die Tätigkeiten, zu denen er wieder tauglich geworden war, seiner früheren Tätigkeit als Gedingeschlepper im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig waren. Bei der Beurteilung der wirtschaftlichen Gleichwertigkeit ist, da es sich ausschließlich um die Überprüfung der Richtigkeit eines bindend gewordenen Entziehungsbescheides handelt, von den damals geltenden tariflichen Lohnbedingungen auszugehen. Nach dem Tarifvertrag für den Eisenerzbergbau in Niedersachsen vom 8. Juni 1955 betrug der Gedingerichtsatz 16,70 DM, der Schichtlohn des Anschlägers über Tage 12,72 DM. Der Kläger macht geltend, daß ein solcher Lohnabfall die Annahme einer wesentlichen wirtschaftlichen Gleichwertigkeit ausschließe. Ob eine solche Fehlbeurteilung der Gleichwertigkeit als so eindeutig und offensichtlich anzusehen wäre, daß die Beklagte sich bei der Überprüfung davon hätte überzeugen müssen, kann hier dahingestellt bleiben, weil der Kläger selbst bei diesem Lohnvergleich von unrichtigen Voraussetzungen ausgegangen ist. Er war nämlich nicht Vollhauer; für andere Gedingearbeiter sind aber in § 7 Nr. 5 des Manteltarifvertrages vom 24. August 1953 Abzüge von 5-10 % beim Kameradschaftsgedinge vorgesehen. Wie der Senat bereits in seinem Urteil vom 6. Juni 1957 (BSG 5, 191) entschieden hat, muß daher bei Versicherten, die Gedingeschlepper oder Lehrhauer waren, der entsprechend geminderte Lohnsatz zur Gleichwertigkeitsprüfung herangezogen werden. Vergleicht man aber den um 5 % gekürzten Gedingerichtsatz mit dem Schichtlohn eines Anschlägers, so bleibt der relative Lohnabfall unter 20 %. Der Senat hat nun in seinem Urteil vom 25. August 1960 (BSG 13, 29) bei einem Lohnunterschied von etwa 20,7 % gewisse Schichtlohntätigkeiten im Vergleich zur Hauertätigkeit als noch im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig angesehen. Unter diesen Umständen kann die Annahme der Beklagten, daß im vorliegenden Falle die Anschlägertätigkeit der Tätigkeit des Gedingeschleppers noch im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig gewesen sei, jedenfalls nicht als "offensichtlich" falsch angesehen werden.
Es kommt hinzu, daß nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG der Kläger damals auch schon wieder auf Arbeiten der Lohngruppe II unter Tage (Grubenlokführer, Sprengstoffausgeber, Pumpenwärter) hätte verwiesen werden können, weil sein Gesundheitszustand die Verrichtung solcher Tätigkeiten zugelassen hätte. Hierbei wäre der Lohnabfall im Vergleich zum Gedingeschlepper noch geringer gewesen. Sogar im Vergleich zur Tätigkeit des Vollhauers hätten diese Tätigkeiten immerhin noch im Grenzbereich der wirtschaftlichen Gleichwertigkeit gelegen, so daß im Rahmen der Überprüfung nach § 93 RKG eine entsprechende Verweisung nicht als offensichtlich unrechtmäßig bezeichnet werden könnte.
Hiernach brauchte sich die Beklagte, jedenfalls im Ergebnis, nicht von der Unrechtmäßigkeit ihres Entziehungsbescheides zu überzeugen. Ihr angefochtener Bescheid, mit dem sie die Neufeststellung der entzogenen Rente ablehnt, ist daher nicht rechtswidrig. Demgemäß war die Revision zurückzuweisen. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen