Entscheidungsstichwort (Thema)
Erwerbsunfähigkeitsrente aus der Arbeiterrentenversicherung. Verweisungstätigkeit bei gesundheitlichen Einschränkungen
Orientierungssatz
Ein Versicherter, der aus gesundheitlichen Gründen nur noch Teilzeitarbeit verrichten kann, darf im Rahmen der Prüfung seiner Erwerbsfähigkeit nur auf Tätigkeiten verwiesen werden, für die ihm der Arbeitsmarkt nicht praktisch verschlossen ist. Praktisch verschlossen ist ihm der Arbeitsmarkt, wenn das Verhältnis der im Verweisungsgebiet vorhandenen, für den Versicherten in Betracht kommenden Teilzeitarbeitsplätze zur Zahl der Interessenten für solche Beschäftigungen ungünstiger ist als 75:100 (vgl BSG 1969-12-11 GS 2/68 = SozR Nr 20 zu RVO § 1247).
Normenkette
RVO § 1247 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 08.10.1969) |
SG Lüneburg (Entscheidung vom 26.03.1969) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 8. Oktober 1969 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Streitig ist die Gewährung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) anstelle der dem Kläger gewährten Rente wegen Berufsunfähigkeit (BU).
Der am 13. Dezember 1907 geborene Kläger hat im Laufe seines Arbeitslebens verschiedene Tätigkeiten als ungelernter Arbeiter ausgeführt und war zuletzt von Mai 1965 bis Dezember 1966 als Bote beim Finanzamt E beschäftigt. Nachdem er vorher seit Juli 1967 eine Rente auf Zeit wegen EU erhalten hatte, gewährte ihm die Beklagte mit Bescheid vom 28. November 1968 ab 1. November 1968 eine Rente wegen BU ohne zeitliche Einschränkung. Den Antrag des Klägers, ihm auch über den 31. Oktober 1968 hinaus eine Rente wegen EU zu gewähren, lehnte die Beklagte ab.
Auf die daraufhin erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Lüneburg mit Urteil vom 26. März 1969 den Bescheid der Beklagten vom 28. November 1968 abgeändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab 1. November 1968 eine Rente wegen EU zu zahlen. Die dagegen eingelegte Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen mit Urteil vom 8. Oktober 1969 zurückgewiesen. Es ist mit dem SG der Auffassung, daß der Kläger eu im Sinne des § 1247 Abs. 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) ist. Gestützt auf eine Begutachtung vom 11. November 1968 hat das LSG festgestellt, der Kläger sei nur noch fähig, leichte Arbeiten im Sitzen fortgesetzt und im Stehen mit Unterbrechung vier bis fünf Stunden werktäglich zu verrichten. Dabei hat es dahingestellt sein lassen, ob sich der Gesundheitszustand des Klägers - wie von diesem behauptet - seit der Begutachtung vom 11. November 1968 weiter verschlechtert habe. Der Kläger sei schon mit dem festgestellten Leistungsvermögen eu im Sinne des § 1247 Abs. 2 RVO, denn er könne nur auf solche Tätigkeiten verwiesen werden, für die es Arbeitsplätze in zumindest nennenswerter und praktisch bedeutsamer Zahl auf dem Arbeitsmarkt gebe. Diese Voraussetzung sei aber nicht erfüllt. Gegen das Urteil hat das LSG die Revision zugelassen.
Die Beklagte weist mit der von ihr eingelegten Revision darauf hin, daß sich der Kläger auf den Arbeitsmarkt des gesamten Bundesgebietes verweisen lassen müsse. Es sei zweifelhaft, ob er überhaupt als berufsunfähig angesehen werden könne, die Voraussetzungen des § 1247 Abs. 2 RVO seien aber sicher nicht gegeben.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 8. Oktober 1969 und des Sozialgerichts Lüneburg vom 26. März 1969 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten als unbegründet zurückzuweisen.
Der Kläger ist der Ansicht, das Urteil des LSG Niedersachsen sei im Ergebnis richtig, weil auch im gesamten Bundesgebiet Arbeitsplätze in ausreichender Anzahl nicht vorhanden seien, auf die er noch verwiesen werden könne. Außerdem könne er ausnahmsweise nicht auf den Arbeitsmarkt des gesamten Bundesgebietes verwiesen werden, weil er zur Zeit der Erteilung des ablehnenden Bescheides bereits 61 Jahre als gewesen und ihm daher ein Umzug oder ein tägliches Pendeln zu einem außerhalb seines Wohnortes liegenden Arbeitsplatz nicht zugemutet werden könne.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II
Die zulässige Revision der Beklagten ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen worden ist.
Der erkennende Senat konnte auf Grund der bisherigen Feststellungen nicht entscheiden, ob der Kläger ab 1. November 1968 oder von einem späteren Zeitpunkt an erwerbsunfähig nach § 1247 Abs. 2 RVO ist, zumal das LSG es ausdrücklich hat dahingestellt sein lassen, ob sich der Gesundheitszustand des Klägers seit der Begutachtung vom 11. November 1968 bis zum 8. Oktober 1969 weiter verschlechtert hatte. Diese Frage wird das LSG ggf. zu klären haben, wenn es darauf ankommen sollte, ob seine Feststellung, daß der Kläger im November 1968 noch leichte Arbeiten im Sitzen fortgesetzt und im Stehen mit Unterbrechung vier bis fünf Stunden werktäglich verrichten konnte, auch noch für die nachfolgende Zeit gilt.
Die für diesen Rechtsstreit entscheidende Frage, ob ein Versicherter bei Prüfung der Erwerbsunfähigkeit auf eine Teilzeittätigkeit ohne Rücksicht darauf verwiesen werden kann, ob und in welchem Umfang es für diese Tätigkeiten Arbeitsplätze gibt, hat der Große Senat des Bundessozialgerichts (BSG) durch Beschluß vom 11. Dezember 1969 - GS 2/68 - (SozR Nr. 20 zu § 1247 RVO) dahin entschieden, daß es bei der Anwendung des § 1247 Abs. 2 RVO erheblich ist, ob Arbeitsplätze, die der Versicherte mit der ihm verbliebenen Leistungsfähigkeit ausüben kann - seien sie frei oder besetzt - vorhanden sind. Auf solche Arbeitsplätze kann der Versicherte nach den Grundsätzen dieses Beschlusses nur verwiesen werden, wenn ihm der Arbeitsmarkt nicht praktisch verschlossen ist, d. h. wenn das Verhältnis der im Verweisungsgebiet vorhandenen, für den Versicherten in Betracht kommenden Teilzeitarbeitsplätze zur Zahl der Interessenten für solche Beschäftigungen nicht ungünstiger als 75 : 100 ist. Verweisungsgebiet ist für Versicherte, die halbschichtig und länger tätig sein können, also auch für den Kläger, das Arbeitsfeld des gesamten Bundesgebietes.
Der Große Senat des BSG hat in Abschnitt C V des genannten Beschlusses vom 11. Dezember 1969 in Verbindung mit Abschnitt C V des Beschlusses vom gleichen Tage in Sachen M. ./. LVA Berlin - GS 4/69 - (SozR Nr. 79 zu § 1246 RVO) Anhaltspunkte dafür gegeben, wann das Arbeitsfeld in der Regel als verschlossen angesehen werden kann. In Abschn. C V 1 des Beschlusses GS 2/68 wird darauf hingewiesen, daß ein Versicherter, der noch halbschichtig bis untervollschichtig täglich arbeiten kann und nach den Anhaltspunkten zu C V 2 des Beschlusses GS 4/69 berufsunfähig ist, in der Regel auch erwerbsunfähig sein wird. Da der Kläger noch täglich halbschichtig Arbeiten verrichten kann und als ungelernter Arbeiter nicht nur bei der Entscheidung über das Vorliegen von EU, sondern auch bei Prüfung der BU auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verwiesen werden kann, würde er nach den Grundsätzen des Großen Senats und den diesen Entscheidungen zugrunde liegenden Zahlen über den Umfang des allgemeinen Teilzeitarbeitsmarktes nicht berufsunfähig und damit auch nicht erwerbsunfähig sein, wenn er auf dem allgemeinen Teilzeitarbeitsmarkt uneingeschränkt tätig werden und tätig sein könnte (vgl. Beschluß GS 4/69 Abschnitt C V 2 a).
Die Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes werden üblicherweise dahin konkretisiert, daß es sich hierbei um leichte bis mittelschwere Tätigkeiten im Sitzen, im Stehen und im Gehen, in geschlossenen Räumen und im Freien handelt (vgl. Beschluß GS 4/69 Abschn. C V 2 a). Der Kläger kann nur noch leichte Arbeiten im Sitzen fortgesetzt und im Stehen mit Unterbrechung verrichten, also nur noch auf einen eingeschränkten Teil des allgemeinen Teilzeitarbeitsfeldes verwiesen werden. Es muß daher nach den Anhaltspunkten des Abschnittes C V 2 b bb des Beschlusses 4/69 geprüft werden, ob es sich hier um eine starke Einschränkung des allgemeinen Teilzeitarbeitsmarktes handelt. Bei einem wie im vorliegenden Fall oder ähnlich schematisch eingeschränkten Teilzeitarbeitsmarkt ist es anders als bei dem uneingeschränkten Teilzeitarbeitsmarkt nicht möglich, das Verhältnis der offenen und besetzten Teilzeitarbeitsplätze zur Zahl der Interessenten (Arbeitsuchende und Beschäftigte) zu ermitteln. Zwar ist die Anzahl derartiger Teilzeitarbeitsplätze feststellbar, nicht aber die Zahl der Interessenten, weil an diesen Teilzeitarbeitsplätzen nicht nur diejenigen Teilzeitarbeitskräfte interessiert sind, die aus gesundheitlichen Gründen nur diese Tätigkeiten ausüben können, sondern auch ein nicht bestimmbarer Teil der sonstigen Teilzeitarbeit suchenden Versicherten. Der Senat ist jedoch, wie er bereits entschieden hat, der Ansicht, daß schon aus dem Verhältnis der Zahl der offenen und besetzten Teilzeitarbeitsplätze des eingeschränkten Teilzeitarbeitsmarktes zur Zahl der offenen und besetzten Teilzeitarbeitsplätze des uneingeschränkten Teilzeitarbeitsmarktes geschlossen werden kann, ob eine starke Einschränkung in diesem Sinne anzunehmen ist. Da es selbst auf dem nach den Grundsätzen der o. a. Beschlüsse des Großen Senats offenen Arbeitsmarkt für den Arbeitsuchenden im Einzelfall schwer ist, tatsächlich einen offenen Arbeitsplatz zu finden, ist der Senat zu dem Ergebnis gekommen, daß eine starke Einschränkung in diesem Sinne dann anzunehmen ist, wenn die Zahl der offenen und besetzten Teilzeitarbeitsplätze des betreffenden eingeschränkten Teilzeitarbeitsmarktes kleiner als zwei Drittel der Zahl der offenen und besetzten Teilzeitarbeitsplätze des uneingeschränkten Teilzeitmarktes ist (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 28. Juli 1970 - SozR Nr. 87 zu § 1246 RVO). Im einzelnen wird auf die Gründe des Urteils des Senats vom heutigen Tage in Sachen B. ./. LVA Westfalen - 5/12 RJ 72/68 - verwiesen.
Wie der Senat ebenfalls bereits entschieden hat (vgl. Urteil vom 29.9.1970 - 5 RKn 26/69 -, SozR Nr. 28 zu § 1247 RVO oder auch Beschluß GS 4/69 Abschnitt C IV), kommt bei Teilzeitarbeitskräften, die noch halbschichtig bis untervollschichtig arbeiten können, für die Einholung von Auskünften über die für die zu treffende Entscheidung erforderlichen Zahlen der Teilzeitarbeitsplätze, wenn, wie hier, das gesamte Bundesgebiet Verweisungsgebiet ist, praktisch nur die Bundesanstalt für Arbeit (BA) in Nürnberg in Betracht.
Ebenso wie bei der Beurteilung der Frage, ob das Verhältnis der Zahl der offenen und besetzten Teilzeitarbeitsplätze zur Zahl der Interessenten im Rahmen des Verhältnisses von 75 : 100 liegt, kommen auch bei der Ermittlung der Zahlen, die für die Entscheidung, ob der betreffende Teil des Teilzeitarbeitsmarktes gegenüber dem uneingeschränkten Teilzeitarbeitsmarkt auf diese oder ähnliche Weise schematisch stark eingeschränkt ist, verschiedene Methoden (etwa Zugrundelegung der Meldungen der Arbeitsuchenden und der offenen Teilzeitarbeitsplätze bei den Arbeitsämtern, Verwertung von Statistiken über Beschäftigte, besondere Betriebserhebungen, Verwertung der Ergebnisse einer Volkszählung oder hochgerechnete Zahlen aus einem Mikrozensus usw.) in Betracht. Nicht alle diese Methoden werden zur Zeit der Auskunftserteilung durch die BA praktisch durchführbar sein. Es muß als ausreichend angesehen werden, wenn die BA von den zur Zeit der Auskunftserteilung praktisch durchführbaren Methoden diejenige zur Erstellung dieses Zahlenmaterials anwendet, die zu dem relativ besten Ergebnis führt.
Sollte die BA allerdings überhaupt nicht in der Lage sein, die für diese Entscheidungen erforderliche Zahl zu nennen, ist nach den Grundsätzen des Großen Senats (vgl. Beschluß GS 2/68 Abschnitt C I) für den Versicherten auch dieser eingeengte Teilzeitarbeitsmarkt als praktisch verschlossen anzusehen, weil er nicht als funktionsfähig anzusehen ist.
Soweit zusätzlich individuell besonders gelagerte Leistungsbeschränkungen gegeben sind (etwa hier der Umstand, daß der Kläger im Stehen nur noch "mit Unterbrechungen" arbeiten kann), gelten besondere Grundsätze. Insoweit wird auf die Gründe des Urteils vom heutigen Tage in Sachen B. ./. LVA Westfalen - 5/12 RJ 72/68 - verwiesen.
Zugunsten des Klägers, der zu dem im Abschnitt C V 2 b cc des Beschlusses GS 4/69 angesprochenen Personenkreis gehört, kann, soweit für ihn die besondere Schwierigkeit, einen Arbeitsplatz zu finden, auf der Tatsache seines Alters beruht, diese Schwierigkeit allerdings nicht bei der Rente wegen EU berücksichtigt werden, weil sie nur im Rahmen des vorgezogenen Altersruhegeldes nach § 1248 Abs. 2 RVO, dessen altersmäßige Voraussetzung der Kläger erfüllt, berücksichtigt wird.
Im Einverständnis der Beteiligten konnte der Senat gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz ohne mündliche Verhandlung entscheiden.
Die Kostenentscheidung bleibt dem Urteil des LSG vorbehalten.
Fundstellen