Entscheidungsstichwort (Thema)
Antrag auf wiederaufgelebte Witwenversorgung. Herstellungsanspruch. unrichtige Auskunft
Orientierungssatz
1. Ein mündlich gestellter Antrag, auch falls er mit Hilfe eines Ferngesprächs übermittelt werden könnte, ist nach § 6 Abs 1 KOVVfG nur dann rechtswirksam, wenn über den Vorgang eine Niederschrift angefertigt worden ist.
2. Zur Frage, ob der Beginn der wiederaufgelebten Witwenversorgung aufgrund eines Herstellungsanspruches vorzuverlegen ist, wenn die Versorgungsberechtigte durch eine falsche Auskunft der zuständigen Versorgungsbehörde daran gehindert worden ist, von sich aus eine unerläßliche Voraussetzung für eine sonst nicht umstrittene Leistung zu schaffen (hier: unterlassene Antragstellung nach einer (angeblichen) telefonischen Auskunft des Versorgungsamtes).
3. Zum Umfang der Auskunfts- und Betreuungspflicht der Versorgungsverwaltung.
Normenkette
BVG § 44 Abs 2 Fassung: 1974-12-11; BVG § 44 Abs 4 Fassung: 1971-12-16; KOVVfG § 6 Abs 1 Fassung: 1955-05-02; SGB 1 § 14 Fassung: 1975-12-11, § 15 Fassung: 1975-12-11
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Entscheidung vom 04.12.1979; Aktenzeichen L 4 V 64/78) |
SG Wiesbaden (Entscheidung vom 13.10.1977; Aktenzeichen S 6 V 21/77) |
Tatbestand
Die Klägerin, die mit dem 1944 gefallenen Siegfried B verheiratet war, bezog eine Witwenrente aus der Kriegsopferversorgung (KOV), bis sie im August 1950 Walter Jakob P heiratete. Nachdem diese - zweite - Ehe 1968 aus ihrem Alleinverschulden geschieden worden war, erhielt sie Witwengeld nach Beamtenrecht. Die wiederaufgelebte Witwenrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) gewährte ihr der Beklagte auf ihren schriftlichen Antrag vom 12. Juli 1976 ab 1. des Monats (Bescheid vom 15. Dezember 1976). Die Klägerin behauptet, sie habe diese Leistung bereits 1968 und erneut fernmündlich im November 1974 beim Versorgungsamt beantragt, zum zweiten Mal sogleich, nachdem sie durch das Fernsehen erfahren habe, daß nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) § 44 BVG geändert worden und das Wiederaufleben der Witwenrente nunmehr vom Verschulden unabhängig sei. Die Sachbearbeiterin des Versorgungsamtes, mit der sie verhandelt habe, habe ihr erklärt, ein solches neues Gesetz gebe es nicht, und sie, die Klägerin, sei dadurch davon abgehalten worden, damals einen schriftlichen Antrag zu stellen. Das Sozialgericht (SG) verurteilte den Beklagten antragsgemäß, der Klägerin bereits ab 1. November 1974 Witwenrente zu gewähren (Urteil vom 13. Oktober 1977). Das Landessozialgericht (LSG) hat nach weiterer Beweiserhebung die Klage abgewiesen (Urteil vom 4. Dezember 1979): Der Klägerin stehe die Witwenrente nicht schon aufgrund eines im November 1974 fernmündlich gestellten Antrages zu. Nach dem Inhalt des Telefongespräches, wie ihn die Klägerin und ihre Tochter geschildert hätten, habe die Witwe damals nicht den Willen, das Wiederaufleben der Rente nach dem Gefallenen erkennbar zum Ausdruck gebracht; auch sei darüber kein Aktenvermerk angefertigt worden. Falls der Anruf überhaupt stattgefunden habe, wogegen erhebliche Bedenken sprächen, hätte die Klägerin bloß eine allgemeine Rechtsauskunft über das Wiederaufleben einer Witwenrente erbeten. Sie könne die umstrittene Leistung auch nicht aufgrund eines Herstellungsanspruches oder nach Treu und Glauben deshalb beanspruchen, weil eine Sachbearbeiterin des Versorgungsamtes sie falsch beraten, nämlich behauptet habe, die Verschuldensklausel des § 44 Abs 2 BVG sei nicht weggefallen. Ein Anspruch der bezeichneten Art, der auf die Verhinderung eines Antrages zurückgehe, sei nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nur dann begründet, wenn der Anfragende erkennbar eine Auskunft zu einem konkreten Versicherungs- oder Versorgungsfall erbeten habe. So sei es hier nach der Darstellung der Klägerin nicht gewesen.
Die Klägerin begründet ihre - vom LSG zugelassene - Revision mit der Behauptung, sie habe im November 1974 im Anschluß an eine Fernsehmeldung die Witwenrente beim Versorgungsamt beantragt. Für einen rechtswirksamen Antrag habe der fernmündliche Anruf genügt; eine Niederschrift sei nicht erforderlich gewesen. Selbst bei einer bloßen Bitte um eine Auskunft habe die Klägerin einen Herstellungsanspruch wegen der unrichtigen Information durch die Sachbearbeitern. Diese habe erklärt, falls die Rechtslage doch geändert werde, komme eine wiederaufgelebte Versorgung nicht für die in der Vergangenheit geschiedenen Witwen in Betracht. Aufgrund dessen habe die Klägerin keinen Antrag gestellt.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung
des Beklagten gegen das Urteil des SG
zurückzuweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält nach § 6 Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) einen telefonischen Antrag nicht für wirksam. Ein Herstellungsanspruch sei deshalb ausgeschlossen, weil mangels eines Antrages ein Sozialrechtsverhältnis, innerhalb dessen die Verwaltung eine Pflicht verletzt haben könnte, nicht bestanden habe.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision hat Erfolg. Der Senat muß das angefochtene Urteil aufheben und die Sache an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen.
Das Berufungsgericht hat einen Witwenrentenanspruch ab November 1974 zutreffend abgelehnt. Es fehlt ein wirksamer Leistungsantrag. Indes kommt ein Herstellungsanspruch in Betracht.
Das Wiederaufleben der Witwenversorgung war nach § 44 Abs 2 BVG in der im November 1974 geltenden Fassung vom 20. Januar 1967 (BGBl I 141, 180)/23. August 1974 (BGBl I 2069) davon abhängig, daß die neue Ehe ohne alleiniges oder überwiegendes Verschulden der Witwe aufgelöst oder für nichtig erklärt worden war. Diese auf das Verschulden abstellende Einschränkung hat das BVerfG durch Beschluß vom 12. November 1974 wegen Verfassungswidrigkeit mit Gesetzeskraft für nichtig erklärt (BGBl 1975 I 448 = BVerfGE 38, 187 = SozR 3100 § 44 Nr 2). Ob ein Antrag "rechtsbegründend" für einen Anspruch der Klägerin auf die wiederaufgelebte Witwenversorgung erforderlich war (BSG, BVBl 1966, 48; BSGE 49, 186, 187 f = SozR Nr 12 zu § 45 BVG; BSG SozR 3100 § 35 Nr 1), ist in diesem Rechtsstreit nicht das eigentliche Problem. Jedenfalls beginnt nach § 44 Abs 4 BVG diese Leistung frühestens mit dem Antragsmonat (vgl Rundschreiben des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung vom 27. Februar 1975, BVBl 1975, 45). Das LSG hat offen gelassen, ob die Klägerin sich im November 1974 überhaupt fernmündlich an das Versorgungsamt wegen ihrer Witwenversorgung gewandt hat. Für diesen Fall hat das Gericht aber angenommen, die Witwe habe nach ihrer eigenen Darstellung nicht den Willen zum Ausdruck gebracht, sie begehre Witwenversorgung nach ihrem ersten Ehemann. Von dieser tatsächlichen hypothetischen Feststellung ist im Revisionsverfahren auszugehen; die Klägerin hat keine Revisionsrügen dagegen vorgebracht (BSG SozR 1500 § 163 Nr 3). Die rechtliche Würdigung, daß es damit überhaupt an einem Antrag vom November 1974 fehlt, ist nicht zu beanstanden (BSGE 32, 60, 62 = SozR Nr 15 zu § 1286 RVO aF; SozR Nr 1 zu § 1613 RVO; BSG 1976-12-01 - 7 RAr 66/75 - Bericht in Arbeit und Beruf 1977, 220). Außerdem wäre ein mündlich gestellter Antrag, auch falls er mit Hilfe eines Ferngesprächs übermittelt werden könnte (in dem im BVBl 1966, 48 veröffentlichten Urteil des BSG dahingestellt), nach § 6 Abs 1 KOVVfG nur dann rechtswirksam, wenn über den Vorgang eine Niederschrift angefertigt worden wäre. Daß dies geschehen sei, behauptet die Klägerin nicht.
Ob sie bereits 1968 im Zusammenhang mit der Gewährung eines beamtenrechtlichen Witwengeldes nach der Scheidung ihrer zweiten Ehe rechtswirksam (BSG SozR 3100 § 44 Nr 11) auch die wiederaufgelebte Witwenrente aus der KOV beantragt hat, ist bisher ungeklärt. Dies hat das LSG noch zu ermitteln.
Ein Herstellungsanspruch, der die umstrittene Leistung begründen könnte, ist entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts nicht aus Rechtsgründen schlechthin ausgeschlossen, falls die Klägerin im November 1974 beim Versorgungsamt die behauptete Auskunft erbeten hat. Allerdings hat das LSG die erforderlichen tatsächlichen Voraussetzungen nicht festgestellt. Ob sie gegeben sind, hat es nunmehr unter den folgenden rechtlichen Gesichtspunkten noch zu prüfen. Wenn es bei der Beweiswürdigung verhältnismäßig strenge Maßstäbe anlegen sollte, wie in dem angefochtenen Urteil angedeutet ist, so könnte dies unter den gegebenen Umständen gerechtfertigt sein. Die Klägerin, die nach ihrer Darstellung besser als die befragte Sachbearbeiterin über die neueste Rechtslage informiert war, soll durch eine unrichtige telefonische Auskunft davon abgehalten worden sein, einen Antrag zu stellen, für den die Schriftform oder eine Niederschrift über ein mündliches Vorbringen vorgeschrieben ist. Außerdem ist der genaue Inhalt der behaupteten Anfrage zu ermitteln, weil er für den Umfang der Auskunftspflicht bedeutsam ist.
Ebenso wie für die Sozialversicherung hat das BSG für die KOV in ständiger Rechtsprechung einen Herstellungsanspruch für Fälle anerkannt, in denen ein Versicherter oder Versorgungsberechtigter durch eine objektiv falsche Auskunft der zuständigen Behörde daran gehindert worden ist, von sich aus eine unerläßliche Voraussetzung für eine sonst nicht umstrittene Leistung zu schaffen; der Versicherte oder Versorgungsberechtigte ist dann so zu stellen, wie er stehen würde, falls der Leistungsträger die Entstehung der Anspruchsvoraussetzung nicht pflichtwidrig verhindert hätte (BSG SozR 3100 § 44 Nr 11; BSGE 49, 76 = SozR 2200 § 1418 Nr 6; vgl auch BVerwGE 9, 89, 91 ff; 16, 156, 158 f; Harald Bogs in: Festschrift zum 25jährigen Bestehen des BSG, Band 1, S 149 ff). Die derart begründete Leistungspflicht beruht auf dem sozialrechtlichen Leistungsverhältnis, soweit daran nach dem Sozialstaatsgrundsatz der Bürger als schutzbedürftiger Partner beteiligt ist. Sie entspricht dem allgemeinen, in § 162 Abs 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ausdrücklich formulierten Rechtsgedanken, daß eine Bedingung als erfüllt gilt, wenn ihr Eintritt von der Partei, zu deren Nachteil er gereichen würde, wider Treu und Glauben verhindert wird.
Der Herstellungsanspruch knüpft entgegen der Ansicht des LSG nicht allein an die Verletzung solcher Pflichten an, die sich für den Leistungsträger aus einem "aktiven", durch einen Antrag begründeten Leistungsverhältnis ergeben, das heißt aus einer Beziehung, die bereits mit laufenden Leistungen verbunden ist. Deshalb braucht hier nicht entschieden zu werden, wann theoretisch ein Sozialrechtsverhältnis als Grundlage eines möglichen Herstellungsanspruches entsteht (vgl dazu zB Grüner, Kommentar zum Sozialgesetzbuch, Einleitung SGB I/2, S 27 ff; BSGE 46, 124, 126 = SozR 2200 § 1290 Nr 11). Im gegenwärtigen Fall bestand zwischen der Klägerin und dem Beklagten schon im November 1974 eine für einen Herstellungsanspruch bedeutsame Rechtsbeziehung, die über das allgemeine Staat-Bürgerverhältnis hinausging. Die Klägerin war die Witwe eines durch Kriegseinwirkungen verstorbenen Mannes und nach der Auflösung ihrer zweiten Ehe grundsätzlich wieder versorgungsberechtigt (§ 1 Abs 1 bis 3 Satz 1, Abs 5, § 44 Abs 2 BVG). Sie hatte bereits vor dem Inkrafttreten des BVG eine Hinterbliebenenversorgung bezogen. Darüber hinaus hatte sie, falls ihre Sachdarstellung zutrifft, das Versorgungsamt als zuständige Behörde um eine einschlägige Auskunft gebeten. Sie wollte demnach erfahren, ob nach dem neuerdings geltenden Recht, das durch eine Entscheidung des BVerfG neu geschaffen sein sollte, Kriegswitwen nach der Auflösung ihrer neuen Ehe schlechthin, also unabhängig von ihrem Verschulden an der Scheidung, die wiederaufgelebte Witwenversorgung beanspruchen können. Die derart befragte Mitarbeiterin der Versorgungsverwaltung war verpflichtet, die Klägerin zutreffend und umfassend zu belehren. In diese Auskunft hätte sie auch den Hinweis auf den erforderlichen Antrag einbeziehen, hätte also der Klägerin raten müssen, unverzüglich einen rechtswirksamen Antrag zu stellen, weil dieser den Leistungsbeginn bestimmt. Ob die befragte Bedienstete des Versorgungsamtes schuldhaft eine unrichtige Auskunft erteilt hat, ist unerheblich (BSGE 49, 77, 78). Ein Herstellungsanspruch setzt allein eine unrichtige pflichtwidrige Belehrung voraus, die in Fällen der vorliegenden Art wesentlich verursacht haben muß, daß die ratsuchende Person den erforderlichen Antrag nicht alsbald stellt. Allerdings ist eine Auskunft nur dann derart pflichtwidrig, wenn ihre Unrichtigkeit für die Behörde erkennbar war (BSGE 49, 30, 33 = SozR 4220 § 6 Nr 3; Grüner aaO, S 57 f, 62 f). Das war hier nach der Veröffentlichung des zitierten Beschlusses des BVerfG der Fall. Allgemein oblag es den Versorgungsbehörden auch schon in jener Zeit, bevor die einschlägigen Bestimmungen der §§ 14 und 15 des Allgemeinen Teiles des Sozialgesetzbuches am 1. Januar 1976 in Kraft getreten waren, aufgrund der behördlichen Betreuungspflicht, eine Anfrage über die versorgungsrechtliche Rechtslage, die den Fragesteller betrifft, zutreffend und erschöpfend zu beantworten und gegebenenfalls einen Antrag anzuregen (§ 7 Abs 2 KOVVfG; BSGE 42, 224, 226 f = SozR 2200 § 1324 Nr 3; SozR 3100 § 35 Nr 1; SozR 3100 § 44 Nr 11; SozR 4100 § 44 Nr 9; Ecker, SGb 1972, 461, 466 ff; Merten, Vierteljahresschrift für Sozialrecht 1973, 66). Zur gebotenen Auskunft muß nach den Umständen des Einzelfalles ein hinreichender Anlaß bestanden haben. Das wäre hier die Entscheidung des BVerfG gewesen, auf die die Klägerin nach ihrer Behauptung ausdrücklich hingewiesen haben soll.
Obgleich im allgemeinen ein Herstellungsanspruch eine unrichtige Auskunft, die auf ein konkretes Versicherungs- oder Versorgungsverhältnis bezogen ist, voraussetzt, konnte im gegenwärtigen Fall genügen, daß die Klägerin sich allgemein nach der - neuen - Rechtslage beim Wiederaufleben der Witwenversorgung erkundigt hätte und daß die Rechtsfrage sie persönlich betraf. Sie brauchte nicht den Namen ihres im Krieg gefallenen Ehemannes zu nennen. Ihr ging es allein um die Änderung der für Witwen in ihrer Lage bedeutsamen Anspruchsvoraussetzung, daß nämlich ein alleiniges oder überwiegendes Verschulden der Ehefrau an der Scheidung das Wiederaufleben nicht mehr ausschloß. Das traf für alle Witwen zu, deren neue Ehe aufgelöst worden ist. Diese allgemeine Rechtsfrage hätte die Bedienstete des Versorgungsamtes auch ohne Kenntnis des einzelnen Versorgungsfalles zutreffend beantworten können und müssen. Dabei hätte sie auch allgemein auf die Notwendigkeit eines Antrages hinweisen müssen.
Der im Verfahren umstrittene Leistungsanspruch kann auch infolge einer Pflichtverletzung entstanden sein, die bei einer Auskunft vor einem Antrag begangen wurde. Es genügt, daß der Anfragende sich nach den Anspruchsvoraussetzungen erkundigt, die - bis auf einen Antrag - objektiv bereits gegeben sind (für die Rentenversicherung: BSG 29. Oktober 1968 - 4 RJ 553/64 -; BSGE 32, 60; BSGE 49, 154, 156 = SozR 5870 § 17 Nr 1; vgl auch BSGE 34, 124, 126, 127 f = SozR Nr 25 zu § 29 RVO; BSGE 49, 76, 77, 78).
Das LSG hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.
Fundstellen