Entscheidungsstichwort (Thema)

Erhöhung der Teilrente auf die Vollrente nach § 587 RVO. Arbeitsmarktlage. Aussicht der Wiederaufnahme einer Erwerbstätigkeit in absehbarer Zeit

 

Orientierungssatz

1. Der für die Erhöhung der Teilrente auf die Vollrente nach § 587 Abs 1 RVO erforderliche Kausalzusammenhang zwischen dem Arbeitsunfall und dem fehlenden Arbeitseinkommen ist nicht schon deshalb ausgeschlossen, weil die Wiedereingliederung des Verletzten in den Arbeitsprozeß auch infolge mangelnder Kenntnis der deutschen Sprache und begrenzter Fähigkeiten des Klägers sowie aufgrund der Arbeitsmarktlage Schwierigkeiten begegnet, denn der Arbeitsunfall braucht nicht die alleinige oder die allein wesentliche Ursache dafür zu sein, daß der Verletzte ohne Arbeitseinkommen ist.

2. Die Erhöhung der Teilrente auf die Vollrente nach § 587 Abs 1 RVO steht dem Verletzten nur zu, wenn nach den Umständen des Einzelfalles die Aussicht besteht, daß er in absehbarer Zeit trotz seiner Unfallfolgen wieder einer Erwerbstätigkeit nachgehen wird (vgl BSG 1969-08-27 2 RU 195/66 = BSGE 30, 64).

3. Bei der Entscheidung, ob der Verletzte einer Erwerbstätigkeit nicht mehr werde nachgehen können, ist zwar auch die seit dem Arbeitsunfall oder seit einer danach durchgeführten Umschulung verstrichene Zeit zu beachten, ihr kann jedoch ebenfalls keine allein entscheidende Bedeutung beigemessen und deshalb auch nicht von einer allgemein gültigen Zeitspanne ausgegangen werden, vor deren Ablauf stets anzunehmen wäre, der Verletzte werde in absehbarer Zeit trotz der Folgen des Arbeitsunfalles eine Erwerbstätigkeit aufnehmen, bzw nach deren Ablauf dies stets zu verneinen wäre.

 

Normenkette

RVO § 587 Abs 1 Fassung: 1963-04-30

 

Verfahrensgang

Hessisches LSG (Urteil vom 23.05.1979; Aktenzeichen L 3 U 1426/78)

SG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 25.10.1978; Aktenzeichen S 4 U 73/78)

 

Tatbestand

Streitig ist der Anspruch des Klägers auf Erhöhung der Teilrente auf die Vollrente (§ 587 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung -RVO-) für einen begrenzten, zurückliegenden Zeitraum.

Der im Jahre 1949 geborene Kläger ist spanischer Staatsangehöriger. Er arbeitet seit dem Jahre 1968 in der Bundesrepublik Deutschland, überwiegend als Hilfsarbeiter in einem Betonwerk. Am 3. September 1975 erlitt er bei einem Arbeitsunfall Knochen- und Nervenverletzungen im rechten Unterarm. Vom 31. Mai 1976 an war er wieder arbeitsfähig, aber arbeitslos. Die Beklagte gewährt ihm von diesem Tage an eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 vH, zunächst als vorläufige, sodann als Dauerrente. Im Dezember 1976 wurde das Osteosynthesematerial operativ entfernt. Dadurch war der Kläger bis Ende Februar 1977 wieder arbeitsunfähig. Eine Berufsfindungsmaßnahme auf Veranlassung des Arbeitsamts im Februar 1977 führte zu dem Ergebnis, daß eine Umschulung des Klägers zum Facharbeiter mangels Befähigung und wegen unzureichender Kenntnis der deutschen Sprache nicht in Betracht komme. Im Mai 1977 berichtete das Arbeitsamt, es strebe an, dem Kläger einen behinderungsgerechten Arbeitsplatz zu vermitteln; der Kläger sei bereit, sich betriebsintern einzuarbeiten oder zu qualifizieren. Im September und im Dezember 1977 teilte das Arbeitsamt ua mit, die Vermittlungsbemühungen würden fortgesetzt, doch sei mit einer dauerhaften und wettbewerbsfähigen Eingliederung in das Erwerbsleben kaum zu rechnen.

Durch Bescheid vom 24. Februar 1978 lehnte die Beklagte die Erhöhung der Teilrente auf die Vollrente (§ 587 Abs 1 RVO) ab, da der Kläger nicht infolge des Arbeitsunfalls ohne Arbeitseinkommen sei. Möglicherweise beruhe die Arbeitslosigkeit des Klägers darauf, daß er - wie die Stellungnahme des Psychologen nach der Berufsfindungsmaßnahme ergeben habe -, an einer neuen Beschäftigung nicht interessiert sei. Der Anspruch auf Rentenerhöhung entfalle aber jedenfalls deshalb, weil nicht abzusehen sei, daß der Kläger wegen der allgemein ungünstigen Arbeitsmarktlage und seiner mangelhaften Beherrschung der deutschen Sprache überhaupt wieder einen Arbeitsplatz erhalten werde; dies werde durch die bisherige Dauer seiner Arbeitslosigkeit bestätigt.

Am 14. April 1978 fand der Kläger aufgrund eigener Bemühungen eine Beschäftigung als Wagenpfleger in einer Tankstelle.

Das Sozialgericht (SG) hat dem Antrag des Klägers entsprechend den Bescheid vom 24. Februar 1978 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, die Teilrente für die Zeit vom 31. Mai 1976 bis zum 13. April 1978 auf die Vollrente zu erhöhen (Urteil vom 25. Oktober 1978). Die - vom SG zugelassene - Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 23. Mai 1979 zurückgewiesen. Zur Begründung hat das LSG ua ausgeführt: Die Voraussetzungen des § 587 Abs 1 RVO für die Erhöhung der Teilrente auf die Vollrente hätten in dem hier streitigen Zeitraum vorgelegen. Der Kläger habe seinen Arbeitsplatz im Unfallbetrieb infolge des Arbeitsunfalls verloren. Der Ursachenzusammenhang zwischen Arbeitsunfall und Arbeitseinkommenslosigkeit sei zu bejahen, obwohl die Wiedereingliederung des Klägers in den Arbeitsprozeß auch aufgrund mangelnder persönlicher Fähigkeiten sowie ungünstiger Arbeitsmarktlage schwierig gewesen sei. Denn zumindest gleichwertig habe sich hierbei das eingeschränkte Leistungsvermögen des Klägers durch die Folgen des Unfalls ausgewirkt. Der Kläger sei nicht arbeitsunwillig gewesen; das mit diesem Ergebnis nach der Berufsfindungsmaßnahme erstellte psychologische Gutachten sei unschlüssig. Für den Arbeitswillen sprächen die fortgesetzten Vermittlungsversuche des Arbeitsamts sowie die Tatsache, daß sich der Kläger einen Arbeitsplatz selbst beschafft habe. Zwar bestehe ein Anspruch nach § 587 Abs 1 RVO nicht, wenn die Dauer der Arbeitseinkommenslosigkeit unabsehbar sei. Die hier knapp zweijährige Arbeitseinkommenslosigkeit hingegen lasse sich noch als absehbar werten. Der Kläger sei nach dem Arbeitsunfall nicht endgültig aus dem Erwerbsleben ausgeschieden. Hierauf komme es nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) für die Beurteilung entscheidend an. Da keine isolierte Anfechtungsklage vorliege, sondern Anspruch auf wiederkehrende Leistungen erhoben sei, beurteile sich die Absehbarkeit nach der Sach- und Rechtslage zur Zeit der letzten mündlichen Verhandlung.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und ua wie folgt begründet: Nach Entstehungsgeschichte und Systematik des § 587 Abs 1 RVO setze der Anspruch auf die Erhöhung der Teil- auf die Vollrente voraus, daß der Verletzte nur vorübergehend ohne Arbeitseinkommen sei. Dazu müsse nach ständiger Rechtsprechung konkret die Aussicht bestanden haben, daß er in absehbarer Zeit wieder einer Erwerbstätigkeit nachgehen werde. Dies habe hier nach der Auskunft des Arbeitsamts aufgrund der seinerzeit ungünstigen Arbeitsmarktlage sowie der unzureichenden Deutschkenntnisse des Klägers im Zeitpunkt der Bescheiderteilung negativ beurteilt werden müssen. Daß der Kläger wider Erwarten doch noch einen Arbeitsplatz gefunden habe, ändere nichts an der Rechtmäßigkeit des Bescheides.

Die Beklagte beantragt sinngemäß,

das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts

vom 23. Mai 1979 aufzuheben, das Urteil des

Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 25. Oktober 1978

zu ändern und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das Berufungsurteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Der Senat hat ohne mündliche Verhandlung entschieden, da sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.

Nach § 587 Abs 1 RVO hat der Träger der Unfallversicherung die Teilrente auf die Vollrente zu erhöhen, solange der Verletzte infolge des Arbeitsunfalls ohne Arbeitseinkommen ist. In dem streitigen Zeitraum vom ersten Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit (31. Mai 1976) bis zur Aufnahme einer neuen Erwerbstätigkeit (14. April 1978) bezog der Kläger wegen der Folgen des Arbeitsunfalls eine Teilrente und war ohne Arbeitseinkommen. Der Kläger war in dieser Zeit auch infolge des Arbeitsunfalls ohne Arbeitseinkommen. Dabei ist das Landessozialgericht (LSG) zutreffend davon ausgegangen, daß der Kausalzusammenhang zwischen dem Arbeitsunfall und dem fehlenden Arbeitseinkommen nicht ausgeschlossen ist, weil die Wiedereingliederung des Klägers in den Arbeitsprozeß auch infolge mangelnder Kenntnis der deutschen Sprache und begrenzter Fähigkeiten des Klägers sowie aufgrund der Arbeitsmarktlage Schwierigkeiten begegnete. Für den nach § 587 Abs 1 RVO erforderlichen Ursachenzusammenhang ist ebenfalls die für das Gebiet der Unfallversicherung allgemein geltende Kausalitätsnorm der wesentlichen Bedingung maßgebend (BSGE 30, 64, 65; BSG SozR 2200 § 587 Nr 2; BSG Urteil vom 31. Oktober 1978 - 2 RU 55/78 -; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1.-9. Aufl, S 578i und Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl, § 587 Anm 3, jeweils mwN aus Rechtsprechung und Schrifttum; Specht BG 1980, 852). Der Arbeitsunfall braucht somit nicht die alleinige oder die allein wesentliche Ursache dafür zu sein, daß der Verletzte ohne Arbeitseinkommen ist (Brackmann aaO und S 480k II). Der Kausalzusammenhang ist auch gegeben, wenn der Arbeitsunfall - wie hier - eine von mehreren wesentlichen Ursachen dafür bildet, daß der Verletzte ohne Arbeitseinkommen ist (s BSG SozR aaO; BSG Urteil vom 31. Oktober 1978 - 2 RU 55/78 -; Hessisches LSG, Breithaupt 1966, 837 und 1970, 121; Brackmann aaO S 578i; Lauterbach aaO; Schimanski, SozSich 1967, 269; Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften Rundschreiben VB 130/64 vom 19. August 1964; Specht aaO). Nach den nicht wirksam angefochtenen tatsächlichen Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) hat - anders als nach den Ausführungen im Bescheid der Beklagten - eine Arbeitsunwilligkeit des Klägers als Ursache für das Fehlen von Arbeitseinkommen nicht bestanden. Angesichts der fortlaufenden Bemühungen des Arbeitsamts um eine Vermittlung und der Zahlung von Arbeitslosengeld besteht insbesondere kein Anhalt dafür, daß der Kläger seinen Verpflichtungen gegenüber dem Arbeitsamt nicht nachgekommen ist und damit ein Desinteresse an einer Arbeitsaufnahme zu erkennen gegeben hätte (s hierzu Specht aaO); er hat auch nicht eine angebotene Stelle ausgeschlagen; seine Bereitschaft, sich innerbetrieblich zu qualifizieren und sein - schließlich - erfolgreiches eigenes Bemühen, einen Arbeitsplatz zu erhalten, sind Umstände, die das LSG zutreffend dahin gewertet hat, daß eine mangelnde Arbeitswilligkeit nicht vorlag.

Die Erhöhung der Teilrente auf die Vollrente nach § 587 Abs 1 RVO steht dem Verletzten allerdings nur zu, wenn nach den Umständen des Einzelfalles die Aussicht besteht, daß er in absehbarer Zeit trotz seiner Unfallfolgen wieder einer Erwerbstätigkeit nachgehen wird (BSGE 30, 64; 32, 161, 164; BSG SozR aaO; Brackmann aaO S 578k mwN aus Rechtsprechung und Schrifttum). Wie der Senat bereits in seinem Urteil vom 27. August 1969 (BSGE 30, 64) näher dargelegt hat, soll der Anspruch auf die Vollrente nach § 587 Abs 1 RVO nicht den Verletzten zugute kommen, die infolge Arbeitsunfalls für die Dauer aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind (s BSG aaO S 65). Die hiernach erforderlichen Voraussetzungen für die Erhöhung der Teilrente waren gegeben. Bei der Entscheidung, ob der Verletzte einer Erwerbstätigkeit nicht mehr werde nachgehen können, sind die gesamten Umstände des jeweiligen Einzelfalles zu würdigen (BSG SozR 2200 § 587 Nr 2). Im Hinblick auf die den Einzelfall auch insoweit prägenden Verhältnisse ist zwar auch die seit dem Arbeitsunfall oder - wie hier - seit einer danach durchgeführten Umschulung verstrichene Zeit zu beachten, ihr kann jedoch ebenfalls keine allein entscheidende Bedeutung beigemessen und deshalb auch nicht von einer allgemein gültigen Zeitspanne ausgegangen werden, vor deren Ablauf stets anzunehmen wäre, der Verletzte werde in absehbarer Zeit trotz der Folgen des Arbeitsunfalles eine Erwerbstätigkeit aufnehmen, bzw nach deren Ablauf dies stets zu verneinen wäre (vgl zB Podzun, Der Unfallsachbearbeiter, 3. Aufl, Kennzahl 480 S 11; Specht aaO S 854; s aber auch Lauterbach aaO § 587 Anm 2: "Der Zeitraum kann unter Umständen Jahre andauern"). Dabei können zwar auch Vermittlungsbemühungen je nach ihrer Intensität, wenn sie über einen längeren Zeitraum erfolglos bleiben, im Einzelfall einen Anhalt dafür bieten, daß eine Wiedereingliederung des Verletzten in das Arbeitsleben auf absehbare Zeit nicht zu erwarten ist. Der Mißerfolg der Vermittlungsversuche im vorliegenden Fall rechtfertigte jedoch nicht die Ablehnung der Rentenerhöhung durch den Bescheid vom 24. Februar 1978. Die im Bescheid geäußerten Zweifel an der Arbeitswilligkeit des Klägers waren nach den Feststellungen des LSG nicht berechtigt. Insbesondere aber hat die Beklagte bei ihrer Entscheidung nicht ausreichend berücksichtigt, daß der Kläger bis zum Unfall schon jahrelang gearbeitet hatte und im Zeitpunkt der Bescheiderteilung gerade erst 29 Jahre alt wurde. Trotz der in der Person des Klägers (Sprachschwierigkeiten) und der Arbeitsmarktlage begründeten Schwierigkeiten der Vermittlung konnte nicht davon ausgegangen werden, daß der arbeitswillige, erst 29 Jahre alte Verletzte auch in absehbarer Zeit keinen Arbeitsplatz mehr finden werde. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, daß der Kläger zwar am 31. Mai 1976 erstmals nach dem Arbeitsunfall wieder arbeitsfähig wurde, daß er aber wegen der operativen Entfernung des Osteosynthesematerials im Dezember 1976 erneut arbeitsunfähig bis Februar 1977 war und erst in diesem Monat die Arbeitserprobung durchgeführt werden konnte. Unzutreffend ist hiernach die Auffassung der Beklagten, nach den tatsächlichen Verhältnissen im Zeitpunkt der Bescheiderteilung sei sie zur Versagung der Leistung berechtigt gewesen. Es kann deshalb offenbleiben, wie zu entscheiden wäre, wenn eine im Zeitpunkt der Versagung aufgrund der Umstände des Falles begründete Prognose erst durch nach Erhebung einer kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage eintretende Umstände - zB durch die tatsächliche Wiederaufnahme einer Erwerbstätigkeit innerhalb absehbarer Zeit - widerlegt würde. Das LSG hat im übrigen bereits ausgeführt, daß es bei einer Leistungsklage für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage nach allgemeiner Meinung grundsätzlich auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ankommt, so daß danach auch eine zunächst berechtigt erscheinende, später aber widerlegte Prognose des Versicherungsträgers nicht zur Abweisung der Klage auf Erhöhung der Teilrente gemäß § 587 Abs 1 RVO führen würde.

Da das LSG übereinstimmend mit dem SG zu Recht entschieden hat, daß die Teilrente des Klägers vom 31. Mai 1976 bis zum 13. April 1978 auf die Vollrente zu erhöhen war, ist die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1660360

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