Leitsatz (redaktionell)
Ersatzzeiten der Verfolgung begründen ebensowenig wie andere Ersatzzeiten das Recht zur freiwilligen Fortsetzung der Versicherung.
Normenkette
RVO § 1233 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 17. April 1968 wird aufgehoben. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 31. August 1967 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die Beteiligten streiten darum, ob die Klägerin berechtigt ist, die Versicherung in der Arbeiterrentenversicherung freiwillig fortzusetzen (§ 1233 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung - RVO -).
Die Klägerin war von 1935 bis 1938 als Putzmacherlehrling und Putzmacherin insgesamt 44 Monate lang versicherungspflichtig beschäftigt. Sie mußte wegen rassischer Verfolgung ihre Beschäftigung aufgehen und aus Deutschland auswandern. Die Beklagte bestätigt ihr, daß sie mit Ausnahme der Beitragszeiten noch verfolgungsbedingte Ersatzzeiten von 133 Monaten aufzuweisen habe. Den Antrag, ihre Berechtigung zur freiwilligen Versicherung anzuerkennen, lehnte die Beklagte jedoch ab (Bescheid vom 29. Mai 1964, Widerspruchsbescheid vom 17. November 1964).
Die Klage hat das Sozialgericht (SG) Düsseldorf durch Urteil vom 31. August 1967 abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen hat mit Urteil vom 17. April 1968 die erstinstanzliche Entscheidung geändert und der Klage stattgegeben. Es rechtfertigt das Recht der Klägerin zur Weiterversicherung aus der Überlegung, daß auf diese Weise das der Klägerin durch die politische Verfolgung zugefügte Unrecht wiedergutgemacht werden könne. Die Klägerin sei im Alter von 18 Jahren zur Aufgabe ihrer Beschäftigung gezwungen worden. Bei einem normalen Geschehensablauf sei mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten gewesen, daß sie auch weiterhin ihrem Beruf nachgegangen wäre und der Pflichtversicherung angehört hätte. Der Versicherungsschaden sei dadurch zu beheben, daß die Zeiten der Verfolgung nicht bloß zur Begründung des Leistungsanspruchs verwertet, sondern auch auf die Mindestbeitragszeit von 60 Kalendermonaten angerechnet würden, wenn anderenfalls das Recht zur freiwilligen Versicherung entfiele. - Der entgegenstehenden Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - (BSG 14, 133; 25, 90) hat sich das Berufungsgericht nicht angeschlossen. Es hält diese Judikatur für in sich widersprüchlich. Sie trage einerseits dem Prinzip der vollen Wiedergutmachung Rechnung, indem sie Verfolgungszeiten den Zeiten einer versicherungspflichtigen Beschäftigung gleichstelle - so bei Anwendung des § 1248 Abs. 3 RVO (BSG 13, 67) - und bei der Rentenberechnung einen durch Anrechnung von Ersatzzeiten nicht gedeckten Schaden im Wege der Gutschrift von Werteinheiten ausgleiche. Andererseits lasse sie aber, wo es um die Versicherungsberechtigung gehe, den gewaltsamen Einbruch in den Versicherungsverlauf außer acht.
Gegen dieses Urteil hat die Beklagte die - zugelassene - Revision eingelegt. Sie beantragt, das Berufungsurteil aufzuheben und die Berufung der Klägerin zurückzuweisen. Sie ist der Ansicht, das angefochtene Urteil stehe im Widerspruch zum Wortlaut des Gesetzes. Der Gesetzestext gebe den Willen des Gesetzgebers zutreffend wieder, nämlich daß als Grundlage der Versicherungsberechtigung allgemein - und so auch bei Verfolgten - nur Pflichtbeitragszeiten und nicht auch Ersatzzeiten gelten sollen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen. Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und weist ergänzend auf die Regelung in Art. X des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG-SchlußG) vom 14. September 1965 (BGBl I, 1315) hin. Wenn darin verheirateten Frauen, die sich während der Verfolgungszeit ihre Beitragsanteile erstatten ließen, die Chance der Nach- und Weiterversicherung gegeben werde, so müsse ein vergleichbares Recht auch solchen Verfolgten zugebilligt werden, die versicherungstreu geblieben seien und sich die Beitragsanteile nicht hätten zurückzahlen lassen.
Die Revision hat Erfolg. Das BSG hat bereits ausgesprochen, daß Ersatzzeiten der Verfolgung (§ 1251 Abs.1 Nr. 4 RVO) ebensowenig wie andere Ersatzzeiten - anstelle der vom Gesetz geforderten Mindestbeitragszeit von 60 Kalendermonaten das Recht zur freiwilligen Fortsetzung der Versicherung begründen (BSG 25, 90).
Wortlaut, Sinn und Zweck des Gesetzes lassen keine andere Auslegung zu. In § 1233 Abs. 1 Satz 1 RVO ist bestimmt, daß sich nur weiterversichern kann, wer innerhalb von 10 Jahren während mindestens 60 Kalendermonaten Beiträge für eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit entrichtet hat. Mithin genügen Zeiten ohne Beitragsleistung (Ersatzzeiten) nicht. Der Gesetzgeber hat strenge Voraussetzungen für die freiwillige Versicherung aufgestellt. Dieses Recht sollte nur noch "echten Mitgliedern der Versichertengemeinschaft" vorbehalten sein (vgl. Begründung des Regierungsentwurfs zu § 1233, Bundestagsdrucksache II 2437). Während der Gesetzesberatungen ist dieses Motiv noch verstärkt zum Ausdruck gebracht worden. Ursprünglich war daran gedacht worden, die Befugnis zur freiwilligen Versicherung demjenigen zuzugestehen, der die Wartezeit erfüllte. Darin wären Ersatzzeiten einbezogen gewesen. Die zum Gesetz erhobenen Anforderungen schließen jedoch eine solche Möglichkeit aus.
Verfolgte nehmen insoweit keine Sonderstellung ein. Diese Auffassung ist von dem BSG in dem in BSG 14, 133 veröffentlichten Urteil angebahnt worden. Der Gesetzgeber hat die Rechtsprechung zu dem hier interessierenden Teil gebilligt oder doch zumindest gelten lassen. In dem erwähnten Urteil war der Gedanke entwickelt worden, daß Ersatzzeiten die Voraussetzungen zur Weiterversicherung nicht erfüllten. Mit ihnen ließe sich weder die Mindestbeitragszeit von 60 Kalendermonaten ausfüllen, noch könne ihrethalben die Spanne von 10 Jahren verkürzt werden. An letzterem - dem 10-Jahresrahmen - hat der Gesetzgeber später in dem Rentenversicherungs-Änderungsgesetz vom 9. Juni 1965 nicht mehr uneingeschränkt festgehalten. Nunmehr haben Ersatzzeiten unberücksichtigt zu bleiben, wenn es um die Ermittlung des Zeitraums der 10 Jahre geht (§ 1233 Abs. 1 Satz 3 RVO). Dagegen hat das Gesetz an dem Minimum einer Beitragszeit von 60 Monaten aufgrund versicherungspflichtiger Beschäftigung nicht gerüttelt. Diese Gesetzesentwicklung rechtfertigt den Schluß, daß der Gesetzgeber insoweit eine Änderung der durch das BSG (BSG 14, 133) geschaffenen Rechtslage nicht beabsichtigt hat. Es ist mithin von dem hier in Betracht kommenden Merkmal einer Mindestmenge von 60 Pflichtbeiträgen auszugehen.
Lediglich für eine kleine Gruppe unter den Verfolgten ist nachträglich die Weiterversicherung erleichtert worden. Verfolgte, die sich in der Zeit zwischen Januar 1933 und Mai 1945 Beiträge wegen Heirat hatten erstatten lassen, können sich gemäß Art. X BEG-SchlußG wieder und sogar rückwirkend versichern. Damit soll ein Nachteil ausgeglichen werden, der die Folge einer unfreiwilligen völligen Aufgabe der Versicherung war (vgl. Bundestagsdrucksache IV 3423 zu Art. IX a). Mit dieser Situation ist der hier zu beurteilende Sachverhalt nicht ohne weiteres zu vergleichen. Dieser Gesetzgebungsvorgang läßt vielmehr erkennen, daß der Gesetzgeber sich die Entscheidung über eine Erleichterung der Weiterversicherung im einzelnen vorbehalten hat.
Der Anregung der Klägerin, die für die Entscheidung erhebliche Rechtsfrage dem Großen Senat oder dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen, ist nicht zu folgen. Die Voraussetzungen einer Anrufung des Großen Senats sind nicht gegeben, weil abweichende Entscheidungen nicht zu erwarten sind, die Einheitlichkeit der Rechtsprechung nicht gefährdet ist und die Fortbildung des Rechts ein solches Vorgehen nicht erfordert (§§ 42, 43 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Verfassungsrechtliche Bedenken sind gegen die Auslegung, die hier dem § 1233 Abs. 1 Satz 1 RVO gegeben worden ist, nicht zu erheben. Was die Klägerin begehrt, ist ihre Gleichstellung mit den durch Art. X BEG-SchlußG begünstigten Verfolgten.
Ob eine solche Gleichstellung vorzunehmen ist, hat der Gesetzgeber zu entscheiden. Selbst wenn er wegen des Gleichheitsgrundsatzes oder aus anderen Gründen tätig werden müßte, so würde von einer solchen Rechtssituation die hier ausgelegte und angewendete Norm des § 1233 Abs. 1 RVO nicht berührt.
Hiernach hat die Vorinstanz die Rechtslage unrichtig beurteilt. Der Revision ist mit der auf § 193 SGG beruhenden Kostenentscheidung stattzugeben.
Fundstellen