Entscheidungsstichwort (Thema)

Weiterversicherung für Verfolgte

 

Leitsatz (redaktionell)

Es können immer nur solche Versicherungszeiten auf die Mindestbeitragszeit iS des RVO § 1233 Abs 1 S 1 angerechnet werden, für die Beiträge tatsächlich entrichtet oder nachentrichtet sind.

 

Orientierungssatz

Ersatzzeiten wegen Verfolgung (RVO § 1251 Abs 1 Nr 4) sind nicht auf die Mindestbeitragszeit von 60 Kalendermonaten iS des RVO § 1233 Abs 1 S 1 als Voraussetzung für das Recht zur Weiterversicherung anzurechnen (Anschluß an BSG 1961-03-23 4 RJ 42/60 = BSGE 14, 133 und BSG 1966-06-28 11 RA 106/65 = BSGE 25, 90 und BSG 1969-03-11 4 RJ 317/68).

 

Normenkette

RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1957-02-23, § 1233 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 24. November 1965 und des Sozialgerichts Düsseldorf vom 6. März 1964 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Verfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Der Kläger erstrebt die Zulassung zur freiwilligen Fortsetzung der Versicherung. Zu entscheiden ist, ob auf die Mindestbeitragszeit von 60 Kalendermonaten im Sinne des § 1233 Abs. 1 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) Ersatzzeiten wegen politischer Verfolgung (§ 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO) als Beitragszeiten anzurechnen sind.

Der 1917 in Berlin geborene Kläger ist als Jude Verfolgter im Sinne des § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes. Er war in den Jahren 1935 und 1936 in L als Gärtner versicherungspflichtig beschäftigt und ist dann nach Israel ausgewandert, wo er noch heute lebt. Seinen Antrag, ihn zur Weiterversicherung zuzulassen, lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 19. Juni 1962 ab, weil weder die Voraussetzungen nach § 1233 RVO noch nach Art. 2 § 4 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) erfüllt seien. Für ihn seien nur für die Zeit vom 3. Juni 1935 bis 27. März 1936 insgesamt für 9 Monate Beiträge entrichtet worden. Die anerkannte Ersatzzeit vom 15. August 1936 bis zum 31. Dezember 1949 könne nicht als Beitragszeit im Sinne des § 1233 RVO angesehen oder einer solchen gleichgestellt werden.

Den Widerspruch wies die Widerspruchsstelle durch Bescheid vom 11. Dezember 1962 zurück. Das Sozialgericht (SG) hat den Bescheid der Beklagten vom 19. Juni 1962 sowie den Widerspruchsbescheid vom 11. Dezember 1962 aufgehoben und festgestellt, daß der Kläger zur Weiterversicherung in der deutschen Arbeiterrentenversicherung berechtigt sei.

Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten gegen dieses Urteil zurückgewiesen; es hat die Revision zugelassen.

Das LSG hat die Rechtsauffassung vertreten, die von der Beklagten anerkannte Ersatzzeit wegen politischer Verfolgung im Sinne des § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO sei einer Beitragszeit im Sinne des § 1233 Abs. 1 RVO gleichzusetzen, so daß der Kläger so zu behandeln sei, als ob er nicht nur für 9 Monate sondern für 170 Monate Pflichtbeiträge entrichtet habe. Das ergebe sich aus der besonderen Eigenart der wegen der Verfolgung anerkannten Ersatzzeit. Die Grundsätze, die das Bundessozialgericht (BSG) zu § 1248 Abs. 3 RVO in BSG 13, 67 ff entwickelt habe, müßten auch hier angewandt werden. Der Gedanke der Wiedergutmachung müsse primär gelten, und es müsse versucht werden, im Rahmen des rechtlich Möglichen einen Weg zu finden, dem Kläger Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Das sei aber nur dann möglich, wenn entgegen dem ausdrücklichen Wortlaut des § 1233 Abs. 1 RVO auch die wegen der politischen Verfolgung gewährte Ersatzzeit der im Gesetz geforderten Beitragszeit gleichgestellt werde.

Gegen das Urteil hat die Beklagte Revision eingelegt. Sie rügt unrichtige Anwendung des § 1233 RVO und meint, das LSG habe zu Unrecht die Ersatzzeiten nach § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO den Beitragszeiten gleichgestellt. Die Rechtsgedanken, die das BSG zum Begriff der "versicherungspflichtigen Beschäftigung" im Sinne des § 1248 Abs. 3 RVO entwickelt habe (BSG 13, 67), ließen sich auf die dem Versicherungsrecht angehörende Vorschrift des § 1233 RVO nicht übertragen. Durch die Neufassung des § 1233 RVO durch Art. 1 Nr. 12 des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes (RVÄndG) vom 9. Juni 1965 (BGBl I 476) sei eindeutig geklärt, daß der Gesetzgeber Ersatzzeiten nur bei der Ermittlung des Zehnjahreszeitraumes berücksichtige, sie aber nicht den Beitragszeiten habe gleichstellen wollen. Aus der Entstehungsgeschichte des § 1233 RVO ergebe sich, daß lediglich mit Beiträgen belegte Zeiten, nicht aber Ersatzzeiten den Versicherten berechtigen sollten, das Versicherungsverhältnis fortzusetzen (BSG 14, 133, 136).

Die Beklagte beantragt sinngemäß, das angefochtene Urteil und das Urteil des SG Düsseldorf vom 6. März 1964 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen. Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt.

II

Die Revision der Beklagten ist begründet.

Der Kläger ist entgegen der Auffassung des LSG nicht berechtigt, die Versicherung freiwillig fortzusetzen.

Da die Voraussetzungen des Art. 2 § 4 ArVNG nicht vorliegen, kommt für das Recht des Klägers zur Weiterversicherung nur die Vorschrift des § 1233 RVO in Betracht. Nach § 1233 Abs. 1 Satz 1 RVO kann die Versicherung freiwillig fortsetzen (Weiterversicherung), wer weder nach der RVO noch nach dem Angestelltenversicherungsgesetz - AVG -, dem Reichsknappschaftsgesetz oder dem Gesetz für die Altersversorgung für das deutsche Handwerk versicherungspflichtig ist und innerhalb von zehn Jahren während mindestens sechzig Kalendermonaten Beiträge für eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit entrichtet hat. Der Kläger hat nur für 9 Kalendermonate Beiträge für eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung entrichtet, so daß es an der Mindestbeitragszeit von sechzig Kalendermonaten fehlt. Die von der Beklagten gemäß § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO anerkannten Ersatzzeiten wegen politischer Verfolgung können auf die nach § 1233 Abs. 1 Satz 1 RVO erforderliche Mindestbeitragszeit nicht angerechnet werden. Die entgegenstehende Auffassung des LSG ist nicht gerechtfertigt.

Die Berechtigung zur Weiterversicherung ist in § 1233 Abs. 1 Satz 1 RVO unmißverständlich davon abhängig gemacht, daß der Versicherte für eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit Beiträge mindestens für eine Zeit von sechzig Kalendermonaten tatsächlich entrichtet hat. Nur echte Beitragszeiten im Sinne des § 1251 Abs. 1 Buchst. a RVO können für die Erfüllung dieser Mindestbeitragszeit angerechnet werden. Nicht nur der Wortlaut des § 1233 Abs. 1 RVO und seine Entstehungsgeschichte, sondern auch die Neufassung des § 1233 Abs. 1 RVO durch das RVÄndG zeigen, daß die Mindestbeitragszeit von sechzig Kalendermonaten nicht durch die Anrechnung von Ersatzzeiten erfüllt werden kann.

In der Neufassung des § 1233 Abs. 1 Satz 3 RVO heißt es, daß bei der Ermittlung des Zeitraumes von zehn Jahren nach Satz 1 Ersatzzeiten, Ausfallzeiten nach § 1259 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 und Zeiten eines Rentenbezuges unberücksichtigt bleiben, soweit nicht für diese Zeit Beiträge entrichtet sind, auch wenn die Voraussetzungen des § 1251 Abs. 2 und des § 1259 Abs. 3 nicht erfüllt sind. Für die Ersatzzeiten wegen politischer Verfolgung kann entgegen der Auffassung des LSG nichts anderes gelten. Jedenfalls bietet das Gesetz keinen Anhalt dafür, die Ersatzzeiten wegen Verfolgung anders als die übrigen Ersatzzeiten für das Recht zur Weiterversicherung im Sinne des § 1233 Abs. 1 RVO als echte Beitragszeiten zu behandeln (BSG 14, 133 ff; 25, 90 ff).

Ebensowenig läßt sich für die Anwendung des § 1233 Abs. 1 Satz 1 RVO eine Ausnahme aus dem Gedanken der Wiedergutmachung für politisch Verfolgte herleiten. Durch die in § 1233 Abs. 1 Satz 1 RVO für die freiwillige Fortsetzung der Versicherung ausdrücklich aufgestellten Voraussetzungen hat das Gesetz dem Versicherungsprinzip den Vorrang eingeräumt. Die Weiterversicherung ist daher nur für solche Personen zugelassen, die durch mindestens 60 Pflichtbeiträge "echte Mitglieder der Versichertengemeinschaft" geworden sind (BSG 14, 133, 135; 25, 90, 91).

Auch das Urteil des 1. Senats des BSG vom 16. September 1960 (BSG 13, 67) vermag die vom LSG vertretene Auffassung nicht zu stützen. Hier hat der 1. Senat für den Anspruch auf das vorzeitige Altersruhegeld gemäß § 1248 Abs. 3 RVO (§ 25 Abs. 3 AVG) Verfolgtenzeiten im Sinne des VerfolgtenG vom 22. August 1949 wie "Zeiten einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit" im Sinne des § 1248 Abs. 3 RVO bewertet. Jedoch können, wie die Beklagte zu Recht geltend macht, die vom 1. Senat für den Leistungsanspruch nach § 1248 Abs. 3 RVO aufgestellten Grundsätze nicht darauf übertragen werden, ob die Voraussetzungen der Versicherungsberechtigung erfüllt sind (BSG 25, 90, 92).

Schon vor dem 1. Januar 1957 waren die Verfolgten zur Weiterversicherung nur berechtigt, wenn die auch für die übrigen Versicherten dafür aufgestellten gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt waren. Das Entschädigungsrecht sah für die Weiterversicherung von Verfolgten eine Sonderregelung nur für den Fall vor, daß wegen Heirat an eine Verfolgte oder an die Ehefrau eines Verfolgten eine Beitragserstattung erfolgt war. Abweichend von § 1418 RVO, § 140 AVG durften diese Verfolgten für die Zeit vor Vollendung des 65. Lebensjahres bis zum 1. Januar 1924 zurück Beiträge nachentrichten, auch wenn eine Versicherung vor der Zeit, für die Beiträge entrichtet werden, nicht bestanden hat (Art. X des 2. Gesetzes zur Änderung des Bundesentschädigungsgesetzes - BEG-Schlußgesetz - vom 14. September 1965, BGBl I 1315; BSG 20, 90, 93). Werden auf Grund einer solchen Berechtigung Nachversicherungsbeiträge tatsächlich entrichtet, so sind für die Rentenberechnung die Nachversicherungsbeiträge wie Pflichtbeiträge zu behandeln und auf Grund dieser tatsächlich nachentrichteten Versicherungsbeiträge ist der Versicherte auch zur Weiterversicherung berechtigt (BSG 27, 164, 165). Dies zeigt aber, daß immer nur solche Versicherungszeiten auf die Mindestbeitragszeit im Sinne des § 1233 Abs. 1 Satz 1 RVO angerechnet werden können, für die Beiträge tatsächlich entrichtet oder nachentrichtet sind.

Schließlich läßt sich auch aus den Vorschriften des RVÄndG mit hinreichender Deutlichkeit entnehmen, daß der Gesetzgeber bei der Regelung der Weiterversicherung in § 1233 Abs. 1 RVO für die Ersatzzeiten des § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO eine rechtliche Sonderstellung der Verfolgten gegenüber den anderen Ersatzzeiten nicht gewollt hat. Einmal hätte er sonst die Änderung des § 1233 Abs. 1 RVO durch das RVÄndG oder das BEG - Schlußgesetz zum Anlaß genommen, eine entsprechende und ergänzende Vorschrift zu erlassen. Zum anderen hätte es auch bei der Einfügung des § 1255 a in die RVO nahegelegen, nicht nur bei der Ermittlung der für den Versicherten maßgebenden Rentenbemessungsgrundlage nach § 1255 RVO allgemein vorzuschreiben, daß für Ersatzzeiten bestimmte Werte zugrundezulegen sind, sondern daß darüber hinaus die Ersatzzeiten wegen Verfolgung als Beitragszeiten im Sinne des § 1233 RVO gelten sollen.

Auf die Revision der Beklagten ist aus diesen Gründen unter Aufhebung der entgegenstehenden Urteile der Vorinstanzen die Klage abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2284951

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