Leitsatz (amtlich)

Werden dem Versicherten eine belgische Unfallrente und eine deutsche Erwerbsunfähigkeitsrente jeweils ausschließlich nach innerstaatlichem Recht, also ohne Anwendung von EWG-Vorschriften gewährt, so tritt kein Ruhen der deutschen Rente nach EWGV 1408/71 Art 12 Abs 2 iVm RVO § 1278 Abs 1 ein (Bestätigung von BSG 1976-12-17 5 RKn 28/74, Anschluß an BSG 1981-02-25 5a/5 RKn 11/79 = SozR 2200 § 1278 Nr 9).

 

Normenkette

RVO § 1278 Abs. 1; EWGVtr Art. 51; EWGV 1408/71 Art. 12 Abs. 2 Fassung: 1971-06-14

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 30.07.1980; Aktenzeichen L 4 J 31/80)

SG Aachen (Entscheidung vom 30.01.1980; Aktenzeichen S 17 J 103/78)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte das Ruhen der Erwerbsunfähigkeitsrente des Klägers aus der deutschen Rentenversicherung wegen des Bezugs einer Unfallrente nach belgischem Recht anordnen durfte.

Der Kläger bezieht seit 1973 aus Belgien eine Unfallrente wegen Silikose vom Fond voor de Beroepsziekten (Fond für Berufsschäden) und zwar ab 1976 nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 82 vH. Die Rente wird allein aufgrund innerstaatlichem belgischem Rechts, also ohne die Anwendung von EWG-Bestimmungen gewährt. Die Beklagte bewilligte dem Kläger eine Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit ab 1. Mai 1977 (Bescheid vom 18. November 1977, Bescheid vom 24. August 1978), wobei sie jedoch gleichzeitig das vollständige Ruhen dieser Rente anordnete und nur den Kinderzuschuß von 2 Kindern gewährte, weil die belgische Rente 85 vH der für die Berechnung der deutschen Erwerbsunfähigkeitsrente maßgeblichen Bemessungsgrundlage des Klägers überschreite. Auch die Erwerbsunfähigkeitsrente wird ausschließlich nach innerstaatlichem, deutschen Recht gewährt.

Auf die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab 1. Mai 1977 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ohne Anwendung von Ruhensvorschriften zu zahlen (Urteil vom 30. Januar 1980). Mit Urteil vom 30. Juli 1980 hat das Landessozialgericht (LSG) die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und im wesentlichen ausgeführt: § 1278 Abs 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) könne nicht unmittelbar angewandt werden, weil die Unfallrente des Klägers von einem belgischen Versicherungsträger nach innerstaatlichem Recht gewährt werde. Mit einer "Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung" im Sinne dieser Vorschrift sei nur eine Verletztenrente aus der deutschen Unfallversicherung gemeint. § 1278 RVO könne auch nicht iVm Art 12 Abs 2 der EWG-Verordnung (EWG-VO) Nr 1408/71 angewandt werden, weil nach mehreren Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) die in Art 12 Abs 2 EWG-VO bestimmten Rechtsfolgen nicht der Ermächtigungsgrundlage in Art 51 des Vertrages über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG-Vertrag) entsprächen. Nach dem Sinn und Zweck des Art 51 EWG-Vertrag komme ein Ruhen aufgrund von Vorschriften der EWG nur dann in Frage, wenn der Betreffende Leistungen erhalte, die nach Gemeinschaftsrecht erworben worden seien. Zu- und abwandernde Arbeitnehmer dürften durch EWG-Vorschriften nicht schlechter gestellt werden, als sie nach innerstaatlichen Vorschriften stehen würden.

Mit der Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 1278 RVO sowie des Art 12 Abs 2 EWG-VO Nr 1408/71 durch das Berufungsgericht.

Die Beklagte beantragt sinngemäß,

das angefochtene Urteil sowie das Urteil des

Sozialgerichts Aachen vom 30. Januar 1980

aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Das LSG hat im Einklang mit der Rechtsprechung des erkennenden Senats zu Recht entschieden, daß die deutsche Rente des Klägers nicht wegen des Bezugs der belgischen Rente ruht.

Danach kommt eine unmittelbare Anwendung der Ruhensvorschrift des § 1278 Abs 1 RVO in einem derartigen Fall ohnehin nicht in Betracht (vgl die Urteile des Senats vom 17. Dezember 1976 - 5 RKn 28/74 - und vom 25. Februar 1981 in SozR 2200 § 1278 Nr 9). Aber auch Art 12 Abs 2 EWG-VO Nr 1408/71 scheidet als Rechtsgrundlage für den angefochtenen Ruhensbescheid der Beklagten aus, weil nach der Rechtsprechung des EuGH diese Vorschrift die Anwendung der innerstaatlichen Ruhensvorschriften nur erlaubt, wenn Leistungen aufgrund dieser EWG-VO gewährt werden. Dies trifft indes im vorliegenden Fall weder auf die deutsche noch auf die belgische Rente des Klägers zu. Der EuGH hat nach dem Zweck und dem Zusammenhang der Art 48 bis 51 EWG-Vertrag die dem Art 12 Abs 2 EWG-VO Nr 1408/71 vorausgegangene - inhaltsgleiche - Regelung in Art 11 Abs 2 EWG-VO Nr 3 dahin ausgelegt, daß die dort genannten Beschränkungen den Versicherten nur hinsichtlich der Leistungen entgegengehalten werden können, die sich aus der Anwendung dieser Verordnung ergeben (vgl SozR 6040 Art 11 Nrn 3 und 4, Art 12 Nr 1). Diesen Grundsatz hat der EuGH sodann auch für den Geltungsbereich der EWG-VO Nr 1408/71 wiederholt bestätigt (vgl SozR 6050 Art 46 Nrn 1 und 2). Der erkennende Senat sieht aufgrund dieser einheitlichen, ständigen Rechtsprechung des EuGH keinen Anlaß, eine erneute Auslegung des Art 12 Abs 2 EWG-VO 1408/71 durch eine weitere Anfrage beim EuGH herbeizuführen. Das Vorbringen der Revision ist hierfür nicht geeignet.

Die Beklagte stützt ihre Revision im wesentlichen darauf, daß die Auffassung des EuGH zu ungerechtfertigten Leistungskumulierungen führen kann. Die von der Beklagten zum Beleg hierfür angeführten Beispiele gehen indes von unterschiedlichen Sachverhalten aus, die - rein rechtlich betrachtet - auch zu unterschiedlichen Ergebnissen führen können. Ob diese wünschenswert sind, ist primär eine sozialpolitische Frage. Da sich der EuGH bis dato durch Art 48 bis 51 EWG-Vertrag an einer Auslegung des Art 12 Abs 2 EWG-VO 1408/71 im Sinne der Vorstellungen der Beklagten gehindert sieht, könnte diese Frage nur durch eine - nach dem Vortrag der Revision derzeit auch angestrebte - Änderung der genannten Vorschriften gelöst werden.

Im übrigen ist das von der Beklagten für die von ihr behauptete ungleiche Behandlung der Wanderrentner angeführte Argument, daß bereits eine geringfügige Anhebung der deutschen Rente durch die EWG-VO 1408/71 gemäß Art 12 Abs 2 dieser VO zur Anwendung der deutschen Ruhensvorschriften führen müßte, schon deswegen nicht überzeugend, weil der Senat im Urteil vom 25. Februar 1981 aaO gerade für diesen Fall Bedenken angemeldet hat, wenn dadurch dem Versicherten letztlich ein erheblicher Nachteil entstehen würde. Der Senat hat in jener Entscheidung deshalb insoweit eine Vorlage an den EuGH nach Art 177 EWG-Vertrag für erforderlich gehalten, wenn die aufgezeigte, noch nicht hinreichend geklärte Rechtsfrage nach dem Ergebnis der im dortigen Rechtsstreit erfolgten Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht rechtserheblich wäre. Da im vorliegenden Fall sowohl die deutsche als auch die belgische Rente jeweils nur nach innerstaatlichem Recht, also ohne Anwendung von EWG-Vorschriften gewährt worden ist, kann - im Hinblick auf die insoweit einheitliche und gefestigte Rechtsauffassung des EuGH - diese Frage hier dahingestellt bleiben.

Desgleichen kommt es bei dieser Rechtslage nicht mehr auf den Einwand des Klägers an, dem angefochtenen Ruhensbescheid liege ohnehin eine unzulässige Berechnungsmethode zugrunde, der anderenfalls - entgegen der von der Beklagten im Schriftsatz vom 15. Januar 1981 womöglich vertretenen Meinung - beachtet werden müßte, weil die Höhe der dem Kläger zu zahlenden Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit Gegenstand des Rechtsstreits ist.

Nach alledem mußte der Revision der Beklagten der Erfolg versagt bleiben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1660032

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