Leitsatz (amtlich)
Zur Frage, unter welchen Voraussetzungen die gesundheitlichen Folgen einer Auseinandersetzung unter Wehrpflichtigen, die eine Dienstpause "auf der Stube" verbringen, durch den Wehrdienst eigentümliche Verhältnisse (§ 81 Abs 1 Regelung 3 SVG) herbeigeführt worden sind.
Normenkette
SVG § 81 Abs 1 Alt 3; BVG § 1 Abs 1 Alt 3
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 20.06.1984; Aktenzeichen L 10 V 170/82) |
SG Duisburg (Entscheidung vom 18.08.1982; Aktenzeichen S 18 V 103/82) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Anerkennung der beim Kläger bestehenden praktischen Erblindung des linken Auges als Wehrdienstbeschädigung.
Der 1962 geborene Kläger leistete ab 18. Mai 1981 als Wehrpflichtiger Dienst bei der Bundeswehr. Am 22. Oktober 1981 hatte er gemäß Dienstplan bis 16.45 Uhr Fahrschuldienst. Um 18.00 Uhr war Revierreinigen angesetzt. Die Freizeit (Abendpause) zwischen 16.45 Uhr und 18.00 Uhr, die auch zur Einnahme des Abendessens zur Verfügung stand, verbrachte der Kläger zusammen mit Kameraden auf der Stube ua mit Lesen. Als der Kläger bemerkte, daß einer seiner Kameraden in einer Zeitung herumkritzelte, die er von ihm ausgeliehen hatte, warf er nach erfolgloser Abmahnung einen Kugelschreiber nach ihm. Der Kamerad griff den Kugelschreiber und warf ihn zurück. Hierbei traf er das linke Auge des Klägers so unglücklich, daß es erblindete. Wegen dieser Gesundheitsschädigung wurde der Kläger am 15. März 1982 aus der Bundeswehr entlassen.
Seinen im März 1982 gestellten Antrag auf Versorgung lehnte das Versorgungsamt (VersorgA) durch Bescheid vom 6. Mai 1982 mit der Begründung ab, daß die Umstände der Verletzung "nicht von den Verhältnissen des zivilen Lebens abwichen."
Die hiergegen erhobene Klage ist ohne Erfolg geblieben (Urteil des Sozialgerichts -SG- vom 18. August 1982). Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) mit dem angefochtenen Urteil vom 20. Juni 1984 das sozialgerichtliche Urteil aufgehoben und das beklagte Land verurteilt, eine praktische Erblindung des linken Auges als Wehrdienstfolge mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 vH anzuerkennen und dem Kläger ab 16. März 1982 hierwegen Versorgungsrente zu gewähren. Das LSG hat in der Begründung angenommen, daß der Kläger den Augenschaden durch einen während der Ausübung des Wehrdienstes erlittenen Unfall iS von § 81 Abs 1 des Gesetzes über die Versorgung für die ehemaligen Soldaten der Bundeswehr und ihre Hinterbliebenen (Soldatenversorgungsgesetz -SVG-) erworben habe. Zur Zeit des Unfalls sei er zur Vorbereitung auf die bevorstehende Fahrprüfung mit der Lektüre des ihm von der Bundeswehr zur Verfügung gestellten Lernmaterials beschäftigt gewesen. Deshalb sei der enge innere Zusammenhang mit dem Wehrdienst auch im Zeitpunkt des Unfalls nicht unterbrochen gewesen.
Gegen dieses Urteil richten sich die vom Beklagten und der beigeladenen Bundesrepublik eingelegten, vom LSG zugelassenen Revisionen.
Der Beklagte rügt § 81 Abs 1 SVG als verletzt. Der Kläger habe in seiner Dienstpause zur Zeit des angeschuldigten Unfalls keinen militärischen Dienst geleistet. Ein Befehl, wonach der Kläger zu dieser Zeit "Fahrschulstoff" habe nacharbeiten müssen, habe nicht vorgelegen; er habe die Pause frei gestalten können. Die vom LSG herangezogene Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sei nicht einschlägig. Folge man der Auffassung des angefochtenen Urteils, sei eine Abgrenzung zwischen militärischem Dienst und privater Beschäftigung kaum noch möglich. Zwar spreche § 81 Abs 1 SVG von einem "während" der Ausübung des Wehrdienstes erlittenen Unfall. Indessen bestehe kein Zweifel, daß es zB bei einer als Folge einer privaten Auseinandersetzung unter Soldaten entstehenden Schädigung für die Anerkennung eines Versorgungsanspruchs nicht genüge, wenn es zu einer Unfallschädigung während der Ausübung des Wehrdienstes gekommen sei. Die auch bei einem während des Wehrdienstes eingetretenen Unfall vorzunehmende Kausalitätsprüfung rechtfertige sich daraus, daß das Gesetz nur die "durch" einen während der Ausübung des Wehrdienstes erlittenen Unfall herbeigeführte gesundheitliche Schädigung erfasse. Vom Lesen der von der Bundeswehr zur Verfügung gestellten Broschüre zur Nacharbeitung des Fahrschulstoffes sei keinerlei Gefahr für die Gesundheit des Klägers ausgegangen.
Der Beklagte beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 20. Juni 1984 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 18. August 1982 zurückzuweisen.
Die beigeladene Bundesrepublik Deutschland wendet sich gegen die tatsächliche Feststellung des LSG, der Kläger habe zur Zeit des Unfalls Fachliteratur der Bundeswehr gelesen, also unter Verstoß gegen Erfahrungssätze, dh gegen die "Regeln der allgemeinen Lebenserfahrung" Feststellungen getroffen. Selbst wenn sich der Kläger zur Zeit des Unfalls auf die Fahrprüfung vorbereitet hätte, würde die Auffassung des LSG rechtswidrig dazu führen, daß ein Soldat bestimmen könnte, wann er sich im Dienst befinde und wann nicht. Entscheidend sei, ob das Verhalten des Klägers bei vernünftiger und lebensgemäßer Gesamtbetrachtung nur als einheitliches Gesamtverhalten deshalb gewertet werden könne, weil es die Grenzen der auch bei der Ausübung des Wehrdienstes gegebenen typischen "Gemengelage" von spezieller Wehrdienstverrichtung einerseits und dienstfremden, in der Regel der Verfolgung privater Interessen dienenden Verhaltens andererseits nicht überschreite.
Die Beigeladene beantragt ebenfalls, das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 20. Juni 1984 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 18. August 1982 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revisionen zurückzuweisen.
Er führt aus, das angefochtene Urteil entspreche der Rechtsprechung des BSG. Ein zeitlicher Zusammenhang des Unfalls mit dem Wehrdienst reiche für § 81 Abs 1 SVG aus. Im übrigen sei nicht jede Dienstpause Freizeit. Nach den gegebenen Umständen hätten er - Kläger - und seine Kameraden keine Möglichkeit, am Unfalltag die Zeit zwischen 16.45 Uhr und 18.00 Uhr nach freiem Belieben zu gestalten.
Entscheidungsgründe
Die Revisionen des Beklagten und der Beigeladenen sind zulässig, in der Sache aber nicht begründet.
Nach § 80 Satz 1 SVG erhält ein Soldat, der eine Wehrdienstbeschädigung erlitten hat, nach Beendigung des Wehrdienstverhältnisses wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Wehrdienstbeschädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG).
Wehrdienstbeschädigung ist nach § 81 Abs 1 aaO eine gesundheitliche Schädigung, die durch eine Wehrdienstverrichtung (1. Regelung), durch einen während der Ausübung des Wehrdienstes erlittenen Unfall (2. Regelung) oder durch die dem Wehrdienst eigentümlichen Verhältnisse (3. Regelung) herbeigeführt worden ist. Nach dem vom LSG bindend festgestellten Sachverhalt (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) ist das schädigende Ereignis während einer Dienstpause eingetreten, so daß die erste Regelung aaO von vornherein nicht anwendbar ist. Dahinstehen kann, ob, wie das LSG meint, die unglücklichen Folgen des Wurfs mit dem Kugelschreiber Folgen eines Unfalls "während" des Wehrdienstes iS der Regelung 2 aaO sein könnten. Der zur Beurteilung stehende Sachverhalt erfüllt jedenfalls den Tatbestand der Regelung 3 aaO: Die Unfallfolgen sind durch wehrdiensteigentümliche Verhältnisse herbeigeführt worden.
Nach der ständigen, mit dem Schrifttum übereinstimmenden Rechtsprechung des BSG sind dem Wehrdienst eigentümliche Verhältnisse solche, die der Eigenart dieses Dienstes entsprechen und im allgemeinen eng mit ihm verbunden sind (BSG in SozR Nr 80 zu § 1 BVG). Sie müssen typisch von den Besonderheiten des Wehrdienstes geprägt sein, sich also deutlich von den Verhältnissen abheben, die bei sonst vergleichbaren Tatumständen im Zivilleben, etwa in einem zivilen Arbeitsverhältnis gegeben sind (BSGE 18, 199, 201; BSGE 37, 282, 283 = SozR 3200 § 81 Nr 1; BSG Urteil vom 8. August 1984 - 9a RV 37/83 -). Wehrdiensteigentümliche Verhältnisse können daher auch außerhalb der Ausübung des Wehrdienstes, etwa in der freien Zeit, gegeben sein. Das BSG hat demgemäß sogar die Folgen eines Streits in einer Bundeswehrkantine unter bestimmten Voraussetzungen als wehrdiensteigentümlich anerkannt (SozR Nr 80 zu § 1 BVG). Erst recht können in einer Dienstpause - der Kläger und seine Kameraden warteten zur Zeit des schädigenden Ereignisses auf den nahen Beginn des nächsten Dienstabschnitts (Revierreinigen) - wehrdiensteigentümliche Verhältnisse vorliegen (zu alledem vgl BSG-Urteil vom 8. August 1984 aaO).
Zu den Eigentümlichkeiten des Wehrdienstes zählt, daß der Soldat durch seinen Dienst an seinen Standort oder Einsatzort gebunden ist und für die Dauer seines Wehrdienstverhältnisses aus seinem bürgerlichen Leben herausgenommen und von dem Ort ferngehalten wird, an dem sich der räumliche Schwerpunkt seiner bürgerlichen Lebensinteressen befindet (BSG SozR Nr 80 zu § 1 BVG). Die militärische Ordnung mit allen ihren aus der Funktion der bewaffneten Macht bedingten Besonderheiten findet ihre besondere Ausprägung in der Kaserne. Dort wird ein wesentlicher Teil des militärischen Dienstes abgeleistet. Die Verhältnisse in der Kaserne sind auf militärische Bedingungen und nicht auf die Gegebenheiten des zivilen Lebens zugeschnitten. Dieser Ordnung ist jeder Soldat unterworfen; er kann auf sie keinen bestimmenden Einfluß nehmen. Hieraus folgt, daß die Auswirkungen der für den Wehrdienst typischen "Kasernierung" mit ständigem engen Zusammenleben mit fremden Menschen - und das so begründete "Konfliktpotential" - nicht dem Soldaten, sondern der Bundeswehr zuzurechnen sind (vgl hierzu mit weiteren Nachweisen Wilke/Wunderlich, BVG, 5. Aufl, § 81 SVG Anm IV/1 und § 1 BVG Anm II/3).
Im vorliegenden Fall befand sich der Kläger nach den insoweit unangegriffenen Feststellungen des LSG während des schädigenden Ereignisses im Kasernenbereich, nämlich mit seinen Kameraden "auf der Stube". Es kann unbedenklich davon ausgegangen werden, daß das Verweilen "auf der Stube" eine der wenigen Möglichkeiten war, die dem Kläger und seinen Kameraden im konkreten Fall zur sinnvollen Nutzung der nach Einnahme des Abendessens nur noch kurzen Restpause bis 18.00 Uhr - Revierreinigen - zur Verfügung standen. Das im Endergebnis erheblich schädigende, an und für sich harmlose Werfen mit dem Kugelschreiber zwischen dem Kläger und seinen Kameraden ist aus der konkreten Situation zwanglos verständlich: Junge Menschen im Alter von Wehrpflichtigen können auf der Enge "der Stube" in einer Dienstpause nicht zusammenleben, ohne mit ihren Kameraden in eine - wie hier: harmlose - gelegentliche Auseinandersetzung zu geraten. Eine andere Annahme widerspräche den Erkenntnissen der Lebenserfahrung und wäre daher offenkundig lebensfremd (zur Revisibilität von Erfahrungssätzen speziell im Recht der Kriegsopferversorgung vgl BSGE 10, 46, 49 und BSGE 37, 282, 283 = SozR 3200 § 81 Nr 1).
Deshalb sind die schwerwiegenden Folgen des eher neckenden Wurfs mit dem Kugelschreiber im vorliegenden Fall Folge des kasernierten Zusammenlebens junger Menschen auf engem Raum. Sie sind daher durch wehrdiensteigentümliche Verhältnisse iS von § 81 Abs 1 Regelung 3 SVG herbeigeführt worden.
Das LSG hat sonach den Beklagten zutreffend verurteilt, die praktische Erblindung des linken Auges als Wehrdienstbeschädigung mit dem entsprechenden Versorgungsanspruch anzuerkennen.
Nach alledem waren die Revisionen des Beklagten und der Beigeladenen zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen