Leitsatz (amtlich)

Ist der Versicherte nach dem 1972-01-31 erwerbsunfähig geworden und hat er nach Eintritt des Versicherungsfalles gemäß WGSVG § 10 Beiträge wirksam nachentrichtet, so können diese der Erwerbsunfähigkeitsrente nicht zugrundegelegt werden.

Das gilt auch dann, wenn der Versicherte aufgrund eines vor dem 1972-02-01 eingetretenen Versicherungsfalles Rente wegen Berufsunfähigkeit bezogen hat.

 

Normenkette

RVO § 1419 Abs 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1419 Abs 2 Fassung: 1957-02-23; WGSVG § 10 Abs 1 S 1 Fassung: 1970-12-22

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 02.02.1979; Aktenzeichen L 4 J 36/78)

SG Düsseldorf (Entscheidung vom 27.01.1978; Aktenzeichen S 14 J 212/76)

 

Tatbestand

I

Streitig ist, ob die gemäß Verfolgtensonderrecht für 1953 und 1959 nachentrichteten Beiträge auf die mit Wirkung vom 1. Februar 1975 gewährte Erwerbsunfähigkeitsrente anzurechnen sind.

Die Klägerin ist Verfolgte im Sinne des § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes. Sie bezog zunächst aufgrund eines 1966 eingetretenen Versicherungsfalles Rente wegen Berufsunfähigkeit; für die Zeit von Februar 1975 an gewährte ihr die Beklagte Erwerbsunfähigkeitsrente, wobei sie von einem am 30. Januar 1975 - dem Eingangstag des Umwandlungsantrags vom 29. Januar 1975 - eingetretenen Versicherungsfall ausging (Bescheid vom 2. September 1975). Mit einem ebenfalls am 30. Januar 1975 eingegangenen Schreiben vom 21. Januar 1975 erklärte sich die Klägerin "zur Zahlung weiterer Beiträge bereit"; im Schreiben vom 15. Dezember 1975 konkretisierte sie ihr Angebot hinsichtlich Anzahl und Klasse der Beiträge sowie der zu belegenden Zeiträume.

Nachdem die Beklagte die Berechtigung zur Beitragsnachentrichtung festgestellt und die Klägerin im September 1976 einen entsprechenden Betrag gezahlt hatte, lehnte die Beklagte den Antrag ab, die nachentrichteten Beiträge für die Erwerbsunfähigkeitsrente zu berücksichtigen, weil sie nach Eintritt des Versicherungsfalles geleistet worden seien (Bescheid vom 8. Oktober 1976). Während des Verfahrens vor dem Sozialgericht (SG) änderte die Beklagte ihren Bescheid vom 2. September 1975 ab, indem sie die nachentrichteten Beiträge auf die Berufsunfähigkeitsrente anrechnete und - da diese höher als die bislang gezahlte Rente wegen Erwerbsunfähigkeit war - mit Wirkung vom 1. Februar 1975 die Erwerbsunfähigkeitsrente im Betrage der Rente wegen Berufsunfähigkeit gewährte (Bescheid vom 21. März 1977).

Im Gegensatz zum SG hat das Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (LSG) den Bescheid vom 8. Oktober 1976 vollständig sowie den Bescheid vom 21. März 1977 teilweise aufgehoben und die Beklagte verurteilt, die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit für die Zeit vom 1. Februar 1975 an unter Berücksichtigung der Nachentrichtungsbeiträge zu gewähren: Zwar könnten, stelle man auf den bloßen Gesetzeswortlaut ab, die nachentrichteten Beiträge auf die Erwerbsunfähigkeitsrente nicht angerechnet werden. § 10 Abs 1 Satz 2 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) idF des Änderungs- und Ergänzungsgesetzes (WGSVÄndG) vom 22. Dezember 1970 (BGBl I 1846), wonach der Eintritt des Versicherungsfalles vor dem 31. Januar 1972 der Nachentrichtung von Beiträgen nicht entgegenstehe, lasse es jedoch ausreichen, wenn - wie hier - bei einer Stufenfolge von Versicherungsfällen der erste vor dem Stichtag eingetreten sei, nämlich Berufsunfähigkeit bereits seit 1966 vorliege und sich die Erwerbsunfähigkeitsrente nahtlos anschließe (Hinweis auf SozR 5070 § 8 Nr 1); es schade nicht, daß der Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit erst nach dem Stichtag eingetreten sei. Nur diese Auslegung werde dem Zweck des § 10 WGSVG gerecht, auch bereits laufende Renten aufzubessern. Soweit in Abs 1 Satz 2 der Vorschrift auf § 1419 der Reichsversicherungsordnung (RVO) verwiesen werde, komme dies nur zum Tragen, wenn vor dem Stichtag überhaupt noch kein Versicherungsfall eingetreten sei.

Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision bekämpft die Beklagte die Rechtsansicht des Berufungsgerichts. Sie meint, auch Sinn und Zweck des § 10 WGSVG geböten nicht, über den Wortlaut hinaus nachentrichtete Beiträge auf Renten anzurechnen, die auf nach dem Stichtag eingetretenen Versicherungsfällen beruhen.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des LSG aufzuheben und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Beklagten ist begründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig. Die Klägerin hat keinen Anspruch darauf, daß die Nachentrichtungsbeiträge auf die Erwerbsunfähigkeitsrente angerechnet werden.

Die vom LSG vertretene gegenteilige Ansicht kann nicht auf Verfolgtensonderrecht gestützt werden. Die Klägerin hat von ihrem Recht, abweichend von der Regelung des § 1418 RVO Beiträge nachzuentrichten, Gebrauch gemacht. Streitig ist nur die Anrechenbarkeit dieser Beiträge auf die Erwerbsunfähigkeitsrente. Hierzu bestimmt § 10 Abs 1 Satz 2 WGSVG, daß der Eintritt des Versicherungsfalles vor Ablauf der ersten zwölf Monate nach Inkrafttreten dieses Gesetzes, also (da das WGSVG am 1. Februar 1971 in Kraft trat) vor dem 1. Februar 1972, der Nachentrichtung nicht entgegensteht und im übrigen § 1419 Abs 1 und 2 RVO (sowie die inhaltsgleiche Vorschrift der Angestelltenversicherung) entsprechend gilt. Dies bedeutet, daß bei Versicherungsfällen vor dem 1. Februar 1972 die Beiträge - abweichend von § 1419 Abs 1 RVO - auch nach Eintritt der Berufsunfähigkeit oder der Erwerbsunfähigkeit für Zeiten vorher nachentrichtet werden dürfen, während bei danach eingetretenen Versicherungsfällen die sich aus der allgemeinen Regelung des § 1419 Abs 1 und 2 RVO ergebende Einschränkung der zulässigen Nachentrichtung von Beiträgen entsprechend gelten soll (Urteile des 1. Senats des Bundessozialgerichts -BSG- vom 1. Oktober 1975 - 1 RA 203/74 - = BSGE 40, 251 = SozR 5070 § 10 Nr 2 und zu dem insoweit inhaltsgleichen § 8 WGSVG - 1 RA 65/75 - = BSGE 40, 258 = SozR 5070 § 8 Nr 2, ferner vom 6. Februar 1975 - 1 RA 161/74). § 10 Abs 1 Satz 2 WGSVG ist also weder (erweiternd) dahin auszulegen, daß ein Versicherungsfall nach dem Stichtag erst recht nicht schade, noch (einengend) in der Weise, daß ein späterer Versicherungsfall die Beitragsnachentrichtung schlechthin ausschließe; vielmehr sind beide Halbsätze als Anrechnungsvorschriften darüber zu verstehen, für welchen Versicherungsfall die nachentrichteten Beiträge zu berücksichtigen sind, und zwar im Sinne der Abgrenzung von Sonderrecht für die begünstigte Zeit bis zum 31. Januar 1972 zum allgemeinen Nachentrichtungsrecht für die Zeit danach. Eine andere Auslegung wäre, worauf die Rechtsprechung bereits hingewiesen hat, mit Sinn und Wortlaut des zweiten Halbsatzes in § 10 Abs 1 Satz 2 WGSVG unvereinbar. Dementsprechend heißt es auch im Regierungsentwurf zu § 8 Abs 1 Satz 2 WGSVG (BT-Drucks VI/715 Seite 10), der ebenso wie § 10 Abs 1 Satz 2 WGSVG ungeändert Gesetz geworden ist, der letzte Halbsatz der Vorschrift stelle klar, daß hinsichtlich der Zulässigkeit der Nachentrichtung von Beiträgen nach Eintritt des Versicherungsfalles - Versicherungsfälle vor dem 1. Januar 1967 (das bedeutet zu § 10 WGSVG: vor dem 1. Februar 1972) ausgenommen - dieselben Regeln gelten wie bei der Beitragsnachentrichtung nach den allgemeinen Vorschriften.

Hiernach können die nachentrichteten Beiträge nicht bei der Erwerbsunfähigkeitsrente berücksichtigt werden. Da dieser Versicherungsfall unstreitig am 30. Januar 1975 - nach Ablauf der begünstigten Zeit - eingetreten ist, gilt § 1419 Abs 1 RVO entsprechend, der die "Entrichtung" freiwilliger Beiträge nach Eintritt der Erwerbsunfähigkeit für Zeiten vorher verbietet; wie bereits dargelegt, ist allerdings hierunter kein Entrichtungsverbot überhaupt, sondern nur die Sperrwirkung hinsichtlich der Leistungen aus einem der genannten bereits eingetretenen Versicherungsfälle zu verstehen (vgl auch BSGE 22, 236, 239). Dem Umstand, daß die Beiträge erst während schon bestehender Erwerbsunfähigkeit nachentrichtet wurden, kann die Klägerin auch nicht erfolgreich mit der Ausnahmevorschrift des - ebenfalls entsprechend geltenden - § 1419 Abs 2 RVO begegnen. Danach entfällt zwar die relative Sperrwirkung des Abs 1 der Vorschrift, wenn sich der Versicherte "vorher" (dh vor Eintritt des Versicherungsfalles) gegenüber einer zuständigen Stelle zur Entrichtung von Beiträgen bereiterklärt hat und diese in angemessener Frist geleistet werden; selbst wenn man aber im Hinblick auf die Zusage der Beklagten im Bescheid vom 9. Juli 1976 schon das erste, am 30. Januar 1975 der Beklagten zugegangene Anerbieten maßgebend sein läßt und vernachlässigt, daß die Konkretisierung des Angebots (hierzu: VDR-Kommentar, Stand 1. Januar 1978, Anm 2 zu § 1419 RVO) wesentlich später folgte, ist gleichwohl die (empfangsbedürftige) Bereiterklärung nach den unangegriffenen Feststellungen des LSG jedenfalls nicht vor dem Eintritt des Versicherungsfalles der Erwerbsunfähigkeit bei der Beklagten eingegangen.

Das LSG hat das vorstehend gewonnene Ergebnis ebenfalls gesehen, aber nicht gebilligt. Es hat für wesentlich gehalten, daß sich hier der Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit nahtlos an den Zustand der Berufsunfähigkeit angeschlossen und die Klägerin ununterbrochen Rente bezogen habe. Dem kann nicht beigepflichtet werden. Träfe die Rechtsauffassung des Berufungsgerichts zu, so würde § 10 Abs 1 Satz 2 WGSVG gegen seinen Wortlaut dahin ausgelegt, daß dann auch ein nach dem 31. Januar 1972 eingetretener Versicherungsfall der Beitragsnachentrichtung nach Sonderrecht nicht entgegenstünde oder, anders ausgedrückt, die Anwendung der allgemeinen Vorschriften des § 1419 Abs 1 und 2 RVO ausgeschaltet wäre, obwohl diese gerade entsprechend zu gelten hätten. Gewichtige Gründe, die dies dennoch rechtfertigen könnten, sind nicht ersichtlich. Der vom LSG ins Feld geführte Gesichtspunkt mit dem WGSVG habe den Verfolgten durch die Beitragsnachentrichtung die Aufbesserung auch laufender Renten ermöglicht werden sollen, kann nicht dazu führen, den Anwendungsbereich der hier maßgebenden Vorschrift auf Versicherungsfälle auszudehnen, die auch der amtlichen Begründung zufolge lediglich von den allgemeinen Vorschriften erfaßt werden, einmal abgesehen davon, daß auch hier die Beitragsnachentrichtung die Höhe einer bereits "laufenden" Rente günstig beeinflußt hat. Das Gesetz trägt dem Schutzbedürfnis des berechtigten Personenkreises auch in ausreichender und ausgewogener Weise Rechnung, indem es einmal die bei seinem Inkrafttreten bereits laufenden Renten erfaßt, darüber hinaus aber den berechtigten Verfolgten auch eine einjährige "Überlegungsfrist" einräumt, innerhalb deren der - möglicherweise nicht vorhersehbare - Eintritt des Versicherungsfalles nicht schadet, vielmehr die nachentrichteten Beiträge gleichwohl für die aus diesem Versicherungsfall resultierende Rente zu berücksichtigen sind. Nach Versäumnis dieser Frist kann aber derjenige, der nach vorangegangener Berufsunfähigkeit erwerbsunfähig wird, hinsichtlich dieses Versicherungsfalles bei erst nunmehr durchgeführter Beitragsnachentrichtung nicht günstiger stehen als ein Versicherter, der ohne vorherige Berufsunfähigkeit zum selben Zeitpunkt erwerbsunfähig wird und dessen anschließend entrichteten Beiträge auf die Erwerbsunfähigkeitsrente unanrechenbar sind (hierzu Urteil des 1. Senats des BSG vom 6. Februar 1975 - 1 RA 161/74).

Insbesondere spricht gegen die hier gefundene Lösung auch nicht das vom LSG erwähnte Urteil des 1. Senats vom 6. Februar 1975 in 1 RA 127/74 (= BSGE 39, 126, 129 = SozR 5070 § 8 Nr 1). Dabei hindert zunächst der Umstand, daß diese Entscheidung § 8 Abs 1 Satz 2 WGSVG betraf, eine vergleichende Betrachtung nicht; zu Recht weist das Berufungsgericht auf die lediglich voneinander abweichenden Stichtage bei sonst gleichem Regelungsinhalt hin. Ein wesentlicher Unterschied besteht aber insofern, als es dort um die - hier unstreitige - Berechtigung zur Beitragsnachentrichtung ging, nicht um die Anrechnung auf eine bestimmte Rente, so daß schon deshalb keine Folgerung für den vorliegenden Rechtsstreit zu ziehen ist, auch wenn der Leitsatz jener Entscheidung zu Mißverständnissen Anlaß geben könnte. Unabhängig davon erscheint die Begründung nicht zwingend, beim Bezug einer Rente in mehreren Stufen sei der erste Versicherungsfall dafür maßgebend, ob ein Eintritt des Versicherungsfalles vor dem 1. Januar 1967 im Sinne von § 8 Abs 1 Satz 2 WGSVG vorliege. In jenem Rechtsstreit war bereits seit Februar 1966 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bezogen und der auf einem Versicherungsfall nach dem 31. Dezember 1966 beruhende Altersruhegeldbescheid bindend geworden; der Versicherungsträger vertrat in Anlehnung an den dem Recht vor 1957 entnommenen Gedanken des abgeschlossenen Versicherungslebens die Ansicht, daß dann die Berechtigung zur Beitragsnachentrichtung ausgeschlossen sei. Die Frage indessen, ob eine solche Berechtigung noch oder nicht mehr besteht, kann schwerlich damit beantwortet werden, daß ein anderer, früher eingetretener Versicherungsfall der Nachentrichtung nicht entgegensteht; denn das Recht zur Beitragsnachentrichtung als solches wird durch einen vor dem Eintritt des Stichtags liegenden Versicherungsfall weder begründet noch überhaupt berührt. Im übrigen hat der 1. Senat mit den bereits erwähnten Urteilen vom 1. Oktober 1975 (BSGE 40, 251 und 258) nunmehr die Berechtigung zur Beitragsnachentrichtung, wenn der Altersversicherungsfall nach dem Stichtag eingetreten und der Altersruhegeldbescheid bereits bindend geworden ist, mit einer aus den §§ 8, 10 WGSVG gewonnenen Begründung bejaht, die auch schon die Entscheidung BSGE 39, 126 getragen hätte.

Entsprechend dem Antrag der Beklagten war daher das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung gegen das die Klage abweisende Urteil des SG zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1656157

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