Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 06.04.1990) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 6. April 1990 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger Beiträge zur Arbeiterrentenversicherung nachentrichten darf.
Der 1922 geborene Kläger stammt aus Rumänien. Er half dort von 1936 bis 1943 als Familienangehöriger in der elterlichen Landwirtschaft mit und leistete dann bis 1945 Kriegsdienst. Nach einer bei seinen Eltern verbrachten Übergangszeit war er von 1947 bis 1958 als Landwirt und Fuhrunternehmer selbständig tätig, dann jedoch als Flechtereiarbeiter und Flechter abhängig beschäftigt. Im September 1970 siedelte er in die Bundesrepublik aus, erhielt hier den Ausweis A für Vertriebene und Flüchtlinge und nahm im Februar 1971 eine versicherungspflichtige Beschäftigung auf.
Im März 1987 bekundete der Kläger die Absicht, für die Zeit von Mai 1947 bis August 1958 Beiträge nach Art 2 § 52 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) nachzuentrichten. Mit Bescheid vom 15. April 1987 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Dezember 1987 verneinte die Beklagte das Recht dazu: Der Kläger sei seit 1958 abhängig beschäftigt und daher zum Zeitpunkt der Vertreibung nicht mehr als Selbständiger erwerbstätig gewesen.
Klage und Berufung des Klägers sind erfolglos geblieben (Urteile des Sozialgerichts Speyer vom 14. Juni 1989 und des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz ≪LSG≫ vom 6. April 1990). Das LSG hat sein Urteil im wesentlichen damit begründet, daß ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem Verlust der Existenz als selbständiger Unternehmer und der Vertreibung nicht bestanden habe. Das sei aber zu fordern, wenn die selbständige Tätigkeit zeitlich nicht an das Geschehen der Vertreibung heranreiche. Die vom Kläger geltend gemachten Maßnahmen der Zwangskollektivierung hätten nicht nur Volksdeutsche, sondern alle rumänischen Staatsbürger betroffen. Somit habe der Kläger seine selbständige Tätigkeit 1958 nicht vertreibungsbedingt, sondern aufgrund der allgemeinen politischen und wirtschaftlichen Entwicklung in Rumänien aufgegeben.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger mangelnde Sachaufklärung. Er macht geltend, er sei bereits 1958 entschlossen gewesen, Rumänien zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu verlassen, habe auch die Ausreisegenehmigung mehrmals beantragt, aber erst im Jahr 1970 erhalten. Im übrigen seien die Zwangskollektivierungen in Rumänien ebenso wie die kommunistische Machtübernahme Ereignisse gewesen, die erst durch den Zweiten Weltkrieg ermöglicht worden seien.
Er beantragt,
das Urteil des LSG vom 6. April 1990 und das Urteil des SG vom 14. Juni 1989 sowie den Bescheid der Beklagten vom 15. April 1987 idF des Widerspruchsbescheides vom 10. Dezember 1987 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Nachentrichtung freiwilliger Höchstbeiträge für alle in Frage kommenden Zeiten gemäß Art 2 § 52 ArVNG zuzulassen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Sie hält das angegriffene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist unbegründet. Zutreffend haben die Vorinstanzen ein Recht des Klägers verneint, für die Jahre seiner selbständigen Tätigkeit als Landwirt und Fuhrunternehmer in Rumänien (1947 bis 1958) Beiträge nach Art 2 § 52 ArVNG (Art 2 § 50 AnVNG) nachzuentrichten.
Nach Abs 1 Satz 2 iVm Satz 1 dieser Vorschrift können ua Personen iS der §§ 1 bis 4 des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG), die vor der Vertreibung als Selbständige erwerbstätig waren und binnen drei Jahren nach der Vertreibung eine versicherungspflichtige Beschäftigung aufgenommen haben, abweichend von der Regelung des § 1418 der Reichsversicherungsordnung (RVO) für die Zeit vor Vollendung des 65. Lebensjahres bis zum 1. Januar 1924 zurück Beiträge zur deutschen Rentenversicherung nachentrichten. Der Kläger gehört als Spätaussiedler (§ 1 Abs 2 Nr 3 BVFG) zum Personenkreis des § 1 BVFG und hat innerhalb von drei Jahren nach seiner Vertreibung – dem Verlassen des Vertreibungsgebiets (vgl BVerwGE 84, 23, 25) – in der Bundesrepublik Deutschland eine versicherungspflichtige Beschäftigung aufgenommen. Gleichwohl steht ihm das Recht zur Nachentrichtung nach Art 2 § 52 ArVNG nicht zu, weil er nicht im Sinne dieser Vorschrift vor der Vertreibung als Selbständiger erwerbstätig gewesen ist. Denn dieses war er nur bis August 1958; anschließend war er hingegen bis zu seiner Aussiedlung im September 1970 als Arbeitnehmer beschäftigt.
Wie das Bundessozialgericht (BSG) wiederholt entschieden hat, liegt Selbständigkeit vor der Vertreibung grundsätzlich nur vor, wenn die im Vertreibungsgebiet ausgeübte selbständige Tätigkeit zeitlich bis an den Vertreibungstatbestand herangereicht hat (BSGE 24, 146, 148 = SozR Nr 8 zu Art 52 ArVNG; SozR Nr 14 zu Art 2 § 52 ArVNG). Dieses Erfordernis folgt bereits aus dem Wortlaut der Vorschrift, in welcher die selbständige Tätigkeit vor der Vertreibung und die unselbständige „versicherungspflichtige”) Beschäftigung nach der Vertreibung einander gegenübergestellt werden. Für sie spricht auch der Sinn der Regelung, mit welcher der Gesetzgeber den vertriebenen Selbständigen sozialversicherungsrechtlich einen Ausgleich für den vertreibungsbedingten Existenzverlust einräumen wollte. Von einem solchen ursächlichen Zusammenhang zwischen Existenzverlust und Vertreibung kann ohne weiteres lediglich bei einem unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang ausgegangen werden.
Nur ausnahmsweise hat das BSG vom Erfordernis des zeitlichen Zusammenhangs zwischen Aufgabe der selbständigen Tätigkeit und Vertreibung abgesehen. So hat der 4. Senat entschieden, daß eine selbständige Tätigkeit „vor der Vertreibung” auch dann vorliegt,
wenn diese Tätigkeit zeitlich nicht unmittelbar bis an die Vertreibung heranreicht, sondern eine Zeit der Kriegsgefangenschaft dazwischen liegt (BSGE 24, 146). Er hat das damit begründet, daß Zeiten, in denen der Betreffende weder seine selbständige Erwerbstätigkeit fortsetzen noch eine unselbständige Beschäftigung aufnehmen konnte, bei der Beurteilung des zeitlichen Zusammenhangs zwischen der selbständigen Tätigkeit und der Vertreibung unberücksichtigt bleiben dürfen. Dem hat der erkennende 12. Senat in seinen Entscheidungen vom 30. Juni 1971 (SozR Nr 14 zu Art 2 § 52 ArVNG) und vom 1. Dezember 1971 (Die Praxis 1972, 273, 274) beigepflichtet. Er hat dabei gefordert, daß auch in diesen Ausnahmefällen ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Vertreibung und dem Verlust der selbständigen Existenz zumindest in dem Sinne bestehen muß, daß kriegsbedingte Gründe zur Aufgabe der selbständigen Erwerbstätigkeit schon vor der Vertreibung geführt haben. Ein solcher Grund (Kriegsdienst, Kriegsgefangenschaft, feindliche Besetzung; auch Internierung oder Zwangsarbeit, vgl Jantz-Zweng, Das neue Recht der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, 1. Aufl 1957, S 338) ist hier nicht gegeben. Denn der Kläger hat seine selbständige Erwerbstätigkeit als Landwirt und Fuhrunternehmer im Jahre 1958 wegen der allgemeinen politischen Verhältnisse in Rumänien (Kollektivierungsdruck) aufgegeben, die allenfalls mittelbar kriegsbedingt waren. Dies reicht für die Herstellung eines „unmittelbaren Zusammenhangs” zwischen Verlust der Selbständigkeit und Vertreibung nicht aus. Ein solcher kann vielmehr nur bejaht werden, wenn auch zwischen dem Krieg und den „kriegsbedingten Gründen”, die zum Existenzverlust geführt haben, ein unmittelbarer Zusammenhang bestand.
Ein Sachverhalt, bei dem die Aufgabe der selbständigen Tätigkeit schon längere Zeit vor der Vertreibung unschädlich wäre, liegt hier auch deswegen nicht vor, weil die Aufgabe des landwirtschaftlichen Betriebes und Fuhrunternehmens den Kläger nicht gehindert hat, bis zu seiner Vertreibung längere Zeit, nämlich zwölf Jahre hindurch, eine abhängige Beschäftigung auszuüben. Daß für derartige Fälle kein Nachentrichtungsrecht besteht, ergibt auch die Entstehungsgeschichte der Vorschrift. Die Nachentrichtung sollte ursprünglich nach dem Regierungsentwurf des „Rentenversicherungsgesetzes” vom 5. Juni 1956 in § 1418 Abs 3 RVO geregelt werden und nur Personen offen stehen, die „erst nach der … Vertreibung eine versicherungspflichtige Beschäftigung aufgenommen haben …” (BT-Drucks II/2437 S 33 und 86). Der Vorschlag des Bundesrats, die Regelung auf Personen auszudehnen, „die infolge unmittelbarer Kriegseinwirkung (Personen- oder Sachschäden) eine selbständige Tätigkeit aufgegeben und danach eine versicherungspflichtige Beschäftigung aufgenommen haben …” (zu BT-Drucks II/2437 Anlage 1 S 12), wurde bewußt nicht in die Regelung des späteren Art 2 § 52 ArVNG aufgenommen (vgl zu BT-Drucks II/2437 Anlage 2 S 22 und Bericht des Abgeordneten Schüttler, zu BT-Drucks II/3080 S 25). Ein vor der Vertreibung vorgenommener Berufswechsel in eine unselbständige Tätigkeit sollte danach also, selbst wenn er kriegsbedingt war, nicht zur Nachentrichtung berechtigen.
Auch das Schreiben des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung vom 20. Oktober 1961 – IVb 1 – 3634/61 (BABl 1961 S 838) enthält keine Gesichtspunkte, die in derartigen Fällen eine Bejahung des unmittelbaren Zusammenhangs zwischen dem Verlust der selbständigen Tätigkeit und der Vertreibung zuließen. In dem Schreiben wird „vorbehaltlich einer Entscheidung im Rechtsweg” der Auffassung zugeneigt, daß die berechtigten Personen bis zur Vertreibung als Selbständige erwerbstätig gewesen sein müssen, ein Ruhen des Betriebes für die Dauer des Krieges infolge einer Einberufung oder einer Dienstverpflichtung uä jedoch für unschädlich gehalten. Das entspricht der erwähnten Rechtsprechung des BSG. Wenn es dann weiter heißt, daß auch ein Verlust der Selbständigkeit vor der Vertreibung durch Maßnahmen unschädlich sei, die nach rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht zu vertreten seien, so kann offen bleiben, ob damit auch rumänische Kollektivierungsmaßnahmen lange nach Kriegsende gemeint waren. Denn auch für diesen Fall wird in dem genannten Schreiben die Auffassung vertreten, daß die Eigenschaft als selbständig Erwerbstätiger nicht schon „mit der Einziehung”, sondern erst mit der Vertreibung aufgegeben worden sei. Daraus ergibt sich aber unter Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte der Vorschrift,
daß mit der zweiten Fallgestaltung nicht der hier vorliegende Sachverhalt gemeint war, daß der Vertriebene zwischen dem Verlust seiner selbständigen Tätigkeit und der Vertreibung längere Zeit eine unselbständige Beschäftigung ausgeübt hat. Unter diesen Umständen hat er nämlich in der Regel schon vor der Vertreibung erhebliche Beitrags- bzw Beschäftigungszeiten zurückgelegt, aufgrund deren seine Eingliederung in die Rentenversicherung bereits ausreichend gewährleistet ist.
Wenn der Kläger des weiteren geltend macht, er sei zwischen 1958 und 1970 ausreisewillig gewesen, habe aber keine Ausreisegenehmigung erhalten, so ist er mit diesem neuen Vorbringen im Revisionsverfahren ausgeschlossen (§ 163 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫). Das LSG brauchte auch nicht nach § 103 SGG von Amts wegen zu erforschen, ob derartige Umstände vorlagen, weil es für Ermittlungen in dieser Richtung aufgrund der Angaben des Klägers im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren keine Anhaltspunkte hatte. Außerdem kam es – vom Rechtsstandpunkt des LSG aus gesehen – auf diese Tatsache (Ausreiseverweigerung) nicht an. Denn dieser Umstand konnte als solcher weder die Fortsetzung der selbständigen Tätigkeit noch die Aufnahme einer unselbständigen Beschäftigung verhindern.
Nach allem mußte die Revision erfolglos bleiben.
Im Kostenpunkt hat der Senat nach § 193 SGG entschieden.
Fundstellen