Leitsatz (amtlich)
Die dem Versicherten aus der Rentenversicherung gewährte Tuberkulosehilfe (Tbc-Versorgung) ist eine Regelleistung im Sinne der RVO §§ 1235 nF, RVO 1250 aF; die Erstattung der bis zum Ende der Hilfeleistung entrichteten Beiträge ist nach RVO § 1303 Abs 5 ausgeschlossen.
Normenkette
RVO § 1244a Fassung: 1959-07-23, § 1235 Fassung: 1957-02-23, § 1310 Fassung: 1934-05-17, § 1250 Fassung: 1937-12-21, § 1303 Abs. 5 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 20. Juni 1963 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die Beklagte erstattete der Klägerin - insoweit ihrem Antrage entsprechend - die Hälfte der vom 1. April 1956 an entrichteten Beiträge. Die Klägerin verlangt hingegen die auf den Arbeitnehmer entfallenden Beitragsanteile auch für die vorhergehende Zeit ihrer Versicherung. Indessen waren ihr vorher nach ihrer Erkrankung an Lungentuberkulose von der Beklagten Krankenhaus- und Heilstättenbehandlungen gewährt worden. Darin erblickt die Beklagte Regelleistungen im Sinne des § 1250 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF, die ihres Erachtens nach § 1303 Abs. 5 RVO eine Erstattung der bis dahin aufgewendeten Beiträge ausschließen.
Die Klägerin hat mit der Aufhebungs- und Leistungsklage den Anspruch auf Erstattung der restlichen Beiträge geltend gemacht. Sie hat behauptet, die Heilbehandlungen habe ihr nicht die Beklagte, sondern die Zentralstelle für Tuberkulosehilfe in Westfalen zukommen lassen. Doch selbst wenn die Beklagte die Kosten für das Heilverfahren getragen haben sollte, habe sie damit keine Regelleistung im Sinne des Rechts der gesetzlichen Rentenversicherung erbracht, sondern über die gesetzlichen Leistungen hinaus - so wie es § 1252 RVO aF vorsehe - zu allgemeinen Maßnahmen der Seuchenbekämpfung beigetragen.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil des SG Gelsenkirchen vom 20. Juni 1963). Es hielt die Beklagte für legitimiert, sich auf die der Klägerin zuteil gewordenen Tbc-Hilfe zu berufen. Die Zentralstelle für Tbc-Hilfe in Westfalen sei keine von der Beklagten verschiedene Rechtsperson gewesen, sondern habe unmittelbar für diese gehandelt. Ferner hätten die Heilbehandlungen ihre Rechtsgrundlage in dem Versicherungsverhältnis der Klägerin gehabt. Deshalb seien sie als Regelleistungen anzusehen. Diesen rechtlichen Charakter hätten die Heilmaßnahmen nicht etwa deshalb verloren, weil die Beklagte sich mit ihnen zugleich einer objektiv-rechtlichen Verpflichtung im Rahmen des Tuberkulose-Versorgungswerks der Rentenversicherung entledigt habe.
Das SG hat die Berufung zugelassen. Die Klägerin hat Sprungrevision eingelegt, die Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils beantragt und ihr erstinstanzliches Prozeßbegehren wiederholt. Sie zieht in Zweifel, daß der Begriff der Regelleistung erfüllt sei. Davon könne ihrer Meinung nach nur die Rede sein, wenn der Träger der Rentenversicherung ihr eine Leistung bewirkt hätte, die rechtlich von ihrem Antrag abhängig gewesen wäre. Die Tuberkulose-Versorgung hätte jedoch auch ohne Antrag durchgeführt werden müssen.
Die Beklagte beantragt die Zurückweisung der Revision.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§§ 165, 153, 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die mit Einwilligung des Rechtsmittelgegners gegen das Urteil des SG unter Übergehung des Berufungsverfahrens unmittelbar eingelegte Revision ist statthaft (§ 161 Abs. 1 SGG). Der Klägerin wäre das Rechtsmittel der Berufung, die den Anspruch auf eine einmalige Leistung betroffen hätte, nicht schon kraft Gesetzes (§ 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG; dazu BSG 10, 186), sondern nur infolge Zulassung eröffnet gewesen (§ 150 Nr. 1 SGG). Deshalb sind die Voraussetzungen für die sogenannte Sprungrevision erfüllt. Daß die Zulassung der Berufung nicht in die Formel der Urteilsurschrift, wohl aber in die laut Sitzungsniederschrift verkündete Urteilsformel aufgenommen worden ist, muß als ausreichende Bekanntgabe der Rechtsmittelzulassung angesehen werden (vgl. BSG SozR Nr. 22 zu § 150 SGG). Hinzu kommt, daß auch die Rechtsmittelbelehrung, die zur Beseitigung etwaiger Zweifel herangezogen werden darf, den Vermerk über die Zulassung des Rechtsmittels enthält.
In der Sache selbst ist die Revision unbegründet.
Die Revision bestreitet nicht mehr, daß die Zentralstelle für Tuberkulose-Hilfe in Westfalen, die nach außen hin das Heilverfahren durchführen ließ, eine Leistung unmittelbar "aus der Versicherung" erbrachte. Wie der Senat in BSG 6, 61, 67 ausgeführt hat, trifft dies in der Tat zu. Die Zentralstelle war eine Gemeinschaftseinrichtung des Landesfürsorgeverbandes und der Landesversicherungsanstalt (LVA) Westfalen. Beide Körperschaften hatten sich in dieser Zentralstelle zum Zwecke des Zusammenwirkens bei der Bekämpfung der Tuberkulose zu einer Arbeitsgemeinschaft verbunden. Rechtsträger war jedoch nicht die Zentralstelle. Diese war keine selbständige Rechtsperson, sondern handelte jeweils für die eine oder andere der von ihr vertretenen Körperschaften als deren Verwaltungsstelle.
Nach dem gegenwärtig geltenden Recht kann es keinem Zweifel unterliegen, daß die Dienste und Mittel, welche die Beklagte der Klägerin zur Genesung von ihrem Tuberkulose-Leiden zukommen ließ, unter den Begriff der Regelleistung fallen. Die Befugnis und Pflicht der Rentenversicherungsträger zu Maßnahmen der Tuberkulose-Hilfe beruht auf § 1244 a RVO. Diese Vorschrift wurde gemäß § 31 des Gesetzes über Tuberkulose-Hilfe vom 23. Juli 1959 (BGBl I 513) in die RVO, und zwar in den Abschnitt über die Maßnahmen zur Erhaltung, Besserung und Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit eingefügt. Damit wurde klargestellt, daß die Tuberkulose-Hilfe der Rentenversicherung für Versicherte, Rentner, ihre Ehegatten und Kinder zu den Maßnahmen zählt, die das Gesetz in § 1235 RVO als Regelleistungen - und dies mit Vorbedacht an erster Stelle (vgl. BT-Drucks. 2437/II. Wahlperiode S. 66) - bezeichnet. Dieser klaren - aus einer bewußten Entscheidung des Gesetzgebers entspringenden - Gesetzesfassung gegenüber verliert die von der Revision aufgeworfene Frage an Bedeutung, ob von einer Regelleistung gesprochen werden kann, obgleich die Tuberkulose-Hilfe auch ohne einen Antrag des Versicherten zu gewähren ist, wiewohl Regelleistungen - regelmäßig - von einem Antrag abhängig sind (§ 1545 Abs. 1 RVO). Wie sich § 1545 Abs. 1 RVO zu den Vorschriften über die Einleitung von Wiederherstellungsmaßnahmen verhält, im besonderen, ob § 1545 Abs. 1 RVO als die allgemeinere Vorschrift durch eine Spezialvorschrift verdrängt worden ist und ob es genügt, daß der "Betreute" den Maßnahmen zustimmt (§ 1237 Abs. 6 RVO), kann auf sich beruhen. Der Charakter der Tuberkulose-Hilfe der Rentenversicherung als eine Regelleistung ist eindeutig. Das Ergebnis erscheint auch gerechtfertigt. Denn die Beitragserstattung ist nur für diejenigen Fälle gedacht, in denen das Ziel der Versicherung, nämlich die Erfüllung der Leistungsvoraussetzungen vor Eintritt des Versicherungsfalles, normalerweise nicht erreicht werden kann. Ist aber eine Regelleistung erbracht worden, dann entfällt diese Erwägung.
Für dieses Resultat ist es gleichgültig, daß die Versicherungsträger mit ihren Leistungen nicht nur den Belangen ihrer Versicherten dienen, sondern auch im Interesse der Volksgesundheit eine staatliche Aufgabe wahrnehmen, wobei der Umfang der Leistungen und der Kreis der begünstigten Personen über den Rahmen hinausgehen, der sonst für die Leistungen der Rentenversicherung festgelegt ist. Dennoch will das Gesetz die Tuberkulose-Hilfe nicht als "zusätzliche Leistung" (§§ 1305, 1306 RVO) - zum Unterschied von den Regelleistungen - gewertet wissen. Das gilt keineswegs erst, seitdem mit § 1244 a RVO der Rechtsanspruch auf die Maßnahmen zur Tuberkulosebehandlung ausgesprochen worden ist. Die Tuberkulose-Hilfe der Rentenversicherungsträger stand auch vorher nicht bloß im Dienste des Allgemeinwohls, und der Versicherte war nicht lediglich durch eine Reflexwirkung objektiv-rechtlicher Aufgaben der Versicherungsträger begünstigt worden. Zu diesem Fragenkreis braucht jedoch hier nicht Stellung genommen zu werden. Jedenfalls war die dem Versicherten selbst gewährte Heilbehandlung schon immer eine Regelleistung im Sinne des § 1235 RVO.
Es liegt nahe, von der gleichen Rechtslage auch für die vor dem Inkrafttreten des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) liegenden Sachverhalte auszugehen. Denn die Regelung der Beitragserstattung richtet sich nur nach der am 1. Januar 1957 eingeführten Vorschrift des § 1303 RVO (vgl. BSG 10, 127). Man wird deshalb annehmen können, daß es für die Anwendung dieser Vorschrift gleichgültig ist, ob der von ihr erfaßte Sachverhalt sich vor oder nach dem genannten Stichtag ereignete.
Eine andere Lösung ergibt sich jedoch in der gegenwärtigen Streitsache auch dann nicht, wenn man die vor dem 1. Januar 1957 gewährte Heilbehandlung dem heute geltenden Begriff der Regelleistung nicht unterordnet. Denn die vorher der Klägerin - als Versicherten - gewährte Hilfe war ein Heilverfahren; sie wurde ihr auf Grund der §§ 1310 ff RVO aF bewilligt. Heilverfahren gehörten aber schon nach früherem Recht zu den Regelleistungen (§ 1250 RVO aF). Damit soll freilich nicht gesagt sein, daß die Tuberkulose-Versorgungsleistungen der Rentenversicherung nicht auch über die tatbestandlichen Grenzen einer Regelleistung hinausgingen. Daß der Einsatz von Mitteln und Diensten im Kampf gegen die Tuberkulose zu einem Teil nicht durch § 1250 RVO aF, sondern durch die Ermächtigung des § 1252 RVO aF über weitergehende Maßnahmen der Versicherungsanstalten gedeckt war, schließt im Einzelfalle die Anwendung der Rechtssätze über das Heilverfahren (§§ 1310 ff RVO) nicht aus. Vielmehr wollten die Versicherungsträger in erster Linie ihren gesetzlichen Verpflichtungen aus diesen Vorschriften genügen.
Die Beklagte beruft sich mithin zu Recht auf die der Klägerin erbrachten Versicherungsleistungen. Dem Anspruch der Klägerin auf Erstattung von Beiträgen durfte sie entgegenhalten, die vor dem Abschluß der Heilbehandlungen entrichteten Beiträge stünden für ein Erstattungsbegehren nicht mehr zur Verfügung (§ 1303 Abs. 5 RVO).
Die Revision war infolgedessen mit der auf § 193 Abs. 1 und 4 SGG beruhenden Kostenentscheidung zurückzuweisen.
Fundstellen