Leitsatz (amtlich)
Während des letzten Schuljahres vor der Reifeprüfung kann bei dem Schüler einer Abendoberschule nicht unterstellt werden, daß er bestimmungsgemäß neben seiner Ausbildung wenigstens einer Halbtagsbeschäftigung (vergleiche BSG 1964-07-01 11/1 RA 170/59 = BSGE 21, 185) nachgehen kann.
Normenkette
RVO § 1267 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1957-02-23, § 1262 Abs. 3 S. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 11. November 1960 und (soweit die Klage abgewiesen worden ist) das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 18. Dezember 1959 sowie der Bescheid der Beklagten vom 4. Juni 1958 werden aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger Waisenrente aus der Versicherung seines verstorbenen Vaters auch für die Zeit vom 1. März bis 31. August 1958 zu gewähren.
Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Gründe
Der Kläger, der das 18. Lebensjahr vollendet hatte und Schüler einer Abendoberschule war, beantragte für das letzte Jahr vor der Reifeprüfung (März 1958 bis Februar 1959) die Waisenrente aus der Rentenversicherung seines verstorbenen Vaters (§ 1267 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO -). Die Beklagte lehnte die Rentenbewilligung ab (Bescheid vom 4. Juni 1958): Von Abendoberschülern werde eine Berufsarbeit erwartet und vorausgesetzt; darauf seien die Dauer des Schulunterrichts und die Tageszeit, zu der er stattfinde, sowie die für die häusliche Vorbereitung normalerweise benötigte Zeit ausgerichtet. - Im vorliegenden Fall waren für den Unterricht 17 Wochenstunden angesetzt, und zwar an 4 Wochentagen jeweils von 17.15 Uhr bis 21.30 Uhr. Für die Hausarbeiten waren im ersten Schuljahr 4 bis 5 Wochenstunden und dann steigend 6 bis 7 Wochenstunden vorgesehen. Vor dem Besuch der Abendoberschule hatte der Kläger die mittlere Reife erworben und war Angestellter geworden.
Der Kläger hat unter Berufung auf ein amtsärztliches Zeugnis geltend gemacht, daß er der Doppelbelastung durch Ausbildung und Erwerbstätigkeit gesundheitlich nicht gewachsen sei. Die Erfahrung habe auch gelehrt, daß das Ausbildungsziel nicht innerhalb der vorgesehenen Unterrichts- und Vorbereitungsstunden zu schaffen sei. Der Kläger nahm auch Bezug auf die für Abendoberschulen gegebenen ministeriellen Richtlinien, nach denen eine Erwerbsarbeit während des letzten Schuljahres nicht erwartet wird.
Das Sozialgericht (SG) gab der Klage für das letzte Halbjahr vor der Reifeprüfung (September 1958 bis Februar 1959) statt. Daß die Arbeitskraft eines Abendoberschülers regelmäßig in diesem letzten Abschnitt überwiegend für Lernzwecke - und nicht für eine Erwerbsarbeit - in Anspruch genommen werde, sah der Erstrichter dadurch bestätigt, daß für diese Zeit Stipendien aus öffentlichen Haushaltsmitteln vorgesehen sind. Darüber hinaus hielt das SG das Klagebegehren für unbegründet. Die von dem Kläger eingelegte Berufung wies das Landessozialgericht (LSG) zurück (Urteil des LSG Bremen vom 11. November 1960). Das Berufungsgericht ist mit der Beklagten der Ansicht, daß die Abendoberschulen ihre Schüler zeitlich und kräftemäßig nicht überwiegend beanspruchen. Es glaubte, der schwachen gesundheitlichen Konstitution des Klägers im vorliegenden Zusammenhang keine Beachtung widmen zu dürfen, weil sich die Frage nach der Beanspruchung des Schülers danach beantworte, welche Zeit und Arbeitskraft für die Schule normalerweise aufgewendet werden müßten. Das subjektive Leistungsvermögen des einzelnen sei nicht zu berücksichtigen. Unerheblich sei es ferner, daß der Abendoberschüler im letzten Schuljahr seine Kräfte besonders anspannen müsse. Für den Lebensunterhalt, den der Schüler in diesem Jahr selbst nicht durch Arbeit verdienen könne, habe die Rentenversicherung nicht einzustehen, wie auch der Vater zu einer entsprechenden Unterhaltsleistung nicht verpflichtet gewesen wäre. Der Vater habe seiner Unterhaltspflicht mit dem Abschluß einer, der ersten Berufsausbildung (mittlere Reife, Angestellter) genügt; damit entfalle auch eine Leistungspflicht aus dessen Versicherung.
Das LSG hat die Revision zugelassen. Der Kläger hat das Rechtsmittel eingelegt und beantragt, die Vorentscheidungen, soweit seinem Begehren nicht stattgegeben wurde, aufzuheben und die Beklagte zur Gewährung der Waisenrente für die Zeit von März bis August 1958 zu verurteilen. Er meint, die Auffassung des LSG finde im Gesetz keine Stütze. § 1267 RVO unterscheide nicht zwischen Tage- und Abendschule und schränke den Begriff Schulausbildung auch nicht dahin ein, daß diese die Arbeitskraft und Arbeitszeit des Schülers überwiegend in Anspruch nehmen müsse. Das Berufungsgericht interpretiere unzulässigerweise Einschränkungen in das Gesetz hinein. Im übrigen habe die Schulausbildung tatsächlich den größten Teil des Tages ausgefüllt.
Die Beklagte beantragt die Zurückweisung der Revision.
Die Revision hat Erfolg.
Das Berufungsgericht meint zunächst, die Voraussetzungen, die § 1267 Satz 2 RVO für den Anspruch auf Waisenrente aufstelle, könnten durch den Besuch einer Abendschule nicht erfüllt werden. Vorbedingungen und Lehrpläne der Abendschulen, die Unterrichtszeiten und ihre Dauer seien darauf abgestellt, daß dem Schüler für eine Erwerbsarbeit genügend Zeit und Kraft verbleibe. Es solle gerade Erwachsenen, die sich erst spät berufen fühlen oder denen vielleicht früher wegen der Ungunst der Verhältnisse der Weg zum Abitur versperrt war, die Möglichkeit gegeben werden, neben ihrer Berufsarbeit - nach 3½ jährigem Lehrgang - die Reifeprüfung abzulegen. Dieser Sachverhalt falle nicht unter den Tatbestand, daß sich jemand "in Schul- oder Berufsausbildung befinde". Das sei vielmehr erst anzunehmen, wenn Zeit und Arbeitskraft des Schülers mindestens überwiegend durch die Ausbildung beansprucht würden.
Mit diesem Teil der Urteilsbegründung hält sich das Berufungsgericht an die Richtlinien, die das Reichsversicherungsamt zur Erläuterung des Begriffs Schulausbildung entwickelt und die das Bundessozialgericht (BSG) übernommen (BSG 14, 285), vor allem auch für den Fall des Abendschulbesuchs angewendet hat (vgl. BSG am 31. Oktober 1962 - 12 RJ 328/61; BSG 21, 185; 6. April 1965 - 4 RJ 599/62 -). Die Richtigkeit dieser Richtlinien zu überprüfen, gibt der vorliegende Fall keinen Anlaß.
Indessen geht das Berufungsgericht in seinen Folgerungen über den Rahmen des bisher in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts Festgelegten hinaus, wenn es erklärt, daß das Maß der Beanspruchung durch die Ausbildung ausschließlich nach Durchschnittswerten zu beurteilen sei, und daß es deshalb nicht auf die gesundheitlichen Verhältnisse des Klägers ankomme. Wenn das Berufungsgericht es auf einen mittleren, allgemein erwarteten Zeit- und Kräftebedarf durch die Ausbildung abhebt, so läßt sich seine Auffassung zwar mit dem Gesetz vereinbaren, das den Waisenrentenanspruch nicht von persönlichen Verhältnissen der Waise - wie Gesundheit, Begabung, Wohnverhältnisse, Bedürftigkeit - abhängig macht. Mit der Auffassung des Berufungsgerichts stimmt auch überein, daß das Bundessozialgericht es nicht darauf abgestellt hat, ob und in welchem Umfang der Abendschüler tatsächlich einer Erwerbsarbeit nachgeht. Das Erfordernis der überwiegenden Beanspruchung durch die Ausbildung wird dann als verwirklicht angesehen, wenn auch die Möglichkeit einer Halbtagsarbeit ausscheidet (BSG 21, 185, 189). Wortlaut und Wortsinn des § 1267 Satz 2 RVO ("sich in Schulausbildung befindet") zwingen aber nicht dazu, einem Abendschüler die Rente zu versagen, wenn er infolge seiner gesundheitlichen Verfassung außerstande ist, die Doppelbelastung von Beruf und Ausbildung auf sich zu nehmen und durchzuhalten. Doch braucht die Frage nach der Erheblichkeit dieses Umstandes nicht abschließend beantwortet zu werden, weil schon der gebräuchliche, von dem Berufungsgericht in Übereinstimmung mit der herrschenden Meinung angewendete Maßstab des Durchschnitts nicht auf das letzte Jahr vor der Reifeprüfung zutrifft.
In den für den Besuch von Abendoberschulen gegebenen Richtlinien wird allgemein eine Berufstätigkeit der Schüler vorausgesetzt; davon ist aber das letzte Schuljahr ausgenommen. Es wird in Rechnung gestellt, daß die Abendschüler während dieses Ausbildungsabschnitts regelmäßig ihre Erwerbstätigkeit aufgeben und sich ganz der Examensvorbereitung widmen. Aus diesem Grunde sind denn auch - jedenfalls in Bremen - auf 7 Monate befristete Stipendien aus öffentlichen Haushaltsmitteln vorgesehen. Daß diese Studienbeihilfen sich nicht auf das ganze letzte Jahr erstrecken, mag auf finanzielle Erwägungen zurückzuführen sein. Häufig werden sich die Schüler und ihre Eltern für eine kürzere Zeit mit eigenen Mitteln, sei es aus Einkünften oder sei es aus Ersparnissen, helfen können. Die Unterstützung mit öffentlichen Geldleistungen setzt in der Regel erst ein, wenn die Bereitschaft zum persönlichen Opfer und die Förderungswürdigkeit erwiesen sowie eigene Finanzierungsmöglichkeiten ausgeschöpft sind. Aus der zeitlichen Begrenzung von Stipendien läßt sich nichts über das Maß der schulischen Beanspruchung entnehmen. Die Begrenzung ändert nichts an der auf Erfahrung beruhenden Erkenntnis, daß eine Erwerbsarbeit während des letzten Schuljahres den Ausbildungserfolg in Frage stellen oder die Gesundheit des Schülers gefährden kann. Im Jahr vor der Prüfung steht die Arbeit für die Schule, also die Ausbildung im Vordergrund. Das begründet den Anspruch auf die Waisenrente. Die Leistungsberechtigung des Klägers kann auch nicht, wie es das LSG tut, aus einem den Rechtssätzen des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) über die Unterhaltspflicht der Eltern entnommenen Grunde verneint werden. Der Anspruch gegen die Rentenversicherung auf die Gewährung von Waisenrente sei, so meint das LSG, Ausfluß dieser Unterhaltspflicht. Die Grenzen beider Verpflichtungen deckten sich. Von dem Vater könnte der Kläger eine Unterstützung seiner weiteren Ausbildung nicht mehr verlangen. Denn seine Berufsausbildung sei abgeschlossen; er habe die Fähigkeit zur Erwerbsarbeit bereits vor dem Besuch des Abendgymnasiums besessen und sei in die Lage versetzt worden, sich selbst zu unterhalten. Die weitere Ausbildung, für die eine Notwendigkeit nicht bestehe, gehöre nicht mehr zu seinem Lebensbedarf. Das müsse auch im Verhältnis zur Versichertengemeinschaft gelten.
Es mag auf sich beruhen, ob - mit dem Berufungsgericht - vorliegend der Fall einer zweiten Berufsausbildung nach Beendigung der ersten zu unterstellen ist. Zweifel können deshalb auftreten, weil der Weg, den der Kläger nach Erreichen der mittleren Reife und vorübergehenden Ausübung einer einfacheren Angestelltentätigkeit eingeschlagen hat, die aufbauende Fortsetzung einer zunächst nur abgebrochenen, dann aber wieder aufgenommenen Ausbildung sein könnte.
Mit seiner Rechtsansicht folgt das Berufungsgericht der überkommenen, auch heute noch vertretenen, jedoch nicht unangefochtenen Interpretation des § 1610 Abs. 2 BGB (RGZ 114, 52, 54; Staudinger/Gotthardt, 10./11. Aufl. 1963, Anm. 14 zu § 1610 BGB; Dronsch JZ 1962, 346). Gegen sie wird eingewandt, daß sie den Grundrechten auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 § 1 des Grundgesetzes - GG -) und freie Berufswahl (Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG) nicht gerecht werde; das Anwendungsfeld dieser Verfassungsnormen beschränke sich nicht auf Grundrechtsverbürgungen gegen obrigkeitliche Eingriffe, sondern habe - wenigstens für die Auslegung der bürgerlich-rechtlichen Vorschriften - eine darüber hinausgehende Wirkung. Dies bedeute, daß dem einzelnen die volle Chance seiner beruflichen Entwicklung gewährleistet sein müsse. Das Maß des für Erziehung und Vorbildung zu gewährenden Unterhalts werde bestimmt durch Neigung, Begabung und Willenskraft des Berechtigten und finde seine Schranke lediglich im etwaigen Leistungsunvermögen des Verpflichteten.
Für den vorliegenden Zusammenhang kann dahingestellt bleiben, ob dieser oder der überkommenen Auffassung beizutreten ist. Der Anspruch auf Waisenrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung richtet sich nicht nach den Vorschriften des BGB über den Umfang des Unterhalts. § 1267 Satz 2 RVO verlangt nur, daß sich die Waise in Schul- oder Berufsausbildung befindet. Die Vorschrift beschränkt den Rentenanspruch nicht auf nur eine Ausbildung. Maßgebend wird sein, was sich nach allgemeiner Anschauung im Rahmen vernünftiger Gepflogenheit als Verwirklichung des genannten Tatbestands darstellt. Dazu hat das Bundesverwaltungsgericht in bezug auf eine vergleichbare Vorschrift bereits (in MDR 1965, 160) klargestellt - und der erkennende Senat schließ sich dem an -, daß der Besuch eines Abendgymnasiums oder die Beschreitung des zweiten Bildungswegs nicht als unzweckmäßig oder als außergewöhnlich angesehen werden könne. Hinzu kommt, daß für die Auslegung des § 1267 Satz 2 RVO die allgemein anerkannten sozialpolitischen Vorstellungen und Ziele nicht außer acht bleiben dürfen, gleichgültig, ob diese sich in Programmsätzen der Verfassung niedergeschlagen oder zu einem unmittelbar verbindlichen "Recht auf Bildung" verdichtet haben (vgl. Hans Peters in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte, IV 1, 1960, 399). Der Aufwand für Unterricht und Bildung erscheint zum Wohle des Einzelnen und der Gesamtheit unerläßlich. Dem einzelnen wird die Möglichkeit eröffnet, seine geistigen und körperlichen Anlagen ohne Rücksicht auf Herkunft und wirtschaftliche Lage soweit wie möglich zu entwickeln. Zugleich wird der Wirtschaft gedient, die anders mit der technischen und industriellen Entwicklung nicht Schritt halten kann. Der Rentenversicherungsträger kann deshalb demjenigen die Waisenrente nicht versagen, der vor seinem 25. Lebensjahr ernstlich und ohne Fehleinschätzung seiner Kräfte und Fähigkeiten eine zweite, höherwertige Ausbildung anstrebt.
Das Berufungsurteil, das zu einem anderen Ergebnis gelangte, muß aufgehoben werden. Der festgestellte Sachverhalt erlaubt eine abschließende Entscheidung durch das BSG. Für das hier in Betracht kommende letzte Schuljahr vor der Reifeprüfung kann - in Übereinstimmung mit den Richtlinien des Senators für das Bildungswesen in Bremen - angenommen werden, daß - bei Zugrundelegung eines überindividuellen Häufigkeitsmaßstabs - sowohl die Zeit als auch die Arbeitskraft des Schülers überwiegend dem Lernen zugewandt werden müssen. Damit ist der Tatbestand des § 1267 Satz 2 RVO verwirklicht. An dem Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen besteht kein Zweifel. Dem Kläger steht deshalb die Waisenrente für die streitige Zeit zu. Seiner Klage war stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.
Fundstellen