Leitsatz (amtlich)
AVAVG § 65 Abs 2 ist im Hinblick auf den Beschluß des BVerfG vom 1965-02-16 (BVerfGE 18, 366) nach der zur Zeit bestehenden Gesetzeslage nicht anzuwenden. Die bei ihren Eltern beschäftigten Arbeitnehmer sind daher wie andere Arbeitnehmer versicherungspflichtig in der Arbeitslosenversicherung.
Leitsatz (redaktionell)
Nichtigkeit von AVAVG § 65 Abs 2:
1. Der in dieser Vorschrift genannte Personenkreis hat nicht die Möglichkeit, sich gegen Arbeitslosigkeit freiwillig zu versichern, weil das AVAVG eine solche freiwillige Versicherung nicht kennt.
2. Eine Lücke im Gesetz, die durch die Rechtsprechung ausgefüllt werden kann, liegt nur dann vor, wenn das Gesetz - gemessen an seiner eigenen Absicht und Zweckbestimmung - unvollständig und damit ergänzungsbedürftig ist und seine Ergänzung nicht einer vom Gesetz gewollten Beschränkung auf bestimmte Tatbestände widerspricht.
Normenkette
AVAVG § 65 Abs. 2
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 15. Januar 1964 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Klägerin ist eine Kommanditgesellschaft (KG). Komplementärin ist die GmbH Sanitär K, Kommanditistin Frau Johanna K. Gesellschaft der GmbH sind Herr Georg K und seine Ehefrau Johanna K. Die Beigeladenen Wolfgang und Renate K sind Kinder der Eheleute Georg und Johanna K, sie sind bei der KG beschäftigt.
Im November 1960 beantragte die Klägerin bei der Beklagten, die Versicherungsfreiheit der Kinder in der Arbeitslosenversicherung festzustellen. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 22. November 1960 den Antrag ab. Die Widerspruchsstelle wies den Widerspruch mit Bescheid vom 14. Juni 1961 zurück.
Gegen den Widerspruchsbescheid hat die Klägerin Klage erhoben. Das Sozialgericht (SG) hat die Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (BfArb) beigeladen und mit Urteil vom 26. Januar 1962 die Klage abgewiesen.
Das Landessozialgericht (LSG) hat nach Beiladung der beiden Beschäftigten Wolfgang und Renate K die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, es sei zwar zutreffend, daß das Vermögen der Klägerin letzten Endes allein den Eltern der Beigeladenen gehöre. Denn die Eltern seien die einzigen Gesellschafter der GmbH, diese sei wiederum Komplementärin der Klägerin, während die Mutter der Beigeladenen die Kommanditistin der Klägerin sei. Diese Tatsachen seien jedoch nicht maßgebend, entscheidend sei vielmehr, daß der eine Gesellschafter der Klägerin, der Komplementär, eine juristische Person sei. Auch das Reichsversicherungsamt (RVA) sei schon davon ausgegangen, eine Versicherungsfreiheit könne nur eintreten, wenn die Gesellschafter der Arbeitgeberin natürliche Personen seien; dies sei hier nicht der Fall. Die beigeladenen Kinder leisteten deshalb ihre Arbeit nicht für ihre Eltern, sondern für die Mutter als Kommanditistin und für eine juristische Person, die GmbH, als Komplementärin. Bei einer juristischen Person stehe aber das Kapital im Vordergrund. - Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Klägerin hat gegen das Urteil Revision eingelegt. Sie rügt Verletzung des § 65 Abs. 2 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG): Das Urteil werde den gegebenen Rechtsverhältnissen und dem Sinn dieser Vorschrift nicht gerecht. Das LSG könne sich nicht auf das RVA berufen, denn im Zeitpunkt des Erlasses der maßgebenden Entscheidungen des RVA sei die Konstruktion der "GmbH-KG" noch nicht anerkannt gewesen. Inzwischen sei aber aus haftungsrechtlichen Gründen anerkannt, daß eine Kapital-Gesellschaft die Rechtsstellung eines Komplementärs einer KG einnehmen könne. Der Rechtscharakter des gesellschaftlichen Zusammenschlusses als Personalgesellschaft, nämlich als KG, werde dadurch weder beeinflußt noch seien dagegen Stimmen erhoben worden. Unter Berücksichtigung dieser Wandlung des Rechtsgedankens entspreche es wirtschaftlicher Denkungsart, die Beigeladenen als bei ihren Eltern beschäftigt anzusehen. Lediglich die Haftungsbeschränkung sei kein hinreichender Grund, die Versicherungspflicht der Beigeladenen zu verneinen. Überdies sei Wolfgang K seit 1. Oktober 1963 Kommanditist und Renate K mit Wirkung vom 1. Januar 1964 Kommanditistin geworden.
Die Klägerin beantragt,
die Urteile des LSG Rheinland-Pfalz vom 15. Januar 1964 und des SG Speyer, Zweigstelle Mainz, vom 26. Januar 1962, sowie die Bescheide der Beklagten vom 22. November 1960 und 29. Mai 1961 aufzuheben und festzustellen, daß die Beigeladenen Wolfgang und Renate K nicht verpflichtet sind, Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zu entrichten.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die beigeladene BfArb beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die beigeladenen Wolfgang und Renate K sind im Revisionsverfahren nicht vertreten.
II
Die nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthafte Revision ist form- und fristgerecht eingelegt worden, konnte aber keinen Erfolg haben. Versicherungsfreiheit nach § 65 Abs. 2 AVAVG besteht nicht.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluß vom 16. Februar 1965 (BVerfGE 18, 366) ausgesprochen, der Ausschluß der bei ihren Eltern beschäftigten Arbeitnehmer von der Arbeitslosenversicherung verstoße gegen Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG); § 65 Abs. 2 AVAVG sei daher "insoweit ... nichtig, als er die dort bezeichnete Arbeitnehmergruppe von der Teilhabe an der Arbeitslosenversicherung ausschließt". Zur Begründung hat das Bundesverfassungsgericht u. a. ausgeführt: Das für die Verfassungsmäßigkeit des § 65 Abs. 2 AVAVG angeführte Hauptargument, daß nämlich das Wagnis der Arbeitslosigkeit im Falle der Beschäftigung von - auch erwachsenen - Kindern bei Eltern für eine Versicherung nicht geeignet sei, halte einer Prüfung nicht stand. Die Besonderheiten, die der Beschäftigung von Kindern bei ihren Eltern auch beim Bestehen eines echten Arbeitsvertrags eigen seien, wären nicht so schwerwiegend, daß sie aus Erwägungen der Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit den Anschluß dieser Arbeitnehmergruppe von der den sonstigen Arbeitnehmern gewährten Teilhabe an der Arbeitslosenversicherung rechtfertigten. Eine solche starre, keine Ausnahme duldende Regelung wirke um so härter, als sie weder das Alter noch den Familienstand der betroffenen Arbeitnehmer berücksichtige und weiterhin - anders als in sonstigen Zweigen der Sozialversicherung - die Möglichkeit fehle, daß der Arbeitnehmer durch den Abschluß einer privaten Versicherung gegen die Folgen der Arbeitslosigkeit Vorsorge treffe. Umgekehrt gebiete die Verfassung aber nicht, die bezeichnete Arbeitnehmergruppe dem Zwang der Zugehörigkeit zur Arbeitslosenversicherung in jedem Falle zu unterwerfen. Es sei allerdings nicht zu verkennen, daß das Arbeitsverhältnis von Kindern bei ihren Eltern von der persönlichen Bindung beeinflußt sei. Könne diese Besonderheit auch nicht den völligen Ausschluß von der Teilhabe an der Arbeitslosenversicherung rechtfertigen, so sei sie doch geeignet, eine elastische Sonderregelung zu begründen, die auch den Angehörigen dieser Arbeitnehmergruppe die Teilhabe an der Arbeitslosenversicherung ermögliche. Ob der Gesetzgeber eine solche Sonderregelung treffe oder ob er, um ein Überwiegen der schlechten Risiken zu vermeiden, zu der bis 1956 geltenden ausnahmslosen Versicherungspflicht dieser Arbeitnehmergruppe zurückkehre, werde er zu entscheiden haben. Daher sei die Vorschrift des § 65 Abs. 2 AVAVG nicht in vollem Umfange für grundgesetzwidrig und nichtig zu erklären, sondern nur, soweit die darin bezeichnete Arbeitnehmergruppe von der Teilhabe an der Arbeitslosenversicherung schlechthin ausgeschlossen sei.
Ein solcher vollständiger Ausschluß der bei ihren Eltern (Voreltern, Schwieger-, Stief- und Pflegeeltern) beschäftigten Kinder von dem Schutz der Arbeitslosenversicherung ist aber nach den Vorschriften des AVAVG gegeben, weil die Kinder sich nach geltendem Recht auch nicht freiwillig gegen Arbeitslosigkeit versichern können. Der Senat hat geprüft, ob es vielleicht rechtens wäre, im Wege der Ausfüllung einer Gesetzeslücke zu entscheiden, daß schon nach geltendem Recht eine Versicherungsberechtigung in der Arbeitslosenversicherung besteht, wie sie das Bundesverfassungsgericht offenbar als eine mögliche, dem Grundgesetz entsprechende gesetzliche Regelung ansieht. Eine Lücke im Gesetz liegt jedoch nur da vor, wo es - "gemessen an seiner eigenen Absicht und Teleologie" - unvollständig und damit ergänzungsbedürftig ist und wo seine Ergänzung nicht etwa einer vom Gesetz gewollten Beschränkung auf bestimmte Tatbestände widerspricht; es muß sich dabei um eine dem Plan des Gesetzgebers widersprechende, also eine "planwidrige Unvollständigkeit" handeln (Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 286). Von den mancherlei Arten von Lücken im Gesetz käme hier nur der Fall in Betracht, daß das Gesetz - im Hinblick auf die Verfassungswidrigkeit des § 65 Abs. 2 AVAVG - einen bestimmten Tatbestand nicht erfaßt hätte, wobei das Schweigen des Gesetzes auf einem Versehen oder darauf beruhen könnte, daß der nicht geregelte Tatbestand sich erst nach dem Erlaß des Gesetzes durch eine Veränderung der Verhältnisse oder auch durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ergeben hat (vgl. BSG 23, 283, 287). Diese Voraussetzungen liegen aber hier nicht vor. Die Arbeitslosenversicherung hat seit ihrem Bestehen nur eine Pflichtversicherung, und - außer der durch § 16 der Zweiten Lohnabzugs-Verordnung vom 24. April 1942 (RGBl I 252) wieder aufgehobenen Möglichkeit einer Weiterversicherung für Angestellte, die wegen Überschreitung der Jahresarbeitsverdienstgrenze aus der Versicherungspflicht ausgeschieden waren (§ 86 AVAVG) - niemals eine freiwillige Versicherung gekannt. Dieser Ausschluß einer freiwilligen Versicherung - anders als in anderen Zweigen der Sozialversicherung - beruht offenbar auf der berechtigten Erwägung, daß bei der starken Abhängigkeit des Eintritts der Arbeitslosigkeit von subjektiven Momenten eine freiwillige Versicherung zu einer unkontrollierbaren, leicht mißbräuchlichen Inanspruchnahme von Versicherungsleistungen führen könnte. Es muß also davon ausgegangen werden, daß der Gesetzgeber in der Arbeitslosenversicherung eine freiwillige Versicherung bewußt ausgeschlossen hat. Es würde daher der "Absicht des Gesetzgebers" widersprechen, im Wege der sogenannten Lückenfüllung durch Richterrecht eine freiwillige Versicherung gegen Arbeitslosigkeit zu ermöglichen, - ganz abgesehen davon, daß es auch an gesetzlichen Vorschriften über die Durchführung einer solchen freiwilligen Versicherung fehlt. Solange daher der Gesetzgeber nicht eine freiwillige Versicherung gegen Arbeitslosigkeit eingeführt hat, sind die Voraussetzungen, unter denen das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit des § 65 Abs. 2 AVAVG nach der genannten Entscheidung bejahen würde - kein völliger Ausschluß der bei ihren Eltern beschäftigten Kinder von der Arbeitslosenversicherung - nicht erfüllt. § 65 Abs. 2 AVAVG ist somit nach geltendem Recht nichtig.
Diese Nichtigkeit des § 65 Abs. 2 AVAVG hat zur Folge, daß die Beigeladenen Wolfgang K und Renate K nach § 56 AVAVG arbeitslosenversicherungspflichtig sind, weil keine andere Befreiungsvorschrift der §§ 57 ff AVAVG auf sie zutrifft. Der Umstand, daß die Beigeladenen, wie die Klägerin im Revisionsverfahren behauptet, inzwischen Kommanditisten geworden sind, konnte im Revisionsverfahren nicht berücksichtigt werden, da es sich um neues tatsächliches Vorbringen handelt, auf das das Revisionsgericht nicht eingehen darf (§ 163 SGG).
Die Revision muß daher zurückgewiesen werden, ohne daß zu prüfen gewesen wäre, ob bei Gültigkeit des § 65 Abs. 2 AVAVG die Voraussetzungen dieser Vorschrift trotz der Rechtsnatur der Arbeitgeberin als einer juristischen Person hätten als erfüllt angesehen werden können.
Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 2387417 |
BSGE, 150 |
NJW 1967, 415 |
MDR 1967, 339 |