Entscheidungsstichwort (Thema)

Verletztenrente. Jahresarbeitsverdienst. ausländischer Verdienst. Sitzungsprotokoll. freie Beweiswürdigung

 

Orientierungssatz

1. Bei der Berechnung einer Verletztenrente sind bei der Ermittlung des Jahresarbeitsverdienstes ausländische Verdienste zu berücksichtigen, und zwar nach der Verbrauchergeldparität.

2. Eine Verletzung von SGG § 128 liegt nicht vor, wenn das Gericht bei der Bewertung einer MdE den wohlabgewogenen Ausführungen eines medizinischen Sachverständigen folgt, soweit diesem kein Verstoß gegen Denkgesetze nachzuweisen ist.

3. Ein Verstoß gegen die nach SGG § 122 Abs 2 zu beachtenden Förmlichkeiten liegt nicht vor, wenn die zur Niederschrift genommene Aussage eines medizinischen Sachverständigen im Beisein der Beteiligten verlesen worden ist und der Sachverständige seine Ausführungen auch genehmigt hat.

 

Normenkette

SGG §§ 128, 122 Abs. 2; RVO § 571 Abs. 1 S. 3

 

Verfahrensgang

LSG Hamburg (Entscheidung vom 15.07.1971)

SG Hamburg (Entscheidung vom 16.02.1970)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 15. Juli 1971 insoweit aufgehoben, als es die Beklagte zur Gewährung einer Rente nach einem Jahresarbeitsverdienst von 12.506,64 DM verurteilt hat. Die Beklagte wird unter Abänderung ihrer Bescheide vom 20. Dezember 1968 und 13. November 1970 verurteilt, den der Berechnung der Rente zugrunde zu legenden Jahresarbeitsverdienst unter Beachtung der Rechtsauffassung des erkennenden Senats gemäß § 577 Reichsversicherungsordnung neu festzusetzen.

Im übrigen wird die Revision der Beklagten zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen sämtlicher Rechtszüge zur Hälfte zu erstatten.

 

Gründe

I

Der Kläger - ein tunesischer Gastarbeiter -, der am 13. Juni 1966 in die Bundesrepublik Deutschland (BRD) eingereist war und seit dem 20. Juni 1966 in Hamburg als Montagehelfer bei der B. Faßgesellschaft mbH arbeitete, erlitt am 14. Februar 1967 - also nach fast achtmonatiger Beschäftigung - einen Arbeitsunfall. In der Zeit vom 20. Juni 1966 bis 13. Februar 1967 - dem Tage vor dem Arbeitsunfall - verdiente der Kläger insgesamt 7.902,22 DM. Vor seiner Einreise in die BRD war er zuletzt in Tunesien bei einem Notar als Schreibmaschinenkraft gegen monatlich 40 tunesische Dinare (tD) beschäftigt (umgerechnet ca. 308,80 DM monatlich).

Wegen der Unfallfolgen gewährte ihm die Beklagte eine vorläufige Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 20 v.H.; für die Zeit ab 1. Oktober 1968 lehnte sie die Zahlung einer Rente ab (Bescheid vom 20. Dezember 1968).

Der Rentenberechnung liegt ein Jahresarbeitsverdienst (JAV) von 9.782,89 DM zugrunde; er setzt sich zusammen aus dem in Deutschland erzielten Verdienst (7.902,22 DM) und dem nach Arbeitstagen in Ansatz gebrachten Ortslohn für die Zeit vom 14. Februar 1966 bis 19. Juni 1966 (für 4 4/30 Monate bei einem Ortslohn von 18,20 DM = 1.880,67 DM). Für diese Zeit legte die Beklagte den Ortslohn zugrunde, weil er höher war als der in DM umgerechnete Verdienst in Tunesien.

Seine verspätet erhobene, auf Weitergewährung der Rente als Dauerrente unter Berücksichtigung eines höheren JAV gerichtete Klage hat das Sozialgericht (SG) Hamburg durch Urteil vom 16. Februar 1970 abgewiesen, nachdem es dem Kläger gegen die Versäumung der Klagfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt hat. Nach seiner Ansicht beeinträchtigten die Unfallfolgen den Kläger über den 30. September 1968 hinaus nicht in einem rentenberechtigenden Grad. Mangels durchgeführten Widerspruchsverfahrens sei das Gericht zur Überprüfung des JAV nach § 577 der Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht befugt.

Nach Durchführung des Widerspruchsverfahrens während des anhängigen Berufungsverfahrens auf eine entsprechende Rüge des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) Hamburg das Urteil des SG vom 16. Februar 1970 sowie den abschlägigen Widerspruchsbescheid vom 13. November 1970 aufgehoben und die Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 20. Dezember 1968 verurteilt, dem Kläger bis zum 28. Februar 1969 eine Teilrente in Höhe von 20 v.H. der Vollrente nach einem JAV von 12.506,64 DM zu gewähren. Es hat im wesentlichen ausgeführt: Die Berufung sei nicht nach § 145 Nr. 2 oder 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ausgeschlossen, weil die Weitergewährung der Rente als Dauerrente im Streit sei.

Dem Kläger stehe über den 30. September 1968 hinaus bis zum 28. Februar 1969 die Unfallrente wegen einer MdE um 20 v.H. zu. Insoweit folge das Gericht den Ausführungen des - in der mündlichen Verhandlung gehörten - medizinischen Sachverständigen Dr. S.

Die Berechnung des JAV sei fehlerhaft. Unter Berücksichtigung des im deutschen Sozialversicherungsrecht geltenden Territorialitätsprinzips seien als Arbeitseinkommen i.S. des § 571 RVO nur solche Einkünfte anzusehen, die aus Beschäftigungen innerhalb des Geltungsbereichs der RVO stammen. Deshalb sei auch eine im Ausland ausgeübte abhängige Beschäftigung keine Tätigkeit i.S. des § 571 Abs. 1 Satz 3 RVO.

Für die Auffassung des Gerichts spreche auch der - allerdings hier nicht einschlägige - Art. 42 des deutsch-spanischen Sozialversicherungsabkommens vom 29. Oktober 1959. Diese Vorschrift lasse jedoch das Bestreben erkennen, ausländische Arbeitnehmer in das deutsche System der sozialen Sicherheit einzugliedern, und bestimme inhaltlich deshalb auch die Berechnung des JAV ausschließlich nach den durchschnittlichen in Deutschland erzielten Entgelten. Maßgeblich sei für die Berechnung somit § 571 Abs. 1 Satz 3 RVO mit der Folge, daß - von den deutschen Verdiensten ausgehend - der JAV sich auf insgesamt 12.506,64 DM stelle. Das vom erkennenden Gericht gefundene Ergebnis sei nicht in erheblichem Maße unbillig, so daß § 577 RVO nicht anzuwenden sei.

Mit ihrer - vom LSG zugelassenen - Revision rügt die Beklagte die Verletzung der §§ 128, 122 SGG und des § 571 Abs. 1 Satz 3 RVO:

Es sei denkgesetzlich nicht möglich, daß der in der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht am 15. Juli 1971 gehörte Sachverständige ohne Anwesenheit des Klägers und ohne neue Befunde die einleuchtenden Feststellungen des SG zur MdE für eine um zwei Jahre zurückliegende Zeit widerlege, zumal neuere Befunde seit dem 31. Oktober 1968 nicht mehr vorgelegen hätten. Die Niederschrift über die Vernehmung des Sachverständigen lasse nicht erkennen, ob sie allen Beteiligten vorgelesen worden sei. Im Hinblick auf BSG in SozR Nr. 4 zu § 122 SGG leide das Verfahren deshalb an einem wesentlichen Mangel.

Das LSG sei unzutreffend davon ausgegangen, daß der JAV nach § 571 Abs. 1 Satz 3 RVO zu berechnen sei. Dies folge nicht aus dem Territorialitätsprinzip, das - anders als in der gesetzlichen Rentenversicherung - nur Bedeutung für die Frage habe, ob ein Arbeitnehmer dem Schutz der deutschen gesetzlichen Unfallversicherung unterstehe. Das Auslandseinkommen habe nach den deutschen Vorschriften berücksichtigt werden müssen. Im Rahmen ihres pflichtgemäßen Ermessens (§ 577 RVO) habe sie bereits anstelle des niedrigeren tunesischen Verdienstes den höheren Ortslohn berücksichtigt.

Die Beklagte beantragt sinngemäß,

das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 15. Juli 1971 aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts zurückzuweisen,

hilfsweise,

den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Der Kläger, dessen Aufenthalt nicht bekannt ist, hat keinen Antrag gestellt und nichts vorgetragen.

II

Die form- und fristgerecht eingelegte und begründete, durch Zulassung statthafte Revision ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164, 166 SGG). Sie ist auch teilweise - hinsichtlich der JAV-Berechnung - begründet.

Soweit das LSG die Berufung nicht als unzulässig nach § 145 Nr. 2 oder 3 SGG angesehen hat, begegnet dies keinen Bedenken. Die Berufung ist nach § 145 Ziff. 2 SGG dann nicht zulässig, wenn nur noch Beginn oder Ende der Rente streitig ist (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd. I, S. 250 i; Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, Anm. 3 b, c zu § 145 SGG). Hier ist jedoch die Weitergewährung der Rente im Streit gewesen. Auch der Berufungsausschluß nach § 145 Ziff. 3 SGG greift nicht ein, weil die Versagung der Rente ab 1. Oktober 1968, die im angefochtenen Bescheid gleichzeitig ausgesprochen worden ist, zugleich die (negative) Feststellung enthält, eine Dauerrente sei nicht zu gewähren. Somit ist die Berufung zulässig (vgl. AN 1914, 757, 758; Peters/Sautter/Wolff, Anm. 4 a zu § 145 SGG).

Die Verfahrensrügen greifen nicht durch. Eine Verletzung des § 128 SGG liegt nicht darin, daß das Gericht hinsichtlich der Bewertung der MdE dem in der mündlichen Verhandlung gehörten medizinischen Sachverständigen gefolgt ist. Entgegen der Ansicht der Revision ist es denkgesetzlich durchaus möglich, anhand der alten Befunde zu anderen Ergebnissen zu kommen. Das LSG hat sich den wohl abgewogenen Ausführungen des Sachverständigen, der betonte, daß noch am 8. August 1968 ein nochmaliger operativer Eingriff vorgenommen worden sei, und den auch die Revision für einen erfahrenen Sachverständigen hält (vgl. S. 2 der Revisionsbegründung - Bl. 23 d.A. am Ende), anschließen dürfen, ohne sein Recht der Beweiswürdigung (§ 128 SGG) zu überschreiten. Auch ein Verfahrensverstoß gegen die nach § 122 Abs. 2 SGG zu beachtenden Förmlichkeiten ist nicht mit Erfolg gerügt. Aus der Sitzungsniederschrift (Bl, 86 Rs der vorinstanzlichen Akten) kann nicht der Schluß gezogen werden, die Aussage des Sachverständigen sei den Beteiligten nicht vorgelesen worden. Die zur Niederschrift genommene Aussage ist nach dem Sitzungsprotokoll im Beisein der Beteiligten verlesen worden; der Sachverständige hat seine Ausführungen auch genehmigt. Daß die Niederschrift insoweit von den Beteiligten auch hätte genehmigt werden müssen, hat die Revision nicht gerügt. Deshalb kann dahinstehen, ob eine solche Rüge in der Revisionsinstanz noch hätte vorgebracht werden können (verneinend; Urteil des Bundessozialgerichts -BSG- vom 12. Oktober 1973 - 2 RU 164/72).

In der Sache selbst ist die Entscheidung des LSG nicht zutreffend. Der JAV ist unter Berücksichtigung der ausländischen Verdienste zu berechnen, und zwar nach der Verbrauchergeldparität (deutsches Schema). Sie beträgt für 1 tD - 8,17 DM für das Jahr 1966 (vgl. Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland, 1971, Internationale Übersichten S. 110*). Bei einem tunesischen Verdienst von 40 tD je Monat ergeben sich 326,80 DM monatlich. Mithin liegt dieser Betrag unter dem von der Beklagten bereits abgerechneten Ortslohn von 455,-- DM monatlich (18,20 DM x 25). Andererseits ist der Kläger weniger als 9 Monate vor dem Arbeitsunfall in der BRD tätig gewesen.

Demgemäß hat die Beklagte nach den Grundsätzen, die der erkennende Senat in dem heute gefällten, zur Veröffentlichung bestimmten Urteil in der Sache 8/2 RU 42/69 ausgesprochen hat und auf dessen Inhalt im einzelnen verwiesen wird (siehe Anlage), im Rahmen ihres Ermessens, aber unter Beachtung der Rechtsauffassung des erkennenden Senats, zu überprüfen, ob der dem Kläger nach § 577 RVO bereits zugebilligte JAV auch unter Berücksichtigung seiner Fähigkeiten, seiner Ausbildung und Lebensstellung - er war in Tunesien bei einem Notar mit Schreibarbeiten beschäftigt - angemessen ist. Dabei wird sie auch überprüfen können, ob für die Zeit vom 14. Februar bis 19. Juni 1966 ggf. 4 4/30 oder 4 5/30 Monate anzusetzen sind.

Im übrigen, d.h. hinsichtlich der Verurteilung zur Gewährung einer Teilrente bis zum 28. Februar 1969, war die Revision zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1648799

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