Entscheidungsstichwort (Thema)
Verletztenrente. Jahresarbeitsverdienst. Auslandseinkommen. Sachaufklärungspflicht
Orientierungssatz
Das Gericht verletzt seine Sachaufklärungspflicht, wenn es bei der Feststellung der Voraussetzungen des RVO § 577 S 1 keine näheren Ermittlungen über die ausländischen Verdienste eines Klägers anstellt.
Normenkette
RVO § 571 Abs. 1 S. 2, § 577 S. 1; SGG § 103
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Entscheidung vom 21.06.1972) |
SG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 17.09.1971) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 21. Juni 1972 aufgehoben.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt vom 17. September 1971 wird als unzulässig verworfen, soweit sie die vorläufige Rente betrifft. Im übrigen wird der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Der in Jugoslawien beheimatete Kläger erlitt als Gastarbeiter am 29. Oktober 1968 - nach einer fünftägigen Beschäftigung in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) - einen Arbeitsunfall. Während der Zeit seiner Beschäftigung als Einschaler vom 22. bis 28. Oktober 1968 verdiente er 340,30 DM. Dies entspricht, wie das Landessozialgericht (LSG) festgestellt hat, einem monatlichen Verdienst von 1.701,- DM.
Vor seiner Einreise in die BRD war der Kläger zuletzt von April bis Oktober 1968 in Z bei einer Brauerei beschäftigt und verdiente dort durchschnittlich im Monat umgerechnet ca. 462.50 DM.
Die Beklagte gewährte dem Kläger mit Bescheid vom 25. August 1969 eine vorläufige Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 40 v. H. Der Rentenberechnung legte sie einen Jahresarbeitsverdienst (JAV) von 5.296,30 DM zugrunde; er setzt sich zusammen aus dem an fünf Arbeitstagen erzielten Arbeitsverdienst (340,30 DM) und dem 295-fachen des Ortslohns (täglich 16,80 DM = monatlich 420,- DM = 25-faches des Ortslohns).
Durch Urteil vom 17. September 1971 hat das Sozialgericht (SG) Frankfurt (Main) die Klage abgewiesen, mit der der Kläger - dem Sinne nach - eine höhere Bewertung seiner MdE und eine günstigere Berechnung des JAV begehrt hat.
Auf die Berufung des Klägers hat das LSG das Urteil des SG und den Bescheid der Beklagten abgeändert und diese verurteilt, dem Kläger eine höhere Unfallrente unter Zugrundelegung einer JAV-Berechnung gemäß § 577 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zu gewähren. Im übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen (Urteil des LSG vom 21. Juni 1972). Das LSG hielt die Feststellung des JAV nach billigem Ermessen für geboten, weil der nach den §§ 571 bis 576 RVO berechnete JAV "in erheblichem Maße unbillig" sei. In erheblichem Maße unbillig (§ 577 Satz 1 RVO) sei der berechnete JAV deshalb, weil durch ihn der soziale und wirtschaftliche Aufstieg, den der Kläger durch Aufnahme einer Beschäftigung in Deutschland erreicht habe, nicht berücksichtigt werde. Die überwiegende Berücksichtigung der niedrigen Auslandsverdienste wirke sich in erheblichem Maße unbillig aus, weil der JAV dadurch im Ergebnis auf einem Monatsverdienst von 441,- DM beruhe, obwohl der in Deutschland erzielte Verdienst sich monatlich auf 1.701,- DM belaufen hätte. Um die berufliche Position des Klägers in der BRD angemessen zu berücksichtigen, sei auf § 577 RVO zurückzugreifen. Dies ergebe sich dem Inhalt nach auch aus der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - (BSG 12, 109; 28, 274). Eine höhere MdE sei hingegen durch den Unfall nicht bedingt.
Die Beklagte rügt mit der zugelassenen Revision die Verletzung des § 577 RVO. Es sei nicht in erheblichem Maße unbillig, wenn bei einer nur fünf Tage dauernden Beschäftigung eines Gastarbeiters in der BRD die Berechnung des JAV - wie im Bescheid geschehen - vorgenommen werde, zumal der Aufenthalt eines Gastarbeiters in Deutschland ohnehin zeitlich begrenzt sei.
Die Beklagte beantragt sinngemäß,
die angefochtene Entscheidung zu ändern und die Berufung gegen das Urteil des SG Frankfurt (Main) vom 17. September 1971 auch insoweit zurückzuweisen, als sie sich gegen die Berechnung des Jahresarbeitsverdienstes richtet,
hilfsweise,
den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten zu verwerfen.
Es hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Seine zunächst eingelegte Revision hat er zurückgenommen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -.
II
Die Revision ist begründet.
Die Beklagte hat durch Bescheid vom 25. August 1969 die Verletztenrente als vorläufige Rente festgestellt. Deren Höhe ist in den Vorinstanzen sowohl hinsichtlich des Grades der MdE als auch des JAV streitig gewesen. Da die Beklagte keinen Bescheid über die erste Feststellung der Dauerrente erlassen hat (§ 1585 Abs. 2 RVO), ist die vorläufige Rente mit Ablauf von 2 Jahren nach dem Unfall automatisch zur Dauerrente geworden (§ 622 Abs. 2 Satz 1 RVO). Dies ist, da der Arbeitsunfall sich am 29. Oktober 1968 ereignet hat, mit Wirkung vom 30. Oktober 1970 an geschehen (§ 124 Abs. 1 RVO; BSG 32, 215; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., Anm. 4 a zu § 622 RVO). In den beiden Rechtszügen ist somit, da das Verfahren erster Instanz erst durch das Urteil vom 17. September 1971 abgeschlossen worden ist, sowohl die vorläufige als auch die Dauerrente streitig gewesen. Bei den Ansprüchen auf die vorläufige und auf die Dauerrente handelt es sich um selbständige prozessuale Ansprüche, so daß die Zulässigkeit der Berufung für jeden dieser Ansprüche gesondert zu prüfen ist (BSG in SozR Nr. 48 zu § 150 SGG; BSG 7, 35; 8, 228, 231; Breithaupt 1970, 893 mit Nachweisen). Da es sich in der vorliegenden Sache um eine zugelassene Revision handelt, hat diese - vom LSG unterlassene - Prüfung durch das Revisionsgericht zu erfolgen (BSG 2, 225, 226; 2, 245, 246; 3, 124, 126; 15, 65, 67). Sie ergibt, daß die Berufung nach § 145 Nr. 3 SGG ausgeschlossen ist, soweit mit ihr eine höhere vorläufige Rente begehrt worden ist, ungeachtet dessen, daß Streitpunkte nicht nur der Grad der MdE, sondern auch der JAV gewesen sind (vgl. SozR Nr. 8 zu § 145 SGG); die Voraussetzungen des § 150 Nr. 2 und 3 SGG sind nicht gegeben. Hinsichtlich der Dauerrente war die Berufung hingegen, obwohl sie dieselben Streitpunkte betraf, nicht nach § 145 Nr. 4 SGG ausgeschlossen (BSG 5, 222; Breithaupt 1970, 893; SozR Nr. 5 zu § 145 SGG). Das LSG hätte sonach, soweit in der Berufung der Streit um die Höhe der vorläufigen Rente geführt worden ist, nicht in der Sache entscheiden dürfen, sondern die Berufung als unzulässig verwerfen müssen.
In der Revisionsinstanz ist, nachdem der Kläger sein Rechtsmittel zurückgenommen hat, somit nur noch streitig, ob die Beklagte bei der ersten Feststellung der Dauerrente den JAV richtig festgesetzt hat. Der gegenteiligen Auffassung des Berufungsgerichts, der von der Beklagten festgestellte JAV sei in erheblichem Maße unbillig im Sinne von § 577 Satz 1 RVO, stehen im Hinblick darauf, daß der Kläger vor seinem Arbeitsunfall lediglich 5 Tage in der BRD erwerbstätig gewesen ist, jedoch die Grundsätze entgegen, die der erkennende Senat u. a. in dem heute in der Sache 8/2 RU 42/69 gefällten Urteil, das zur Veröffentlichung bestimmt ist, und auf das wegen der Einzelheiten verwiesen wird (siehe Anlage), aufgestellt hat (s. ferner BSG 32, 169, 173, wo zutreffend betont worden ist, daß "kurzzeitige Einkommenslagen für den JAV nicht bestimmend" sein können).
Unabhängig davon setzt die Anwendung des § 577 RVO voraus, daß der nach den §§ 571-576 RVO "berechnete" JAV in erheblichem Maße unbillig ist. Eine vollständige Berechnung nach der Grundvorschrift des § 571 RVO hat die Beklagte indessen nicht vorgenommen. Sie hat bei der Anwendung dieser Vorschrift lediglich die Beschäftigungszeit in der Bundesrepublik berücksichtigt und für die übrige Zeit des Jahres vor dem Arbeitsunfall das 295-fache des Ortslohns zugrunde gelegt. Nach dem Tatbestand des angefochtenen Urteils ist der Kläger indessen in seiner Heimat von April bis Oktober 1968 in einer Brauerei beschäftigt gewesen. Den durch diese Tätigkeit erzielten monatlichen Durchschnittsbruttoverdienst von 1657 Dinaren hat das LSG einem Wert von etwa 462,50 DM gleichgesetzt. Es ist nicht ersichtlich, wie es zu diesem umgerechneten Wert gekommen ist. Auf die Ausführungen des erkennenden Senats im o. a. Urteil zur Umrechnung von Entgelten in ausländischer Währung für Beschäftigungszeiten außerhalb der Bundesrepublik - sofern möglich nach der Verbrauchergeldparität (deutsches Schema) -, die nach § 571 Abs. 1 RVO bei der Berechnung des JAV zu berücksichtigen sind, wird verwiesen. Es erscheint nicht ausgeschlossen, daß das vom Kläger in der Zeit vom April bis Oktober 1968 erzielte Arbeitseinkommen höher ist als der auf den Monat umgerechnete Betrag des Ortslohns nach dem gemäß § 575 Abs. 1 RVO hilfsweise zugrunde zu legenden Mindest-JAV. Ermittlungen darüber, ob der Kläger darüber hinaus im letzten Jahr vor seinem Arbeitsunfall in seiner Heimat erwerbstätig und wie hoch die Entlohnung gewesen ist, sind bisher nicht angestellt worden. Von deren Ergebnis hängt es jedoch unter Umständen ab, inwiefern Ausfallzeiten nach § 571 Abs. 1 Satz 2 RVO zu berücksichtigen sind und welches Arbeitseinkommen insoweit anzusetzen ist (s. dazu Podzun, Der Unfallsachbearbeiter, 3. Aufl., Kennzahl 440 S. 3 ff).
Da insoweit tatsächliche Feststellungen des Berufungsgerichts fehlen, war unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen, soweit die Dauerrente streitig ist (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Hinsichtlich der vorläufigen Rente ist die Sache hingegen entscheidungsreif. Die insoweit nach § 145 Nr. 3 SGG ausgeschlossene Berufung des Klägers war als unzulässig zu verwerfen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem Urteil des Berufungsgerichts vorbehalten.
Fundstellen