Leitsatz (redaktionell)
Die Pflegezulage ist auch dann nach BVG § 62 Abs 1 neu festzustellen, wenn die schädigungsbedingten Gesundheitsstörungen und die auf ihnen beruhende MdE zwar unverändert geblieben sind, die Schädigungsfolgen aber im Zusammenwirken mit veränderten schädigungsunabhängigen Gesundheitsstörungen noch annähernd gleichwertig die gesteigerte Hilflosigkeit verursachen.
Normenkette
BVG § 62 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1966-12-28, § 35 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1966-12-28
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 31. Juli 1975 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Gründe
Die Klägerin ist die - inzwischen wiederverheiratete - Witwe und Alleinerbin des am 2. August 1896 geborenen und am 15. November 1971 verstorbenen Schwerbeschädigten Heinrich M (M.). Dieser bezog aufgrund des Erstanerkennungsbescheides nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) vom 26. November 1953 die Rente eines Erwerbsunfähigen und die einfache Pflegezulage (später: Stufe I). Als Schädigungsfolgen waren anerkannt: 1. Versteifung des rechten Hüft- und Kniegelenks in Streckstellung, des rechten Fußgelenks in Mittelstellung; 2. Verkürzung des rechten Beines um 5 cm. Die 1955 und 1956 gestellten Anträge auf Gewährung einer höheren Pflegezulage wurden nach Einholung fachärztlicher Gutachten abgelehnt (Bescheid vom 15. März 1957).
Im August 1969 beantragte M., ihm wegen einer erheblichen Leidensverschlimmerung - er könne selbst mit Krücken kaum noch gehen - Pflegezulage nach Stufe III und Schwerstbeschädigtenzulage zu gewähren. Der Versorgungsarzt Dr. K konnte eine wesentliche Änderung der anerkannten Schädigungsfolgen nicht feststellen. Das Versorgungsamt (VersorgA) lehnte darauf durch Bescheid vom 4. Dezember 1969 den Antrag des M. ab. Im Widerspruchsverfahren beantragte dieser die Anerkennung weiterer Schädigungsfolgen. Die Versorgungsverwaltung holte daraufhin ein Gutachten von Prof. Dr. B/Oberarzt Dr. E ein; diese schlugen die Anerkennung weiterer Schädigungsfolgen und die Gewährung einer höheren Pflegezulage vor. Der Versorgungsarzt Dr. H hielt eine Pflegezulage nach Stufe II für angemessen. Das entsprechende Angebot des VersorgA vom 16. März 1971 lehnte M. ab. Der behandelnde Arzt Dr. D bescheinigte am 9. Oktober 1971 einen deutlichen Körperzerfall mit ungünstiger Prognose. Seit dem 8. November 1971 befand sich M. in einer Fachklinik; er verstarb dort am 15. November 1971.
Mit Bescheid vom 4. Februar 1972 wurde der Versorgungsanspruch des M. für die Zeit ab 1. Januar 1971 neu festgestellt; es verblieb bei einer Pflegezulage nach Stufe I. Im erneut eingeleiteten Widerspruchsverfahren erklärten die Versorgungsärzte Dr. A und Dr. H, die anerkannten Schädigungsfolgen bedingten keine höhere Pflegezulage als nach Stufe II. Das Landesversorgungsamt erkannte darauf mit Widerspruchsbescheid vom 11. April 1972 weitere Schädigungsfolgen an und gewährte ab August 1969 (Antragsmonat) bis zum Tode des M. eine Pflegezulage nach Stufe II; im übrigen wurde dem Widerspruch nicht stattgegeben.
Das Sozialgericht (SG) zog mehrere Arzt- und Krankenhausberichte sowie das Sektionsprotokoll bei und holte ein Ergänzungsgutachten von Prof. Dr. B/Dr. E ein. Diese stimmten der Auffassung von Dr. H zu; sie hielten eine Pflegezulage nach Stufe II für angemessen. Der Versorgungsarzt Dr. H äußerte in einer Stellungnahme, die weitere Zunahme der Durchblutungsstörungen sei schädigungsunabhängig erfolgt. Das SG wies darauf die Klage auf Gewährung einer Pflegezulage nach Stufe III ab (Urteil vom 30. Januar 1974). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Klägerin durch Urteil vom 31. Juli 1975 zurückgewiesen; es hat die Revision zugelassen. In den Gründen wird ausgeführt, eine schädigungsbedingte wesentliche Änderung des Gesundheitszustandes des M. sei zu bejahen; die dadurch verursachte erhöhte Hilflosigkeit bedinge jedoch nur eine Pflegezulage nach Stufe II. Ein darüber hinausgehender außergewöhnlicher Pflegeaufwand, der eine Pflegezulage nach Stufe III rechtfertigen würde, sei für die Zeit ab Antragstellung schon aus tatsächlichen Gründen zu verneinen. Aber auch für einen späteren Zeitraum, insbesondere das Todesjahr, komme eine Erhöhung nicht in Betracht, da sich zwar der Gesamtleidenszustand des M., nicht aber die Schädigungsfolgen geändert hätten. Die wesentliche Änderung der schädigungsunabhängig aufgetretenen Gesundheitsstörungen könne insoweit nicht berücksichtigt werden.
Die Klägerin hat Revision eingelegt. Sie beantragt
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1. |
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unter Aufhebung der Urteile des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 31. Juli 1975 und des Sozialgerichts Reutlingen vom 30. Januar 1974 den Beklagten unter Abänderung der Bescheide vom 4. Dezember 1969 und 4. Februar 1972 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. April 1972 zu verurteilen, der Klägerin als Rechtsnachfolgerin des versorgungsberechtigten Heinrich M Pflegezulage nach Stufe III ab 1. August 1969 bis zum 30. November 1971 zu gewähren; |
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2. |
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den Beklagten ferner zu verurteilen, der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Klage-, Berufungs- und Revisionsverfahrens zu erstatten; |
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3. |
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hilfsweise , das angefochtene Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 31. Juli 1975 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen, sowie die Kostenentscheidung dem abschließenden Urteil vorzubehalten. |
In ihrer Revisionsbegründung rügt sie eine Verletzung der §§ 62 Abs. 1, 35 Abs. 1 BVG und des § 103 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Sie trägt u. a. vor, die Auffassung des LSG, daß die Versagung der Pflegezulage nach Stufe III schon aus tatsächlichen Gründen, nämlich mangels eines erhöhten Pflegeaufwandes, gerechtfertigt sei, beruhe auf einer ungenügenden Sachaufklärung. Das LSG habe Auskünfte der Krankenhausverwaltungen einholen und die Ehefrau des Beschädigten - die Klägerin - hören müssen. Entgegen der Rechtsauffassung des LSG komme eine Erhöhung der Pflegezulage nicht nur bei einer Änderung der Schädigungsfolgen, sondern auch bei einer Änderung von Nichtschädigungsfolgen in Betracht, sofern dadurch der Gesamtzustand des Geschädigten zusätzlich beeinträchtigt werde. Das LSG habe die im Recht der Kriegsopferversorgung (KOV) herrschende Kausalitätsnorm nicht richtig angewandt.
Der Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 31. Juli 1975 als unbegründet zurückzuweisen.
Der Beklagte hält das Urteil des LSG für zutreffend; er beruft sich ferner auf die bisherige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG). Eine Erhöhung der Pflegezulage komme im Rahmen des § 62 Abs. 1 BVG nur in Betracht, wenn und soweit sich die anerkannten Schädigungsfolgen geändert hätten. Das Hinzutreten weiterer, schädigungsunabhängiger Gesundheitsstörungen könne nicht berücksichtigt werden.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 SGG einverstanden erklärt.
Die vom LSG gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassene Revision ist zulässig (§ 169 SGG); sie ist auch insoweit begründet, als sie - entsprechend dem Hilfsantrag der Klägerin - zur Aufhebung und Zurückverweisung führt.
Das LSG hat die Auffassung vertreten, daß eine Neufeststellung (Erhöhung) der Pflegezulage gemäß § 62 Abs. 1 BVG nur dann in Betracht kommt, wenn sich die (anerkannten) Schädigungsfolgen wesentlich geändert haben und eine Änderung (Verstärkung) der Hilflosigkeit herbeiführen. Für diese Auffassung hat sich das LSG insbesondere auf die Entscheidung des 8. Senats des BSG vom 7. August 1969 (BSGE 30, 45) berufen. Diese Entscheidung ist jedoch durch die neuere Rechtsprechung der Kriegsopfersenate des BSG überholt. Gegen die damals vertretene Auffassung hat der 9. Senat des BSG bereits in seiner Entscheidung vom 31. Juli 1975 (9 RV 552/74) Bedenken geäußert. Mit Urteil vom 10. Dezember 1975 (vgl. SozR 3100 BVG § 35 Nr. 2) hat der 9. Senat nunmehr entschieden, daß die Pflegezulage auch dann gemäß § 62 Abs. 1 Satz 1 BVG neu festzustellen ist, wenn die wehrdienstbedingten Gesundheitsstörungen und die auf ihnen beruhende Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) zwar unverändert geblieben sind, die Schädigung aber im Zusammenwirken mit veränderten schädigungsunabhängigen Umständen noch annähernd gleichwertig die gesteigerte Hilflosigkeit verursacht. Bei dieser Entscheidung hat sich der 9. Senat u. a. auf die Urteile des erkennenden Senats vom 29. November 1973 (BSGE 36, 285) und vom 25. Januar 1974 (BSGE 37, 80) gestützt, in denen zur Anwendung der Kausalitätsnorm im Versorgungsrecht und zur Bedeutung des Zusammenwirkens von (unveränderten) Schädigungsfolgen mit später aufgetretenen schädigungsunabhängigen Gesundheitsstörungen ausführlich Stellung genommen ist (vgl. auch Urteil des erkennenden Senats vom 27. März 1974 - 10 RV 405/73 -; siehe Funk "Die neue Rechtsprechung des BSG zur Pflegezulage" in "Die Sozialgerichtsbarkeit" 1976, 252).
Der erkennende Senat hat sich mit Urteil vom 29. September 1976 - 10 RV 217/75 - der vom 9. Senat vertretenen Auffassung angeschlossen. Einer Anrufung des Großen Senats des BSG nach § 42 SGG bedurfte es dabei nicht. Der 8. Senat ist nicht mehr auf dem Gebiet der KOV tätig; außerdem ist die "letzte" Entscheidung zu der hier interessierenden Rechtsfrage diejenige des 9. Senats vom 10. Dezember 1975 (aaO).
§ 62 Abs. 1 Satz 1 BVG ermächtigt zum Eingriff in die Bestandskraft einer vorangegangenen Entscheidung, wenn "in den Verhältnissen, die für die Feststellung des Anspruchs auf Versorgung maßgebend gewesen sind, eine wesentliche Änderung eintritt". "Maßgebend" für die Gewährung der Pflegezulage sind aber nicht nur die Schädigungsfolgen, sondern auch die schädigungsunabhängigen Gesundheitsstörungen, sofern die Schädigungsfolgen mit ihren Auswirkungen annähernd gleichwertig mit den schädigungsunabhängigen Umständen den Gesamtleidenszustand (Hilflosigkeit) bedingen (vgl. BSGE 17, 114). Dabei kommt es auch nicht darauf an, ob die Schädigungsfolgen zeitlich die "letzte", die Hilflosigkeit auslösende Bedingung sind. Auch Gesundheitsstörungen, die nach der Schädigung und unabhängig von dieser auftreten - sogenannte Nachschäden (vgl. BSGE 23, 188) -, sind als Mitursachen der Hilflosigkeit nicht auszuschließen (ständige Rechtsprechung des BSG; vgl. BSGE 13, 40; 17, 114, 119; Urteil des erkennenden Senats vom 21. Mai 1974 - 10 RV 144/73 -). Der Grundsatz, daß die versorgungsrechtlich erhebliche Ursachenkette mit dem Ende des schädigenden Ereignisses, d. h. mit dem Bewirken der gesundheitlichen Schädigung und der unmittelbar an sie geknüpften gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen abgeschlossen ist, gilt nicht für den Tatbestand der Hilflosigkeit (vgl. BSGE 17, 114; 19, 201).
Ist aber die Gewährung der Pflegezulage von dem Zusammenwirken von Schädigungsfolgen und Nichtschädigungsfolgen abhängig und kann die (erstmalige) Gewährung der Pflegezulage durch das Hinzutreten von Gesundheitsstörungen, die erst nach der Schädigung und unabhängig von dieser auftreten, "ausgelöst" werden, dann ist nicht einzusehen, aus welchen Gründen das spätere Hinzutreten (die Verschlimmerung) der schädigungsunabhängigen Gesundheitsstörungen auf die Erhöhung der Pflegezulage ohne Einfluß sein soll. Die bisherige Rechtsprechung war zu stark nach dem Grundsatz ausgerichtet, daß Nachschäden nicht zu berücksichtigen sind (so noch BSGE 23, 188; vgl. aber BSGE 36, 285; 37, 80), ohne darauf Bedacht zu nehmen, daß bei der Gewährung der Pflegezulage die Ursachenkette um ein weiteres Glied - nämlich den Eintritt der Hilflosigkeit - verlängert wird und daß insoweit dem zeitlichen Moment bei der Verknüpfung zwischen Bedingung und Erfolg keine Bedeutung zukommt. Daß in § 35 Abs. 1 Satz 1 BVG von der "Schädigung" und nicht von den "Schädigungsfolgen" die Rede ist, kann als ein Hinweis des Gesetzes dahin verstanden werden, daß der Nachschadensausschluß, der regelmäßig der Erhöhung der MdE nach § 30 Abs. 1 BVG entgegensteht, hier nicht gewollt ist (vgl. BSG SozR 3100 BVG § 45 Nr. 2).
Sinn und Zweck der (erhöhten) Pflegezulage bestätigen die hier vertretene Auffassung. Die Situation des Hilflosen ist durch ein unteilbares Gesamtbefinden (Gesamtleidenszustand) gekennzeichnet (vgl. Urteil des erk. Senats vom 7. August 1975 - 10 RV 51/74 -). Dem wird nur eine Beurteilung gerecht, welche sich stärker an den aktuellen Gegebenheiten, nämlich am Erfordernis der erhöhten Pflegebedürftigkeit (vgl. Urteil vom 10. März 1976 - 10 RV 185/75 -) orientiert, vorausgesetzt, daß hieran die Kriegsbeschädigung einen wesentlichen Anteil hat (vgl. Urteil BSG vom 10. Dezember 1975 aaO).
Beruht daher - wie im vorliegenden Fall - die verstärkte Hilflosigkeit auf einer Verschlimmerung - oder dem Hinzutreten - von Schädigungsleiden (vgl. Widerspruchsbescheid vom 11. April 1972) und schädigungsunabhängigen Gesundheitsstörungen, dann kommt es darauf an, ob nunmehr die Schädigungsfolgen für den Gesamtleidenszustand nur noch von untergeordneter Bedeutung sind oder ob sie weiterhin seine annähernd gleichwertige Mitursache darstellen (vgl. Urteil vom 7. August 1975 - 10 RV 51/74 -). Auf die erhöhte Pflegezulage der Stufen II bis V (§ 35 Abs. 1 Satz 2 BVG) besteht bei Vorliegen ihrer Voraussetzungen ebenso ein Rechtsanspruch wie auf die Pflegezulage der Stufe I (vgl. Urteil vom 10. März 1976 - 10 RV 185/75 -).
Das LSG hat insoweit keine eindeutigen Feststellungen für den hier streitigen Zeitraum getroffen. Das Berufungsgericht hat zwar - jedenfalls für die erste Zeit nach der Antragstellung - einen über die Pflegezulage der Stufe II hinausgehenden außergewöhnlichen Pflegeaufwand verneint und daraus die Folgerung gezogen, daß die Berufung somit schon aus tatsächlichen Gründen insoweit nicht begründet ist, als bereits ab Antragsmonat (August 1969) eine höhere Pflegezulage als nach Stufe II begehrt wird. Abgesehen davon, daß die Klägerin die tatsächlichen Feststellungen des LSG mit Verfahrensrügen (§ 103 SGG) angegriffen hat, kann die Auffassung des LSG auch auf einer unrichtigen Rechtsanwendung beruhen, wenn das LSG die Erhöhung der Pflegezulage grundsätzlich nur von dem erforderlichen Zeitaufwand, nicht aber auch von den für die fremde Wartung und Pflege erforderlichen Aufwendungen abhängig machen will (vgl. BSGE 36, 292 = SozR BVG § 35 Nr. 21). Da das LSG andererseits für einen späteren Zeitraum (Todesjahr ?) eine weitere Zunahme der Hilflosigkeit für wahrscheinlich ansieht (vgl. Bl. 13 des Urteils), wird eventuell eine genaue Abgrenzung der beiden Zeiträume erforderlich sein.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen