Orientierungssatz
Die Pflegezulage ist nach BVG § 62 Abs 1 S 1 auch dann neu festzustellen ("zu erhöhen"), wenn die schädigungsbedingten Gesundheitsstörungen und die auf ihnen beruhende MdE zwar unverändert geblieben sind, die Schädigungsfolgen aber im Zusammenwirken mit veränderten schädigungsunabhängigen Umständen noch annähernd gleichwertig gesteigerte Hilflosigkeit verursachen (Anschluß an BSG 1975-12-10 9 RV 162/75 = SozR 3100 § 35 Nr 2).
Normenkette
BVG § 35 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1966-12-28, § 62 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1966-12-28
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 13. März 1975 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin ist die Witwe und Rechtsnachfolgerin des am 17. August 1976 verstorbenen Beschädigten Richard B (B.). Dieser, geboren im Jahre 1896, bezog Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 100 v. H., ua wegen ausgedehnter Brandnarben und erheblicher Gebrauchsbehinderung beider Hände (Bescheid vom 7. Mai 1953). Im anschließenden Klageverfahren wurde der Beklagte durch Urteil des Sozialgerichts (SG) Dortmund vom 18. Mai 1955 verurteilt, dem damaligen Kläger die einfache Pflegezulage zu gewähren. Nach Einholung mehrerer fachärztlicher Gutachten wurden durch Bescheid vom 10. September 1959 "chronischer Rachen- und Luftröhrenkatarrh" und durch Bescheid vom 15. Juli 1971 "Knochenverdickung am rechten Oberschenkel nach Hufschlag" und "mäßige Bewegungseinschränkung des rechten Hüftgelenks nach Oberschenkelhalsbruch" als weitere Schädigungsfolgen anerkannt. Seit dem 1. Juni 1970 bezog B. eine Schwerstbeschädigtenzulage nach Stufe V.
Der Antrag des B. vom 15. Juni 1970 auf Gewährung einer höheren Pflegezulage wurde durch Bescheid vom 16. Juli 1971 abgelehnt. Im Widerspruchsverfahren kam Dr. P in einer versorgungsärztlichen Stellungnahme zu dem Ergebnis, daß die Pflegebedürftigkeit des B. durch die Nichtschädigungsleiden zusätzlich belastet werde; die Gewährung einer Pflegezulage nach Stufe II sei gerechtfertigt. Das Landesversorgungsamt schloß sich dieser Beurteilung nicht an, sondern wies den Widerspruch durch Bescheid vom 12. Juni 1972 zurück. Das SG holte ein fachchirurgisches Gutachten von Dr. W ein und wies die Klage durch Urteil vom 29. August 1973 ab.
Das Landessozialgericht (LSG) hat den Beklagten durch Urteil vom 13. März 1975 verurteilt, dem Ehemann der Klägerin ab 1. Juni 1970 Pflegezulage der Stufe II zu gewähren. In den Gründen wird ausgeführt, die Berufung sei ungeachtet § 148 Nr. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässig, weil B. mit Erfolg einen wesentlichen Mangel des sozialgerichtlichen Verfahrens gerügt habe. Die Berufung sei auch sachlich begründet. Entgegen der Auffassung des SG und des Beklagten komme eine Neufeststellung des Versorgungsanspruchs gemäß § 62 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) nicht nur bei einer wesentlichen Änderung der Schädigungsfolgen in Betracht. Durch das Hinzutreten schädigungsunabhängiger Erkrankungen (Emphysembronchitis, Arbeitsinsuffizienz des Herzens, Leberschädigung) seien die nach § 35 BVG für den Anspruch auf Pflegezulage maßgebende Hilflosigkeit und Pflegebedürftigkeit des Beschädigten durch die anerkannten Schädigungsfolgen, auch wenn diese als solche sich nicht verschlimmert haben sollten, in erheblichem Umfang vergrößert worden. Das erhöhte Pflegebedürfnis des B. sei somit das Ergebnis des (etwa gleichwertigen) Zusammenwirkens von Schädigungsfolgen und schädigungsunabhängigen Gesundheitsstörungen. Der Anspruch auf Gewährung einer höheren Pflegezulage sei daher gerechtfertigt. Die entgegenstehende Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) aus den Urteilen vom 7. August 1969 (BSGE 30, 45) und 29. Januar 1970 ("Der Versorgungsbeamte" 1970, Leitsatz Nr. 57) sei als überholt anzusehen.
Das LSG hat die Revision nicht zugelassen. Auf die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung ist die Revision jedoch durch Beschluß des Senats vom 2. Oktober 1975 zugelassen worden, weil das LSG von einer Entscheidung des BSG abgewichen ist, (§§ 160 a, 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG). Der Beklagte hat mit Schriftsatz vom 27. Oktober 1975 Revision eingelegt.
Er beantragt,
unter Abänderung des Urteils des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 13. März 1975 die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 29. August 1973 als unbegründet zurückzuweisen.
Der Beklagte rügt eine Verletzung der §§ 35 und 62 BVG, § 141 SGG und führt dazu aus, die Gewährung einer höheren Pflegezulage im Wege der Neufeststellung hänge davon ab, daß sich die Schädigungsfolgen seit der letzten bindenden (rechtskräftigen) Feststellung des Anspruchs auf Pflegezulage wesentlich verschlimmert hätten. Für die Anwendung des § 62 BVG sei es demnach nicht ausreichend, daß sich bei unveränderten Schädigungsfolgen lediglich die von der Schädigung unabhängigen Leiden wesentlich verschlimmert oder vermehrt hätten und daß bei einer Erstfeststellung der Pflegezulage eine höhere Stufe als die bisher festgestellte angemessen wäre (vgl. BSGE 30, 45; 13, 72).
Die Klägerin beantragt,
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1. |
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die Revision des Beklagten als unbegründet zurückzuweisen; |
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2. |
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den Beklagten zu verurteilen, der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Beschwerde- und Revisionsverfahrens zu erstatten. |
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und meint, eine Neufeststellung der Pflegezulage setze nicht voraus, daß sich allein die Schädigungsfolgen wesentlich geändert hätten. Vielmehr sei lediglich zu prüfen, ob sich die Hilflosigkeit oder die erhöhte Pflegebedürftigkeit ursächlich auf Schädigungsfolgen zurückführen lasse.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Beklagten ist unbegründet.
Nach den vom LSG getroffenen - und vom Beklagten nicht angegriffenen - Feststellungen (§ 163 SGG) geht der Senat davon aus, daß dem Beschädigten bei der erstmaligen Gewährung der Pflegezulage nach § 35 BVG im Jahre 1955 die einfache Pflegezulage (jetzt Stufe I) zustand, daß eine wesentliche Änderung der anerkannten Schädigungsfolgen nicht festzustellen war, daß jedoch schädigungsunabhängige Erkrankungen hinzugetreten waren bzw. sich wesentlich verschlimmert hatten, daß bei B. nunmehr eine erhöhte Pflegebedürftigkeit (nach Stufe II) bestand und daß diese das Ergebnis des Zusammenwirkens von Schädigungsfolgen und schädigungsunabhängigen Gesundheitsstörungen war, wobei beiden Bedingungen für den Eintritt des "Erfolges" (der erhöhten Pflegebedürftigkeit) eine in etwa gleichwertige Bedeutung beizumessen war (vgl. Bl. 10 bis 12 des LSG-Urteils).
Der 8. Senat des BSG hat in seinem Urteil vom 7. August 1969 (vgl. BSGE 30, 45) entschieden, daß der Anspruch auf Pflegezulage nur dann gemäß § 62 BVG neu festgestellt werden kann, wenn sich die Schädigungsfolgen wesentlich geändert haben und eine Änderung der Hilfslosigkeit herbeiführen (vgl. auch BSGE 13, 40). Gegen diese Auffassung hat der 9. Senat des BSG bereits in seiner Entscheidung vom 31. Juli 1975 (9 RV 552/74) Bedenken geäußert. Mit Urteil vom 10. Dezember 1975 (vgl. SozR 3100 BVG § 35 Nr. 2) hat der 9. Senat nunmehr entschieden, daß die Pflegezulage auch dann gemäß § 62 Abs. 1 Satz 1 BVG neu festzustellen ist, wenn die wehrdienstbedingten Gesundheitsstörungen und die auf ihnen beruhende MdE zwar unverändert geblieben sind, die Schädigung aber im Zusammenwirken mit veränderten schädigungsunabhängigen Umständen noch annähernd gleichwertig gesteigerte Hilflosigkeit verursacht. Bei seiner Entscheidung hat sich der 9. Senat ua auf die Urteile des erkennenden Senats vom 29. November 1973 (BSGE 36, 285) und vom 25. Januar 1974 (BSGE 37, 80) gestützt, in denen zur Anwendung der Kausalitätsnorm im Versorgungsrecht und zur Bedeutung des Zusammenwirkens von (unveränderten) Schädigungsfolgen mit später aufgetretenen schädigungsunabhängigen Gesundheitsstörungen ausführlich Stellung genommen ist (vgl. auch Urteil des erkennenden Senats vom 27. März 1974 - 10 RV 405/73; s. Funk "Die neue Rechtsprechung des BSG zur Pflegezulage" in "Die Sozialgerichtsbarkeit" 1976, 252).
Der erkennende Senat schließt sich der vom 9. Senat in seinem Urteil vom 10. Dezember 1975 vertretenen Rechtsauffassung an. Einer Anrufung des Großen Senats des BSG nach § 42 SGG bedarf es dabei nicht. Der 8. Senat ist nicht mehr auf dem Gebiet der Kriegsopferversorgung tätig; außerdem ist die "letzte" Entscheidung zu der hier interessierenden Rechtsfrage diejenige des 9. Senats vom 10. Dezember 1975.
§ 62 Abs. 1 Satz 1 BVG ermächtigt zum Eingriff in die Bestandskraft einer vorangegangenen Entscheidung, wenn "in den Verhältnissen, die für die Feststellung des Anspruchs auf Versorgung maßgebend gewesen sind, eine wesentliche Änderung eintritt". "Maßgebend" für die Gewährung der Pflegezulage sind aber nicht nur die Schädigungsfolgen, sondern auch die schädigungsunabhängigen Gesundheitsstörungen, sofern die Schädigungsfolgen mit ihren Auswirkungen annähernd gleichwertig mit den schädigungsunabhängigen Umständen den Gesamtleidenszustand (Hilflosigkeit) bedingen (vgl. BSGE 17, 114). Dabei kommt es auch nicht darauf an, ob die Schädigungsfolgen zeitlich die "letzte", die Hilflosigkeit auslösende Bedingung sind. Auch Gesundheitsstörungen, die nach der Schädigung und unabhängig von dieser auftreten - sogenannte Nachschäden (vgl. BSGE 23, 188) -, sind als Mitursachen der Hilflosigkeit nicht auszuschließen (ständige Rechtsprechung des BSG; vgl. BSGE 13, 42; 17, 119; Urteil des erkennenden Senats vom 21. Mai 1974 - 10 RV 441/73 -). Der Grundsatz, daß die versorgungsrechtlich erhebliche Ursachenkette mit dem Ende des schädigenden Ereignisses, d. h. mit dem Bewirken der gesundheitlichen Schädigung und der unmittelbar an sie geknüpften gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen, abgeschlossen ist, gilt nicht für den Tatbestand der Hilflosigkeit (vgl. BSGE 17, 114; 19, 201).
Ist aber die Gewährung der Pflegezulage von dem Zusammenwirken von Schädigungsfolgen und Nichtschädigungsfolgen abhängig und kann die (erstmalige) Gewährung der Pflegezulage durch das Hinzutreten von Gesundheitsstörungen, die erst nach der Schädigung und unabhängig von dieser auftreten, "ausgelöst" werden, dann ist nicht einzusehen, aus welchen Gründen das spätere Hinzutreten (die Verschlimmerung) der schädigungsunabhängigen Gesundheitsstörungen auf die Erhöhung der Pflegezulage ohne Einfluß sein soll. Die bisherige Rechtsprechung war zu stark nach dem Grundsatz ausgerichtet, daß Nachschäden nicht zu berücksichtigen sind (so noch BSGE 23, 188; vgl. aber BSGE 36, 285), ohne darauf Bedacht zu nehmen, daß bei der Gewährung der Pflegezulage die Ursachenkette um ein weiteres Glied - nämlich den Eintritt der Hilflosigkeit - verlängert wird und daß insoweit dem zeitlichen Moment bei der Verknüpfung zwischen Bedingung und Erfolg keine Bedeutung zukommt. Daß in § 35 Abs. 1 Satz 1 BVG von der "Schädigung" und nicht von den "Schädigungsfolgen" die Rede ist, darf als ein Hinweis des Gesetzes dahin verstanden werden, daß der Nachschadensausschluß, der regelmäßig der Erhöhung der MdE nach § 30 Abs. 1 BVG entgegensteht, hier nicht gewollt ist.
Sinn und Zweck der ( erhöhten) Pflegezulage bestätigen die hier vertretene Auffassung. Die Situation des Hilflosen ist durch ein unteilbares Gesamtbefinden (Gesamtleidenszustand) gekennzeichnet (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 7. August 1975 - 10 RV 51/74 -). Dem wird nur eine Beurteilung gerecht, welche sich stärker an den aktuellen Gegebenheiten, nämlich am Erfordernis der erhöhten Pflegebedürftigkeit (vgl. Urteil vom 10. März 1976 - 10 RV 185/75 -) orientiert, vorausgesetzt, daß hieran die Kriegsbeschädigung einen wesentlichen Anteil hat (vgl. Urteil BSG vom 10. Dezember 1975 aaO).
Beruht daher - wie im vorliegenden Fall - die verstärkte Hilflosigkeit allein auf einer Verschlimmerung schädigungsunabhängiger Leiden, so kommt es darauf an, ob nunmehr die Schädigungsfolgen für den Gesamtzustand nur noch von untergeordneter Bedeutung sind oder ob sie weiterhin eine annähernd gleichwertige Mitursache hierfür darstellen (vgl. Urteil vom 7. August 1975 aaO). Letzteres ist hier nach den vom LSG getroffenen Feststellungen der Fall. Die vom LSG vorgenommene (rechtliche) Beurteilung der annähernden Gleichwertigkeit von Schädigungsfolgen und Nichtschädigungsfolgen für den Zustand der erhöhten Pflegebedürftigkeit wird vom Beklagten nicht angegriffen. Das LSG hat daher zutreffend entschieden, daß dem Beschädigten eine Pflegezulage der Stufe II zu gewähren ist. Die Revision des Beklagten erweist sich als unbegründet.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen