Leitsatz (amtlich)

Der Anspruch auf Witwenabfindung ist trotz des Ablaufs der in AVG § 41 Abs 2 gesetzten Frist jedenfalls dann rechtzeitig geltend gemacht, wenn die Witwenabfindung gleichzeitig mit der Witwenrente beantragt und letztere daraufhin nach dem KrFristenablaufG rückwirkend bewilligt worden ist.

 

Normenkette

AVG § 41 Abs. 2 Fassung: 1934-05-17; KrFrHemmSV/AVG § 2; RVO § 1287 Fassung: 1949-06-17

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 2. Dezember 1955 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Die Klägerin war in erster Ehe mit dem kaufmännischen Angestellten Ernst ... verheiratet. Dieser hat der Angestelltenversicherung angehört. Er ist durch Beschluß des Amtsgerichts Berlin-Tiergarten vom 10. April 1951 wegen Kriegsverschollenheit mit Wirkung vom 30. April 1945 für tot erklärt worden. Die Klägerin hat am 10. Mai 1952 wieder geheiratet.

Die Klägerin beantragte im Juni 1953 auf Grund des § 2 des Kriegsfristengesetzes (KFG), ihr vom 1. April 1952 an bis zu ihrer Wiederheirat Witwenrente, ferner Witwenabfindung zu gewähren. Die Landesversicherungsanstalt Berlin lehnte den Antrag ab: Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Witwenrente. Sie habe es versäumt, die Rente spätestens bis zum 31. Dezember 1952 zu beantragen (§ 2 Satz 1 KFG, § 23 Abs. 3 des Berliner Rentenversicherungsüberleitungsgesetzes vom 10.7.1952 = RVÜG ). Daher könne sie auch keine Witwenabfindung erhalten (Bescheid vom 20.6.1953). Das Sozialgericht Berlin hob diesen Bescheid auf und verurteilte die Beklagte, der Klägerin vom 1. April 1952 bis zum 31. Mai 1952 Witwenrente und ferner Witwenabfindung zu gewähren: Die unbedingte Witwenrente werde in Berlin seit dem 1. April 1952 gewährt (§§ 23 Abs. 2, 54 RVÜG ). Von diesem Tag an bis zu ihrer Wiederheirat habe die Klägerin Anspruch auf Witwenrente (§ 2 Satz 4 KFG). Daher stehe ihr auch die Witwenabfindung zu (Urteil vom 18.7.1955). Das Landessozialgericht Berlin wies die Berufung der Beklagten zurück: Die Klägerin habe nach den zutreffenden Ausführungen des Sozialgerichts Anspruch auf Witwenrente. Ihr stehe auch die Witwenabfindung zu. Zwar könne diese in der Regel nun gewährt werden, wenn im Zeitpunkt der Wiederheirat die Witwenrente bereits festgestellt oder beantragt sei. Für die Fälle aber, in denen abweichend von § 1286 der Reichsversicherungsordnung (RVO) eine Rente vor der Zeit der Antragstellung beginne, genüge auch ein späterer Antrag, wenn daraufhin eine Witwenrente für die Zeit vor der Wiederheirat zu bewilligen sei. Dies sei hier nach § 2 Satz 4 KFG der Fall. Dem Abfindungsanspruch der Klägerin stehe die Ausschlußfrist von einem Jahr nach § 41 Abs. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) nicht entgegen. Sei ein Rentenantrag, der den Rentenanspruch rückwirkend auslöse, rechtzeitig gestellt, dann könne ein gleichzeitig gestellter Antrag auf Abfindung dieser Rente nicht verspätet sein. - Es ließ die Revision zu (Urteil vom 2.12.1955).

Die Beklagte legte gegen dieses Urteil nur wegen des Abfindungsanspruchs Revision ein. Sie beantragte, das Urteil des Landessozialgerichts und das des Sozialgerichts insoweit aufzuheben und die Klage abzuweisen. Eine Witwenabfindung könne immer nur dann gewährt werden, wenn sie innerhalb eines Jahres nach der Wiederheirat beantragt worden sei. Dies sei hier nicht geschehen. Die Klägerin habe am 10. Mai 1952 geheiratet und erst am 5. Juni 1953 die Abfindung beantragt.

Die Klägerin beantragte, die Revision zurückzuweisen. Sie macht sich die Ausführungen des Landessozialgerichts zu eigen.

Die Revision ist zulässig, aber unbegründet.

Die Witwenrente fällt mit dem Ablauf des Monats weg, in welchem die Berechtigte wieder heiratet. Die Witwe wird mit dem Dreifachen ihrer Jahresrente abgefunden (§ 41 Abs. 1 AVG, § 1287 RVO).

Der Anspruch auf Witwenabfindung setzt eine Witwenrente voraus. Dies ergibt sich aus dem Begriff "Abfindung" und auch daraus, daß die Witwe das Dreifache ihrer "Jahresrente" erhält. Eine solche Rente steht der Klägerin zu. Das Sozialgericht hat die Beklagte verurteilt, der Klägerin Witwenrente für die Zeit vom 1. April 1952 bis zum 31. Mai 1952 zu gewähren. Das Landessozialgericht hat die Berufung hiergegen zurückgewiesen und die Beklagte insoweit keine Revision eingelegt. Damit steht für das Verfahren über die Witwenabfindung rechtskräftig - d. h. die Parteien und das Gericht bindend - fest, daß die Klägerin Anspruch auf Witwenrente hat. Dem steht nicht entgegen, daß die Entscheidung über die Witwenrente im Verfahren über die Witwenabfindung nur eine Vorfrage bildet. Die Bindung tritt auch dann ein, wenn die erstrittene Rechtsfolge in einem weiteren Verfahren als Vorfrage von Bedeutung ist (§§ 141, 202 SGG, 705 ZPO; Stein-Jonas, Kommentar zur ZPO, 18. Aufl., § 322, Anm. II 4 und IX 1; Rosenberg, Lehrbuch des Deutschen Zivilprozeßrechts, 7. Aufl., S. 710).

Die Tatsache, daß die Witwenrente erst nach der Wiederheirat auf Grund eines später erlassenen Gesetzes, nämlich des Kriegsfristengesetzes, beantragt und bewilligt worden ist, steht dem Abfindungsanspruch der Klägerin nach dem Wortlaut der Gesetzesvorschrift nicht entgegen. Dieser macht die Bewilligung der Witwenabfindung nicht davon abhängig, wann der Rentenanspruch entstanden ist. Es ist nach ihm allein maßgebend, daß die Witwenrente für die Zeit vor der Wiederheirat gewährt wird und daß sie wegen der Wiederheirat wegfällt. Diese Regelung ist auch sinnvoll, weil in beiden Fällen - Bewilligung der Witwenrente vor oder nach der Wiederheirat - eine wiederkehrende Leistung aus dem gleichen Grund - Wiederheirat - wegfällt. Die Witwenabfindung setzt demnach nur voraus, daß ein Anspruch auf Witwenrente für die Zeit vor der Wiederheirat besteht, nicht dagegen, daß ein solcher Anspruch in dieser Zeit bereits bestanden hat. Ist daher, wie im vorliegenden Fall, einer Kriegerwitwe nach ihrer Wiederheirat auf Grund des KFG eine Witwenrente für die Zeit vorher bewilligt worden, dann hat sie auch Anspruch auf Witwenabfindung, wenn sie jene rechtzeitig beantragt hat (im Ergebnis ebenso Bayerisches LVAmt in Breithaupt 1954 S. 318; Koch-Hartmann, Kommentar zum AVG, 2. Aufl. S. 495).

Diesem Ergebnis steht die Entscheidung des Reichsversicherungsamts vom 10. Juni 1940 (EuM Bd. 46 S. 422) nicht entgegen. Zwar ist dort ausgeführt, Voraussetzung für die Witwenabfindung sei es, daß im Zeitpunkt der Wiederheirat die Witwenrente bereits bewilligt oder doch beantragt worden sei. Diese Ausführungen beziehen sich jedoch auf einen Fall, in dem wegen verspäteter Antragstellung kein Anspruch auf Witwenrente für die Zeit vor der Wiederheirat bestand. Sie stammen auch aus einer Zeit, in der ein Rentenantrag nach der Wiederheirat keinen Anspruch mehr auf Witwenrente für die Zeit vorher begründen konnte. Das Reichsversicherungsamt hat also zu der hier behandelten, erst durch das Kriegsfristengesetz entstandenen Frage keine Stellung genommen.

Der Anspruch auf Witwenabfindung verfällt, wenn er nicht innerhalb eines Jahres nach der Wiederheirat geltend gemacht wird (§ 41 Abs. 2 AVG). Diese Frist hat die Klägerin nicht eingehalten. Trotzdem ist ihr Antrag auf Witwenabfindung rechtzeitig gestellt, weil die genannte Frist für den vorliegenden Fall nicht gilt. Schon der Wortlaut des § 41 Abs. 2 AVG - "der Anspruch verfällt, wenn er nicht innerhalb eines Jahres nach der Wiederheirat geltend gemacht wird" - zeigt, daß die Jahresfrist nur für die Fälle vorgesehen ist, in denen vor der Wiederheirat bereits ein Anspruch auf Witwenrente und damit zur Zeit der Wiederheirat ein Anspruch auf Witwenabfindung bestand. Dies ergibt sich auch daraus, daß zur Zeit des Erlasses der genannten Vorschrift in keinem Fall der Anspruch auf Witwenabfindung erst nach der Wiederheirat entstehen konnte. Für Fälle, wie sie das Kriegsfristengesetz ermöglicht hat, besteht insoweit eine Gesetzeslücke, die das Gericht durch Auslegung ausfüllen muß.

Aus § 41 Abs. 2 AVG ist zu entnehmen, daß die Witwe, die wieder heiratet, von der Entstehung ihres Anspruchs auf Witwenabfindung an ein Jahr Zeit haben soll, um den Anspruch geltend zu machen. In den Ausnahmefällen des KFG entsteht der Anspruch auf Witwenabfindung frühestens mit dem Rentenantrag der wiederverheirateten Kriegshinterbliebenen, denn erst dieser Antrag schafft die Voraussetzung für die Bewilligung der Witwenrente, die ihrerseits Voraussetzung für die Gewährung der Witwenabfindung ist. Der Anspruch auf Witwenabfindung ist daher jedenfalls dann rechtzeitig geltend gemacht, wenn die Witwenabfindung gleichzeitig mit der Witwenrente beantragt und letztere daraufhin bewilligt worden ist. Ein anderes Ergebnis verstieße gegen den Sinn des § 2 KFG. Wenn einer Kriegshinterbliebenen, die wieder geheiratet hat, wegen der besonderen Kriegs- und Nachkriegsverhältnisse die Möglichkeit eröffnet wird, die Witwenrente bis zum 31. Dezember 1955, also gegebenenfalls noch nach Ablauf eines Jahres seit der Wiederheirat, zu beantragen, dann kann ihr Anspruch auf Witwenabfindung nicht davon abhängen, daß er spätestens bis zum Ablauf eines Jahres seit der Wiederheirat erhoben wird und damit in zahlreichen Fällen vor der Witwenrente geltend gemacht werden müßte. Witwenrente und Witwenabfindung sind zwar zwei selbständige Ansprüche. Die Witwenrente ist jedoch die Voraussetzung für die Witwenabfindung, so daß die Möglichkeit, sie zu erlangen, auch die Möglichkeit, die Abfindung zu erhalten, in sich schließen muß.

Die abweichende Entscheidung des Bayerischen Landessozialgerichts (Amtsblatt des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und soziale Fürsorge 1955 S. B 81) überzeugt nicht. Sie beruht auf einer unrichtigen Wortinterpretation des § 41 Abs. 2 AVG und läßt den Sinn des § 2 KFG außer Betracht. Sie wird auch nicht dadurch getragen, daß § 2 KFG nur auf § 1286 RVO (Beginn der Rente), nicht aber auch auf § 41 AVG (Witwenabfindung) hinweist. Aus dem Hinweis auf § 1286 RVO kann nicht gefolgert werden, daß eine sinnvolle Deutung des § 41 Abs. 2 AVG ausgeschlossen sein soll.

Die Klägerin hat die Witwenrente und die Abfindung gleichzeitig beantragt und daraufhin die Rente vom 1. April 1952 bis zu ihrer Wiederheirat erhalten. Ihr Antrag auf Witwenabfindung ist somit rechtzeitig gestellt. Die Entscheidungen des Sozialgerichts und des Landessozialgerichts sind deshalb im Ergebnis richtig. Die Revision der Beklagten ist daher unbegründet.

Die Beklagte ist im Revisionsverfahren unterlegen. Sie hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten (§ 193 SGG).

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324737

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