Leitsatz (amtlich)
Erteilt die nach RVO § 1311 zur Feststellung und Zahlung der Witwenrente zuständige LVA der Berechtigten einen Bescheid, in dem sie die Weiterzahlung der von der BfA zuvor irrtümlich, aber bindend festgesetzten und bis dahin gezahlten Rente übernimmt, so berechtigt sie diese Übernahme allein nicht, die Rente abweichend von der Berechnungsweise der BfA niedriger festzustellen (Anschluß BSG vom 31.01.1967 - 4 RJ 439/65 = SozR Nr 7 zu § 1311 RVO).
Normenkette
RVO § 1311 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23; AVG § 90 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23; SGG § 77 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Auf die Revision der Beigeladenen werden das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 26. September 1967 und das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 24. März 1965 aufgehoben.
Unter Abweisung der Klage im übrigen wird der Bescheid der Beklagten vom 1. August 1963 dahin geändert, daß sie verpflichtet ist, bei der Festsetzung der Witwenrente für die Klägerin vom 1. September 1958 an die Berechnung der Beigeladenen in deren früherem Rentenbescheid zugrunde zu legen und der Klägerin die Witwenrente in der sich daraus ergebenden Höhe weiterzuzahlen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die Beteiligten streiten darüber, welcher Versicherungsträger (Bundesversicherungsanstalt für Angestellte - BfA - oder Landesversicherungsanstalt - LVA -) für die Zahlung der der Klägerin zustehenden Witwenrente zuständig und in welcher Höhe die Rente zu gewähren ist.
Der im August 1958 verstorbene Ehemann der Klägerin war Wanderversicherter. Die letzten Beiträge waren zur Arbeiterrentenversicherung (ArV) entrichtet worden. Von Mai 1950 bis zu seinem Tode bezog er aus der Angestelltenversicherung (AnV) ein Ruhegeld wegen dauernder Berufsunfähigkeit, das ihm zuletzt von der beigeladenen BfA gezahlt wurde. Diese gewährte der Klägerin mit Bescheid vom 18. November 1958 Witwenrente vom 1. September 1958 an als Vorschußrente nach Art. 2 § 42 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 Satz 2 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG). Als später bei der Beigeladenen festgestellt wurde, daß der letzte Beitrag des Ehemannes der Klägerin vor Antragstellung zur Rentenversicherung der Arbeiter entrichtet worden war, gab sie den Vorgang zuständigkeitshalber an die beklagte LVA ab. Diese stellte mit Bescheid vom 1. August 1963 die Witwenrente der Klägerin für die Zeit ab Rentenbeginn (1. September 1958) nach Art. 6 § 6 Abs. 1 des Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetzes (FANG) neu fest; dabei ergab sich eine Rente, die niedriger war als die bisher von der Beigeladenen gewährte Rente. Dies beruht darauf, daß bei der im November 1958 nach Art. 2 § 42 AnVNG festgesetzten Rente anstelle der für die ArV maßgebenden Berechnungswerte diejenigen der AnV zugrunde gelegt worden waren.
Die Klägerin focht den Bescheid der beklagten LVA an. Nach ihrer Meinung ist ihre bisherige Rente besitzstandsgeschützt und die Beigeladene weiterhin der für die Zahlung der Witwenrente zuständige Versicherungsträger. Das Sozialgericht (SG) hob den Bescheid der Beklagten auf und verurteilte die Beigeladene zur Weitergewährung der bisher gezahlten Rente. Das Landessozialgericht (LSG) wies die Berufung der Beigeladenen zurück. Entgegen dem Bundessozialgerichts (BSG) - Urteil vom 31. Januar 1967 - 4 RJ 439/65 (SozR Nr. 7 zu § 1311 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) - könne infolge der Selbständigkeit der Versicherungsträger der gesetzlichen Rentenversicherung auch im Rahmen der Wanderversicherung der Kreis der Beteiligten im Sinne des § 77 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) kein anderer sein, als sonst im Rahmen eines einheitlichen Versicherungsverhältnisses, in dem der Versicherte nur einem Versicherungsträger gegenübersteht. Demgemäß sei der Bescheid der Beigeladenen vom 18. November 1958 allein für diese und die Klägerin bindend. Diese Bindungswirkung sei stärker als die Zuständigkeitsregelung des § 1311 RVO. Mit dem Eintritt der Bindung an den Bescheid vom 18. November 1958 sei - auch wenn die Beigeladene zur Erteilung dieses Bescheides nicht zuständig gewesen sei - der Zuständigkeitsmangel geheilt worden. Die Klägerin habe daher bis zum gesetzlich möglichen Widerruf oder Entzug der Leistung einen Rechtsanspruch allein gegenüber der Beigeladenen (Urteil vom 26. September 1967).
Die Beigeladene hat form- und fristgerecht die - vom LSG zugelassene - Revision eingelegt mit dem Antrag,
die vorinstanzlichen Urteile aufzuheben und die Klage insoweit abzuweisen, als mit ihr die Verurteilung der Beigeladenen zur Weitergewährung der mit Bescheid vom 18. November 1958 der Klägerin bewilligten Rente über den 31. August 1963 hinaus begehrt wird.
Sie rügt die unrichtige Anwendung formellen und materiellen Rechts. Sie hält § 54 Abs. 1 Satz 2 SGG für verletzt, weil die Klägerin durch den angefochtenen Bescheid nur insoweit beschwert sei, als durch ihn der bisher gezahlte Rentenbetrag herabgesetzt wurde. Ferner seien die Vorschriften der §§ 90 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG), 1311 RVO i. V. m. § 77 SGG verletzt. Zwar sei der Bescheid der Beigeladenen vom 18. November 1958 bindend geworden. Die Klägerin habe daher einen - unter dem Vorbehalt einer Neufeststellung nach § 204 AVG i. V. m. § 1744 RVO, § 138 SGG stehenden - Anspruch auf Fortbezug der durch diesen Bescheid festgesetzten Rente erlangt. Das LSG verkenne aber die Tragweite der Bindungswirkung des § 77 SGG, wenn es meine, durch diesen Bescheid sei auch bindend die Zuständigkeit der Beigeladenen anerkannt. Bei Abwägung der Interessen aller Beteiligten müsse der Einhaltung der Zuständigkeitsnormen der Vorrang zukommen. Der zuständige Versicherungsträger müsse - wie das BSG in dem vom LSG zitierten Urteil zutreffend entschieden habe - auch für eine fehlerhafte Rentenberechnung eines anderen Versicherungsträgers dem Berechtigten gegenüber einstehen.
Die Klägerin und die Beklagte haben die Zurückweisung der Revision beantragt. Sie halten die Auffassung des Berufungsgerichts für zutreffend. Nach Meinung der Beklagten findet die Anwendbarkeit des § 1311 RVO ihre zeitliche Grenze mit dem Erlaß des Verwaltungsakts; von da an sei die Bindungswirkung des erlassenen Verwaltungsakts stärker.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 SGG).
Die Revision ist zulässig und auch begründet. Der Senat kann sich der Rechtsauffassung der Vorinstanzen nicht anschließen; er ist vielmehr der Ansicht, daß nicht die Beigeladene, sondern die Beklagte zur Zahlung der Witwenrente an die Klägerin verpflichtet ist, und zwar in Höhe der von der Beigeladenen vorgenommenen Berechnung.
Gegenstand der Klage (§ 95 SGG) ist der Bescheid vom 1. August 1963, mit dem die Beklagte (LVA) für die Klägerin auf deren Antrag vom 20. August 1958 die Witwenrente aus der Versicherung des verstorbenen Ehemannes vom 1. September 1958 an festgesetzt hat. Zugleich ist aber über den Antrag der Klägerin zu entscheiden, die Beigeladene zur Weiterzahlung der von ihr mit Bescheid vom 18. November 1958 bewilligten Witwenrente zu verurteilen. Da die Klägerin durch den Bescheid der beklagten LVA insoweit beschwert ist, als diese den bisher von der Beigeladenen gezahlten Rentenbetrag herabgesetzt hat, ist die Klage entgegen der Meinung der Revision zulässig (§ 54 Abs. 1 Satz 2 SGG).
In dem Bescheid der Beklagten wie auch in den vorinstanzlichen Urteilen ist zutreffend ausgeführt, daß die Beklagte für die Feststellung und Zahlung der Witwenrente nach § 1311 Abs. 1 RVO zuständig war, weil der Versicherte zuletzt Beiträge zur Rentenversicherung der Arbeiter geleistet hatte. Entgegen der Meinung des Berufungsgerichts hat sich an dieser Zuständigkeit auch dadurch nichts geändert, daß die beigeladene BfA - ohne dafür zuständig und verpflichtet gewesen zu sein - schon vorher, nämlich durch Bescheid vom 18. November 1958, aus Anlaß des gleichen Versicherungsfalles eine Witwenrente festgesetzt hatte.
Das LSG geht zwar zutreffend davon aus, daß der Bescheid der Beigeladenen nicht nichtig war (vgl. BSG 9, 171, 178 sowie SozR Nr. 7 zu § 1311 RVO). Zu Recht nimmt es auch an, daß sich die Bindungswirkung dieses Bescheides allein auf die Beigeladene und die Klägerin erstreckt (§ 77 SGG sowie Müller in "Die Sozialgerichtsbarkeit" 1968, 389). Zu Unrecht meint es aber, wegen dieser Bindungswirkung werde im vorliegenden Falle die an sich gegebene Zuständigkeit der Beklagten beseitigt, es komme also der Bindungswirkung dieses Bescheides eine die Zuständigkeitsregelung des § 1311 Abs. 1 RVO verdrängende stärkere Rechtswirkung zu. Das LSG beruft sich insoweit zu Unrecht auf das BSG-Urteil in Bd. 9, 171, 178; denn dort wird lediglich im Zusammenhang mit den Erwägungen, die den vorliegenden Verwaltungsakt als nicht nichtig erscheinen lassen, von einer Heilung des Zuständigkeitsmangels gesprochen. Wenn das LSG die Bindungswirkung des Bescheides der Beigeladenen für rechtlich bedeutsamer ansieht als die Zuständigkeitsregelung des § 1311 RVO und allein danach die Verpflichtung zur Zahlung der Witwenrente beurteilt, so trägt es dabei nicht genügend der Tatsache Rechnung, daß die Beklagte entsprechend dieser Zuständigkeitsregelung die Verpflichtung zur Zahlung der Witwenrente in einem (neuen) Bescheid übernommen hat und daß die Rechtmäßigkeit dieses Bescheides nicht schon deshalb verneint werden kann, weil zuvor die unzuständige Beigeladene die Leistung festgesetzt hatte. Die Bindungswirkung des früheren Bescheides der Beigeladenen hat zwar deren Leistungspflicht begründet, solange sie gezahlt hat. Dadurch ist aber an der Leistungspflicht des an sich zuständigen Versicherungsträgers, nämlich der Beklagten, nichts geändert worden. Der erkennende Senat teilt die Rechtsauffassung des 4. Senats, der in seinem Urteil vom 31. Januar 1967 (SozR Nr. 7 zu § 1311 RVO) ausgeführt hat, die Zuständigkeitsregelung des § 1311 Abs. 1 RVO könne durch das Verwaltungshandeln eines Versicherungsträgers nicht außer Kraft gesetzt werden. Das bedeutet, daß die gesetzliche Zuständigkeit weder durch Vereinbarung der Versicherungsträger untereinander noch durch einseitiges Handeln eines nicht zuständigen Versicherungsträgers beeinflußt werden kann. Die - bisher nicht wahrgenommene - Befugnis zu einer abweichenden Regelung, die der Bundesminister für Arbeit in § 1311 Abs. 3 RVO erhalten hat, steht dem nicht entgegen. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Entscheidung des früheren Reichsversicherungsamts (RVA) Nr. 1683 (AN 1913 S. 406), auf die sich das SG berufen hat. Denn dort ist nur gesagt, das Anerkenntnis einer Versicherungsanstalt über die Rechtsgültigkeit der Markenverwendung nach § 1445 Abs. 2 Satz 2 RVO aF (jetzt § 1423 Abs. 3 Satz 2 RVO) binde auch alle übrigen Versicherungsanstalten, welche in die Lage kommen, zu einem Rentenanspruch Stellung zu nehmen. Im vorliegenden Rechtsstreit handelt es sich indessen nicht um ein Anerkenntnis solcher Art, sondern um die irrtümliche Annahme der Beigeladenen, daß sie zum Verwaltungshandeln berufen sei. Dieser Irrtum hat aber die gesetzliche Verpflichtung der Beklagten zur Rentenzahlung nicht beseitigt. Der für eine Rentenzahlung gesetzlich zuständige Versicherungsträger wird dadurch, daß ein unzuständiger Versicherungsträger eine Rente bewilligt hat, von seiner Verpflichtung nicht frei. Die Beklagte hat daher mit Recht im Bescheid vom 1. August 1963 die Witwenrente der Klägerin festgesetzt.
Mit diesem Bescheid hat sie zu erkennen gegeben, daß sie ihre Verpflichtung zur Zahlung der Rente erfüllen will. Ihr jetziges Vorbringen steht damit nicht im Einklang. Da sie den Vorgang von der Beigeladenen übernommen hat, ohne Einwendungen zu erheben - wobei dahinstehen kann, ob sie solche hätte geltend machen können -, kann sie nunmehr die Höhe der Leistung nicht mehr zum Nachteil der Klägerin ändern; diese hat bereits durch den bindend gewordenen Bescheid der Beigeladenen in der darin genannten Höhe einen Rentenanspruch erworben. Nach einem allgemeinen Rechtsgrundsatz, wie er in zahlreichen Vorschriften der Rentenversicherungsgesetze enthalten ist (z. B. Art. 2 § 36 Abs. 1, § 38 Abs. 3 AnVNG), muß ihr dieser Besitzstand erhalten bleiben (Vertrauensschutz). Anders wäre es allenfalls dann, wenn die Beigeladene ihren Bescheid vom 18. November 1958 auch zuungunsten der Klägerin hätte ändern dürfen. Diese Möglichkeit scheidet aber aus, weil die höhere Leistung gerade durch die unzuständigerweise erfolgte Rentenfestsetzung der Beigeladenen bedingt war, also allein in den Verantwortungsbereich des Versicherungsträgers fällt. Der erkennende Senat folgt im Ergebnis der Rechtsprechung des 4. Senats, der für einen gleichliegenden Sachverhalt entschieden hat (vgl. aaO), die Übernahme der Leistung durch den zuständigen Versicherungsträger habe bei fehlerhafter Berechnung der Rente durch den anderen - unzuständigen - Versicherungsträger zur Folge, daß der zuständige Versicherungsträger auch für die fehlerhafte Rentenberechnung eines anderen Versicherungsträgers dem Berechtigten gegenüber einzustehen hat. Ob sich dieses Ergebnis - wie der 4. Senat des BSG in dem erwähnten Urteil angenommen hat - schon aus dem Gedanken einer "Funktionseinheit" der Versicherungsträger herleiten läßt (ähnliche Erwägungen finden sich auch im Urteil des 12. Senats vom 1. November 1968 - 12 RJ 342/66), kann dahinstehen; es rechtfertigt sich jedenfalls aus der Tatsache die Übernahme der Leistungspflicht unter den gegebenen Umständen. Diese Übernahme darf sich nicht zum Nachteil der in ihrem Vertrauen auf Bestand und Höhe der Rente geschützten Berechtigten auswirken. Die Beklagte hat daher bei der Festsetzung der Witwenrente der Klägerin die von der Beigeladenen angewandte Berechnungsweise zugrunde zu legen.
Das Ergebnis, nämlich die Weiterzahlung der Rente in der bisherigen Höhe, wäre im übrigen das gleiche, wenn die Beklagte im Rahmen der nach Art. 6 § 6 Abs. 1 und 4 a FANG erfolgten Neufeststellung der Rente auch die der Wahrung des Besitzstandes dienende Vorschrift in § 7 dieses Artikels beachtet hätte; diese Vorschrift wäre - mindestens sinngemäß - anzuwenden gewesen, weil jedenfalls die Art der Berechnung der von der Beigeladenen festgesetzten Leistung nicht unrichtig war (vgl. Urteil des 4. Senats vom 3. Februar 1966 - SozR Nr. 1 zu Art. 6 § 7 FANG).
Mit der Verurteilung der Beklagten zur Zahlung der Rente an die Klägerin, entfällt die bisherige Zahlungsverpflichtung der Beigeladenen. Demgemäß kann dem Antrag der Klägerin auf Weiterzahlung der Rente durch die Beigeladene nicht entsprochen werden. Vielmehr müssen die auf einer abweichenden Rechtsauffassung beruhenden vorinstanzlichen Urteile aufgehoben und unter Abweisung der Klage im übrigen der angefochtene Bescheid der Beklagten dahin geändert werden, daß sie verpflichtet ist, der Klägerin die Witwenrente in Höhe der seinerzeit von der Beigeladenen vorgenommenen Berechnung weiterzuzahlen.
Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 SGG.
Fundstellen