Leitsatz (amtlich)
Ein Nachentrichtungsrecht nach AnVNG Art 2 § 44a Abs 3 S 1 (= ArVNG Art 2 § 46 Abs 3 S 1) für ein als Voraussetzung für die Zulassung zur Ausbildung als medizinisch-technische Assistentin gefordertes "Haushaltsjahr" besteht nur dann, wenn nach der zur damaligen Zeit bestehenden Praxis diese Zeit wegen ihres Zusammenhangs mit der wissenschaftlichen Ausbildung als versicherungsfrei angesehen wurde (Fortführung von BSG vom 31.5.1978 12 RK 62/76 = SozR 5750 Art 2 § 46 Nr 3).
Normenkette
ArVNG Art 2 § 46 Abs 3 S 1 Fassung: 1972-10-16; AnVNG Art 2 § 44a Abs 3 S 1 Fassung: 1972-10-16; AVG § 12 Nr 4
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 01.04.1985; Aktenzeichen L 10 An 2858/84) |
SG Karlsruhe (Entscheidung vom 09.10.1984; Aktenzeichen S 9 An 2069/83) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin nach Art 2 § 44a Abs 3 Satz 1 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) Beiträge für ein Jahr nachentrichten darf, das sie als Voraussetzung für die Ausbildung als medizinisch-technische Assistentin in einem Haushalt abgeleistet hat (15. August 1951 bis 31. Juli 1952); in diesem Jahr war sie ihrer Ansicht nach gem § 12 Nr 4 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) in der vor 1957 in der amerikanischen Zone geltenden Fassung (aF) wegen "wissenschaftlicher Ausbildung" versicherungsfrei.
Die Beklagte hat die Zeit des Besuchs einer Staatlich anerkannten Lehranstalt für technische Assistenten in der Medizin in Tübingen vom 1. Oktober 1952 bis 28. September 1954 als Ausfallzeit vorgemerkt, jedoch für die Tätigkeit der Klägerin in einem Haushalt in der Zeit vom 15. August 1951 bis 31. Juli 1952 die Wiederherstellung von Versicherungsunterlagen abgelehnt (Bescheid vom 22. Juli 1982). Mit weiterem Bescheid vom 6. April 1983 lehnte die Beklagte außerdem den Antrag der Klägerin auf Nachentrichtung von Beiträgen nach Art 2 § 44a AnVNG für die Zeit der Haushaltstätigkeit ab. Gegen beide Bescheide wurde erfolglos Widerspruch eingelegt (Widerspruchsbescheid vom 15. Juli 1983).
Klage und Berufung, mit denen die Klägerin nur noch die Zulassung zur Nachentrichtung von Beiträgen begehrte, blieben ebenfalls ohne Erfolg (Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe -SG- vom 9. Oktober 1984; Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg -LSG- vom 1. April 1985). Das LSG hat die Auffassung vertreten, daß zwar auch praktische Tätigkeiten nach dem damals in Tübingen noch gültigen Art 12 Nr 4 AVG aF im Falle eines Zusammenhangs mit wissenschaftlicher Ausbildung versicherungsfrei waren. Es müsse sich aber dabei um Tätigkeiten gehandelt haben, die einen sachlichen Bezug zu der späteren Ausbildung gehabt hätten. Dies sei für das in § 6 Abs 4 Nr 5 der ersten Verordnung über die Berufstätigkeit und die Ausbildung medizinisch-technischer Gehilfinnen und medizinisch-technischer Assistentinnen vom 17. Februar 1940 (RGBl I S 371) für die Zulassung zu einer Lehranstalt geforderte Haushaltsjahr nicht anzuerkennen. Die Tätigkeit im Haushalt habe keine irgendwie geartete inhaltliche Beziehung zu der späteren Ausbildung als medizinisch-technische Assistentin gehabt und sei nur aus kriegswirtschaftlichen Erwägungen (Sicherung des Bedarfs an Hausangestellten) zu erklären.
Mit der Revision macht die Klägerin geltend, daß die genannte Verordnung von 1940 immerhin noch bis 1972 gegolten habe, so daß sie nicht nur unter kriegswirtschaftlichen Gesichtspunkten gesehen werden könne, zumindest nicht mehr für die Zeit nach 1945. Im übrigen rügt die Klägerin eine Verletzung des rechtlichen Gehörs, weil das Gericht eigene Sachkunde über den Zusammenhang zwischen Haushaltsjahr und Ausbildung als medizinisch-technischer Assistentin (MTA) für sich beansprucht habe, ohne die Klägerin zuvor hierauf hinzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Klägerin zur Nachentrichtung von Beiträgen gemäß Art 2 § 44a Abs 3 AnVNG für die Zeit vom 15. August 1951 bis 31. Juli 1952 zuzulassen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie verweist im wesentlichen auf das angefochtene Urteil. Im übrigen weist sie darauf hin, daß der fehlende inhaltliche Bezug von Haushaltstätigkeiten zu der MTA-Ausbildung schon im Urteil erster Instanz erörtert worden sei, so daß die Klägerin ausreichend Gelegenheit gehabt habe, hierauf einzugehen, Beweisanträge zu stellen und die im Urteil vertretene Auffassung zu widerlegen.
Beide Beteiligte haben sich damit einverstanden erklärt, daß der Rechtsstreit durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) entschieden wird.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG. Das LSG muß noch weitere Ermittlungen anstellen, ob das früher als Voraussetzung für die Ausbildung zur medizinisch-technischen Assistentin geforderte Haushaltsjahr in den Jahren 1951/1952 gem § 12 Nr 4 AVG aF als versicherungsfrei angesehen wurde.
Nach Art 2 § 44a Abs 3 Satz 1 AnVNG haben diejenigen Personen, die vor dem 1. März 1957 während der wissenschaftlichen Ausbildung für ihren künftigen Beruf nicht pflichtversichert waren, das Recht, abweichend von § 140 Abs 1 AVG für die Zeiten der Versicherungsfreiheit, längstens jedoch bis zum 1. Januar 1924 zurück, Beiträge nachzuentrichten, soweit diese Zeiten nicht bereits mit Beiträgen belegt sind. Diese Nachentrichtungsmöglichkeit schafft einen Ausgleich dafür, daß (ua) nach § 12 Nr 4 AVG aF, Personen, die zu ihrer wissenschaftlichen Ausbildung für den zukünftigen Beruf gegen Entgelt tätig waren, versicherungsfrei blieben.
Art 2 § 44a Abs 3 Satz 1 ANVNG gilt seinem Wortlaut nach an sich nur für Personen, die vor dem 1. März 1957 während der wissenschaftlichen Ausbildung für ihren zukünftigen Beruf nicht pflichtversichert waren; er gilt also bei enger, am Wortlaut orientierter Auslegung nur für die während der Dauer ihrer wissenschaftlichen Ausbildung an Hoch- oder Fachschulen entgeltlich Beschäftigten, insbesondere also für Werkstudenten. Gerade letztere sind jedoch auch seit dem 1. März 1957 weiterhin rentenversicherungsfrei (§ 1228 Abs 1 Nr 3 Reichsversicherungsordnung -RVO-, § 4 Abs 1 Nr 4 AVG). Die genannte Nachentrichtungsvorschrift kann deshalb nicht den Werkstudenten gelten, sondern soll offenbar denjenigen, die nach früherem Recht wegen einer der wissenschaftlichen Ausbildung dienenden Beschäftigung als versicherungsfrei angesehen wurden und deshalb Beitragslücken aufzuweisen haben, nach neuem Recht aber versicherungspflichtig sind, die Schließung ihrer Beitragslücken ermöglichen (vgl SozR 5750 Art 2 § 46 Nr 5 S 8 und Nr 11 S 29).
Wegen dieses engen Zusammenhangs, der hiernach ua zwischen § 12 AVG aF und Art 2 § 44 Abs 3 Satz 1 AnVNG besteht, kommt es für die Nachentrichtungsberechtigung entscheidend darauf an, wie seinerzeit, dh in der Zeit, in der eine Ausbildung durchlaufen wurde, für die jetzt Beiträge nachentrichtet werden sollen, das die Versicherungspflicht bzw Versicherungsfreiheit regelnde Recht ausgelegt und angewandt wurde (SozR 5750 Art 2 § 46 Nr 3).
Insoweit ist mit dem LSG davon auszugehen, daß die Ausbildung als medizinisch-technische Assistentin schon in der fraglichen Zeit den wissenschaftlichen Ausbildungen zuzurechnen war, die Versicherungsfreiheit in der Angestelltenversicherung zur Folge hatten, und daß ferner in der Rechtsprechung des RVA zu der wissenschaftlichen Ausbildung auch diejenigen Zeiten gerechnet wurden, in denen eine praktische Tätigkeit ausgeübt wurde, die zur Vorbereitung der eigentlichen wissenschaftlichen Ausbildung vorgeschrieben war. Nicht ausreichend geklärt ist jedoch noch, ob dies für jede praktische Tätigkeit galt, die in Ausbildungs- oder Prüfungsordnungen vorgeschrieben war, oder ob ein enger inhaltlicher Zusammenhang zwischen Praktikum und wissenschaftlicher Ausbildung gefordert wurde. Weder den vom LSG zitierten Entscheidungen noch der Kommentarliteratur kann insoweit eine klare Aussage entnommen werden. So wird in dem Kommentar zum AVG von Koch/Hartmann/von Altrock/Fürst (Stand Juli 1952) Anm 5a zu § 12 AVG aF unter Bezugnahme auf Rechtsprechung des RVA einerseits ausgeführt, Versicherungsfreiheit einer Tätigkeit setze eine Zweckbeziehung zwischen dieser Tätigkeit und dem zukünftigen Beruf voraus (RVA AN 1931 IV, 391); andererseits heißt es dann aber, eine Tätigkeit während einer Berufsausbildung sei auch dann versicherungsfrei, wenn sie die Berufsausbildung nur finanziell fördere (RVA AN 1934 IV, 343). Dies läßt vermuten, daß mit "Zweckbeziehung" nicht ein inhaltlicher (fachlicher) Zusammenhang gemeint war, sondern lediglich gefordert wurde, daß die Tätigkeit entweder in den Ausbildungs- und Prüfungsordnungen vorgesehen oder zur finanziellen Sicherung der Ausbildung notwendig war. Auch die vom LSG zitierten Entscheidungen des RVA sind nicht so eindeutig, wie das LSG meint. In der Entscheidung vom 26. April 1939 (AN 1939, IV, 260, 261), auf die das LSG besonders abstellt, wird lediglich zweierlei verlangt: Erstens muß die praktische Tätigkeit in der Ausbildungs- oder Prüfungsordnung als Voraussetzung für das Durchlaufen der wissenschaftlichen Ausbildung vorgeschrieben sein; zweitens muß die praktische Tätigkeit nur wegen und mit dem Ziel wissenschaftlicher Ausbildung ausgeübt werden. Versicherungsfreiheit besteht nicht, wenn sich der Beschäftigte erst während oder nach der praktischen Tätigkeit zur wissenschaftlichen Ausbildung entschließt. Ähnliches kommt in anderen Entscheidungen zum Ausdruck (vgl zB RVA AN 1938 IV, 50, 51). In einigen Entscheidungen (zB RVA AN 1929 IV, 310 ff) findet sich zwar ein Hinweis auf praktische Ausbildungen, die durchlaufen werden, um die spätere wissenschaftliche Ausbildung mit Erfolg "genießen" zu können. Es wird aber nichts dazu gesagt, ob dieser enge inhaltliche Zusammenhang stets erforderlich war (vgl auch Hoffmann/Kreil, Krankenversicherung, 9. Aufl, § 172 zu Nr 3).
Das LSG wird deshalb noch - etwa durch Anfragen bei Krankenkassen im Einzugsbereich des damaligen Beschäftigungsorts der Klägerin sowie bei Berufsverbänden und seinerzeit im Bereich des Beitragsrechts wissenschaftlich tätigen Personen, uU auch durch Prüfung von Versicherungskonten ehemaliger medizinisch-technischer Assistentinnen - versuchen müssen zu ermitteln, ob Versicherungsfreiheit auch für die als Voraussetzung der MTA-Ausbildung erforderliche Haushaltstätigkeit angenommen wurde. Sollte sich dies nicht klären lassen, so geht das zu Lasten der Klägerin (objektive Beweislast). Es wird dann also davon auszugehen sein, daß Versicherungsfreiheit wegen wissenschaftlicher Ausbildung nur für solche praktischen Tätigkeiten angenommen wurde, die einen inhaltlichen Zusammenhang mit der später durchlaufenen wissenschaftlichen Ausbildung hatten.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen