Leitsatz (amtlich)

An der Rechtsprechung, nach der ArVNG Art 2 § 55 Abs 2 aF nicht den Ablauf von 10 Jahren im Bezug der unterbewerteten Sachbezüge voraussetzt (BSG 1965-02-25 12 RJ 206/62 = SozR Nr 5 zu Art 2 § 55 ArVNG), wird festgehalten; aus der Neufassung dieser Vorschrift durch das RVÄndG läßt sich nichts Gegenteiliges herleiten.

 

Normenkette

ArVNG Art. 2 § 55 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23, Abs. 1 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Die Revision gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 10. Juni 1963 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

Die Beteiligten streiten darüber, ob das der Berechnung des Altersruhegeldes zugrunde gelegte Arbeitsentgelt um 20 v. H. zu erhöhen ist (Art. 2 § 55 Abs. 2 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes - ArVNG - aF).

Der 1897 geborene Kläger war von 1912 bis 1927 mit Unterbrechungen landwirtschaftlicher Arbeiter und von November 1927 an Fabrikarbeiter. Durch Bescheid vom 19. April 1962 bewilligte die Beklagte dem Kläger das Altersruhegeld vom 1. März 1962 an. Sie lehnte gleichzeitig eine Erhöhung der für die vom Kläger in der Landwirtschaft zurückgelegten Versicherungszeiten maßgeblichen Arbeitsentgelte um 20 v. H. ab, weil der Kläger für diese Zeiten keine 520 Wochenbeiträge (= 10 Jahre) nachgewiesen habe, wie es Art. 2 § 55 Abs. 2 ArVNG aF in Verbindung mit Abs. 1 dieser Vorschrift erfordere.

Mit seiner Klage hat der Kläger u. a. beantragt, die Beklagte zu verurteilen, der Berechnung der für ihn maßgebenden Rentenbemessungsgrundlage für die in der Landwirtschaft anerkannten Beschäftigungszeiten ein Arbeitsentgelt zugrunde zu legen, das um 20 v. H. gegenüber dem nachgewiesenen Arbeitsentgelt erhöht sei. Das Sozialgericht (SG) hat der Klage insoweit stattgegeben, im übrigen sie abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die hiergegen eingelegte Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Es hat dazu ausgeführt: In Übereinstimmung mit der Beklagten und dem Urteil des SG sei von einer Versicherungszeit des Klägers in landwirtschaftlichen Unternehmen von 367 Wochen auszugehen. Bei Anwendung des Art. 2 § 55 Abs. 2 ArVNG aF werde aber im Gegensatz zu Abs. 1 dieser Vorschrift der Nachweis einer wenigstens 10jährigen Beschäftigung in der Landwirtschaft (= 520 Wochen) nicht gefordert.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Mit der Revision beantragt die Beklagte,

die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Sie rügt, das LSG habe Art. 2 § 55 Abs. 2 ArVNG aF unrichtig angewendet. Aus Art. 2 § 55 Abs. 2 ArVNG in der Fassung des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes (RVÄndG) vom 9. Juni 1965, wonach für Versicherungsfälle vom 1. Januar 1957 an die Erhöhung nur dann vorzunehmen sei, wenn während mindestens 5 Jahren neben Barlohn Sachbezüge gewährt worden seien, sei zu schließen, daß vorher entsprechend dem Wortlaut der früheren Fassung des Art. 2 § 55 Abs. 2 ArVNG 10 Jahre gefordert worden seien. Nach dem RVÄndG könne die erhöhte Leistung an den Kläger frühestens vom 1. Juli 1965 an gewährt werden, streitig sei deshalb noch der Erhöhungsanspruch vom Rentenbeginn bis 30. Juni 1965.

Der Kläger hat sich im Revisionsverfahren nicht durch einen beim Bundessozialgericht (BSG) zur Vertretung zugelassenen Prozeßbevollmächtigten vertreten lassen.

Die Revision ist zulässig, aber unbegründet.

Für die in diesem Rechtsstreit zu treffende Entscheidung ist von der vom 1. Januar 1957 bis zum 30. Juni 1965 in Kraft gewesenen Fassung des Art. 2 § 55 Abs. 2 ArVNG auszugehen. Die durch das RVÄndG neu gestaltete Gesetzesbestimmung gilt zwar auch für Versicherungsfälle vor dem 1. Juli 1965 (Art. 5 § 4 Abs. 1 RVÄndG), ist aber erst mit Wirkung von diesem Tag an in Kraft getreten (Art. 5 § 10 Abs. 1 Buchst. e RVÄndG).

Nach Art. 2 § 55 Abs. 2 ArVNG aF ist der Berechnung der für den Versicherten maßgebenden Rentenbemessungsgrundlage auf Antrag für Zeiten vor dem 1. Januar 1957, für die der Versicherte die Voraussetzungen des Art. 2 § 55 Abs. 1 ArVNG aF nachweist, ein Arbeitsentgelt zugrunde zu legen, das gegenüber dem nachgewiesenen Arbeitsentgelt um 20 v. H. erhöht ist. In Art. 2 § 55 Abs. 1 ArVNG aF ist u. a. bestimmt: Weist der Versicherte nach, daß für ihn ... während mindestens 10 Jahren Beiträge für eine versicherungspflichtige Beschäftigung in einem landwirtschaftlichen Unternehmen ... entrichtet worden sind und ihm während dieser Zeit neben Barbezügen als Sach- oder Dienstleistungen freier Unterhalt (Kost und Wohnung) oder entsprechend Sachbezüge gewährt wurden, so ist die ... umgestellte Rente um 10 v. H. zu erhöhen.

Aus der Fassung des Art. 2 § 55 ArVNG aF und der Fassung dieser Vorschrift, die sie durch das RVÄndG erhalten hat, zieht die Beklagte den Schluß, Abs. 2 des Art. 2 § 55 ArVNG aF verweise durch seinen Wortlaut für die Zeit bis zum 30. Juni 1965 auch auf den Zehnjahreszeitraum des Art. 2 § 55 Abs. 1 ArVNG aF. Bei der Prüfung dieser - in der Rechtsprechung und im Schrifttum umstrittenen - Frage ist vom Zusammenhang, in dem sich die Vorschrift im Gesetz befindet, und von ihrem Sinn und Zweck auszugehen. Sinn und Zweck der Vorschrift ergeben, daß Art. 2 § 55 Abs. 2 ArVNG einen Ausgleich dafür schaffen will, daß früher die Entlohnung durch Sachbezüge vielfach unter ihrem wahren wirtschaftlichen Wert angesetzt worden ist. Das tatsächliche Arbeitseinkommen schlug sich infolge dieser Unterbewertung in den Beiträgen nicht ausreichend nieder. Das Ergebnis war eine Unterversicherung. Diese wirkt sich wiederum bei der Rentenberechnungsformel des geltenden Rechts nachteilig aus und drückt die Rentenbeträge. Hiergegen schafft Art. 2 § 55 ArVNG Abhilfe. Diese Abhilfe sollte unabhängig von der Dauer der unterversicherten Beschäftigung sein. Diese Auslegung der Vorschrift entspricht der bisherigen Rechtsprechung des BSG (vgl. SozR ArVNG Art. 2 § 55 Nr. 5), wonach Art. 2 § 55 Abs. 2 ArVNG aF nicht voraussetzt, daß die unterbewerteten Sachbezüge während mindestens zehn Jahren gewährt worden sind. Das genannte Urteil des BSG hat sich auch mit der Gegenmeinung auseinandergesetzt und näher dargelegt, daß ihr nicht gefolgt werden kann. Der erkennende Senat schließt sich dieser Rechtsprechung an. Für die Gegenmeinung spricht nunmehr auch nicht - entgegen der Auffassung der Beklagten - die neue, durch das RVÄndG gegebene Gesetzesfassung. Aus der Änderung ist nicht zu schließen, der Gesetzgeber habe nicht auch eine Verschärfung der Voraussetzungen für den Anspruch auf Erhöhung des zugrunde zu legenden Arbeitsentgelts in Kauf nehmen wollen. Denn er hat sich keineswegs auf den Standpunkt gestellt, das erwähnte Urteil des BSG habe seinen Vorstellungen zur früheren Fassung der Vorschrift nicht entsprochen. Er hat dieses Urteil, wie sich aus den Beratungen des Deutschen Bundestags - 176. Sitzung vom 1. April 1965, Verhandlungen des Deutschen Bundestags, 4. Wahlperiode, S. 8882 f (8863) - ergibt, als zutreffende Auslegung des Art. 2 § 55 ArVNG aF herangezogen. Auch Art. 5 § 6 RVÄndG steht dieser Auslegung nicht entgegen. Diese Vorschrift stellt klar, daß die aus dem RVÄndG resultierenden Leistungen frühestens vom 1. Juli 1965 an zu gewähren sind. Im vorliegenden Falle hat aber das RVÄndG nicht erst den Anspruch des Klägers auf eine höhere Leistung begründet. Sein Anspruch war vielmehr schon nach Art. 2 § 55 Abs. 2 ArVNG aF rechtens. Art. 5 § 6 RVÄndG wird somit für die Entscheidung dieses Rechtsstreits überhaupt nicht praktisch.

Die Beklagte hat den Art. 2 § 55 Abs. 2 ArVNG aF bei der Rentenberechnung des Klägers unrichtig angewandt. Das LSG hat unangefochten festgestellt, daß der Kläger während 367 Wochen in landwirtschaftlichen Unternehmen gegen Barlohn und Sachbezüge gearbeitet hat. Weil danach alle Voraussetzungen des Art. 2 § 55 Abs. 2 ArVNG aF hinsichtlich dieser 367 Wochen erfüllt sind, hat das LSG mit Recht die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Ihre Revision ist ebenfalls unbegründet und zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung ergeht in Anwendung des § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2380175

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