Leitsatz (amtlich)

1. Zur Beschwer bei einem Rechtsmittel und einer Klage.

2. An der Rechtsprechung, nach der ArVNG Art 2 § 55 Abs 2 aF nicht voraussetzt, daß die unterbewerteten Sachbezüge während mindestens 10 Jahren gewährt worden sind (BSG 1965-02-25 12 RJ 206/62 = SozR Nr 5 zu Art 2 § 55 ArVNG und BSG 1966-05-12 4 RJ 327/63 = SozR Nr 8 zu Art 2 § 55 ArVNG), wird festgehalten.

 

Orientierungssatz

1. Die systematische Auslegung erfordert, daß die einzelnen Gesetzesbestimmungen nicht isoliert für sich, sondern in ihrem äußeren Ordnungszusammenhang und ihren inneren Verknüpfungen gesehen werden. Die inneren Sinnverbindungen eines Gesetzes wirken sich auf die Auslegung einer Einzelnorm aus. Es gilt den Gesamtwillen des Gesetzes zu erfassen und von daher die Einzelnorm in rechter Weise einzuordnen.

2. Zur Bedeutung der "weiteren Rechtsentwicklung" bei der Auslegung von Gesetzen.

 

Normenkette

ArVNG Art. 2 § 55 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; SGG § 54 Fassung: 1953-09-03, § 143 Fassung: 1953-09-03, § 160 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 19. November 1963 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten auch des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Berechnung der für den Versicherten maßgebenden Rentenbemessungsgrundlage für Zeiten vor dem 1. Januar 1957 nach Art. 2 § 55 Abs. 2 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) alter Fassung (aF) - das heißt der bis zum Rentenversicherungs-Änderungsgesetz vom 9. Juni 1965 (BGBl I 476) geltenden Fassung - nur in Betracht kommt, wenn für den Versicherten während mindestens 10 Jahren Beiträge für eine versicherungspflichtige Beschäftigung in einem landwirtschaftlichen Unternehmen entrichtet worden sind oder ob es der Beachtung dieser Zehnjahresfrist nicht bedarf.

Die Beklagte berücksichtigte bei der Festsetzung des Altersruhegeldes des Klägers wegen Vollendung des 65. Lebensjahres ab Februar 1961 auch Beitragszeiten vom Dezember 1920 bis April 1928, in denen der Kläger auf zwei Gütern auf der Insel Rügen als Deputatarbeiter beschäftigt gewesen ist. Während dieser Zeit sind 368, nach der Meinung des Klägers sogar 411 Wochenbeiträge entrichtet worden. Die Beklagte lehnte den Antrag des Klägers, ihm für diese Zeiten nach Art. 2 § 55 Abs. 2 ArVNG aF ein um 20 v. H. gegenüber dem nachgewiesenen Arbeitsentgelt erhöhtes Arbeitsentgelt anzurechnen, ab, weil der Kläger nicht mindestens 10 Jahre oder 520 Wochen in einem landwirtschaftlichen Unternehmen versicherungspflichtig beschäftigt gewesen sei (Bescheid vom 5. Juni 1962; Widerspruchsbescheid vom 17. September/22. Oktober 1963). Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 15. Januar 1963). Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) dieses Urteil und die beiden Bescheide der Beklagten aufgehoben sowie die Beklagte verurteilt, das Altersruhegeld des Klägers neu zu berechnen und dabei für die auf Dezember 1920 bis April 1928 entfallenden Beiträge Arbeitsentgelte zugrunde zu legen, die gegenüber den nachgewiesenen um 20 v. H. erhöht sind.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat Revision eingelegt. Sie rügt insbesondere Verletzung des Art. 2 § 55 Abs. 2 ArVNG aF.

Sie beantragt

das Urteil des LSG Niedersachsen vom 19. November 1963 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Lüneburg vom 15. Januar 1963 zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

II

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.

1. Die Beklagte hat in mehrfacher Hinsicht für Teile des Begehrens des Klägers dessen Beschwer in Zweifel gezogen. Unschädlich ist es, daß die Beklagte ihre Bedenken zur Beschwer des Klägers erst nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist geltend gemacht hat. Denn die Gerichte haben von Amts wegen die besonderen und allgemeinen Sachurteilsvoraussetzungen (Prozeßvoraussetzungen), die ihrem Wesen nach unverzichtbar sind, zu prüfen (vgl. Rosenberg, Lehrbuch des Deutschen Zivilprozeßrechts, 9. Aufl. 1961, S. 429; Haueisen, Die Beachtung nicht gerügter Verfahrensmängel durch das Revisionsgericht, NJW 1961, S. 2329, hier S. 2330).

Die Revision hält den Kläger durch den angefochtenen Bescheid für nicht beschwert; sie bezweifelt ferner die Beschwer des Klägers für die Berufung, glaubt aber ihre Beschwer für das Rechtsmittel der Revision annehmen zu können. Für bestimmte Zeiten führe eine Erhöhung der nachgewiesenen Arbeitsentgelte um 20 v. H., wie dies Art. 2 § 55 Abs. 2 ArVNG aF vorgesehen habe, nicht zu einer anderen Beitragsklasse und daher auch nicht zu einer höheren Rente des Klägers, wie sich im einzelnen aus folgendem ergebe: Gehe man davon aus, daß die am 1. Januar 1922 aufgerechnete Versicherungskarte Nr. 1 entsprechend der Behauptung des Klägers Beiträge vom 1. Dezember 1920 an enthalte, dann seien die in der Aufrechnungsbescheinigung dieser Karte vermerkten 43 Beiträge der Klasse V solche vor der Inflation. Da es sich bei der Klasse V um die höchste Beitragsklasse gehandelt habe, könne selbst bei Erhöhung des der Entrichtung dieser Beiträge zugrunde liegenden Arbeitsentgelts keine höhere Beitragsklasse in Betracht gezogen werden. Die weiteren 13 in dieser Karte vermerkten Beiträge E enthielten als Inflationsbeiträge ohnehin keine Werteinheiten und seien damit insoweit für die Rentenberechnung unergiebig. Die am 10. Februar 1923 aufgerechnete Versicherungskarte Nr. 2 enthalte lediglich Inflationsbeiträge, bei denen wegen der fehlenden Werteinheiten eine Erhöhung des Arbeitsentgeltes ausscheide. Entsprechendes gelte auch für die in der am 4. Januar 1924 aufgerechneten Versicherungskarte Nr. 3 nachgewiesenen Inflationsbeiträge. Soweit in dieser Karte ein Beitrag der Klasse 2 enthalten sei, liege dieser Beitragsentrichtung nach der Verordnung vom 21. Dezember 1923 ein Wochenverdienst von 10 bis 15 Rentenmark zugrunde. Wenn dieser Wochenverdienst um 20 v. H. erhöht werden würde, würde er in seinem niedrigsten Wert noch in der Lohnklasse 2 liegen, in seinem Höchstwert aber in der Lohnklasse 3. Es könne hier jedoch nur der Mittelwert des Entgelts zugrunde gelegt werden, weil der Gesetzgeber in einem entsprechenden Falle, nämlich in § 1260 a der Reichsversicherungsordnung (RVO), einen solchen Mittelwert als maßgeblich bezeichnet habe. Der um 20 v. H. erhöhte Mittelwert von 12,50 Rentenmark der Lohnklasse 2 würde bei Erhöhung um 20 v. H. 15 Rentenmark betragen, also noch in dem Bereich der Lohnklasse 2 liegen. Entsprechendes gelte schließlich noch für 3 Beiträge der Klasse 2 in der Versicherungskarte Nr. 4. Insgesamt fehle dem Kläger, meint die Revision, für den Inhalt der Versicherungskarten Nr. 1 bis 3 und für die in der Versicherungskarte Nr. 4 enthaltenen 3 Beiträge der Klasse 2 die Beschwer.

Was zunächst die Beschwer der Beklagten für das Rechtsmittel der Revision anlangt, so ist diese nicht zu bezweifeln, und zwar unabhängig davon, ob man der Lehre von der formellen Beschwer oder derjenigen von der materiellen Beschwer folgt. Nach der Lehre von der formellen Beschwer ist eine Beschwer des Rechtsmittelklägers anzunehmen, wenn ihm die gerichtliche Entscheidung etwas versagt, was er im vorausgegangenen Rechtszug beantragt hat; die Beschwer ergibt sich aus dem Vergleich der Anträge des jetzigen Rechtsmittelklägers in der Vorinstanz und dem der Rechtskraft fähigen Inhalt der Entscheidung (RGZ 100, 208; RG Gruch Beitr. 62, 656; BGHZ 38, 290 unter Berufung auf Baumbach-Lauterbach; Baumbach-Lauterbach, ZPO, 29. Aufl., Grundzüge 3 vor § 511; Baur, Zur "Beschwer" im Rechtsmittelverfahren des Zivilprozesses in Festschrift für Friedrich Lent zum 75. Geburtstag, 1957, S. 16; Lent, Anmerkungen JZ 1953, 276 und 1955, 423; Lent-Jauernig, Zivilprozeßrecht, 12. Aufl. 1965, S. 205; Nikisch, Zivilprozeßrecht, 2. Aufl. 1952, S. 469 f; Rosenberg, aaO, S. 660 ff; Peters-Sautter-Wolff, Komm. zur Sozialgerichtsbarkeit, § 143 Anm. 1 b S. III/2, Anm. 4 S. III/11).

Der hiernach erforderliche Vergleich des Antrags der Revisionsklägerin im Berufungsverfahren mit dem der Rechtskraft fähigen Inhalt des angefochtenen Urteils ergibt folgendes: Die Beklagte hatte im Berufungsverfahren beantragt, die Berufung des Klägers zurückzuweisen. Sie widersetzte sich damit dem Bestreben des Klägers auf Zugrundelegung eines um 20 v. H. erhöhten Arbeitsentgeltes für die Zeit von Dezember 1920 bis April 1928. Demgegenüber hat das LSG in dem mit der Revision angefochtenen Urteil dem Antrag des Klägers entsprochen, die um 20 v. H. erhöhten Arbeitsentgelte für die genannte Zeit zu berücksichtigen. Der Vergleich zwischen dem Antrag der Beklagten und dem Entscheidungsausspruch des Urteils des LSG ergibt demnach, daß die Beklagte in formeller Hinsicht beschwert ist. Diese Beschwer der Beklagten für die Revision läßt sich nicht teilweise dadurch ausräumen, daß die Beklagte auch unter Berücksichtigung aller in den Versicherungskarten Nr. 1 bis 3 enthaltenen Beiträge und der in der Versicherungskarte Nr. 4 enthaltenen 3 Beiträge der Klasse 2 keine höheren Beitragsklassen und damit keine höheren Werteinheiten errechnet hat. Es kann offenbleiben, ob die Anwendung der Vorschrift des Art. 2 § 55 Abs. 2 ArVNG aF auf die von der Beklagten genannten Beiträge zu für den Kläger günstigeren Beitragsklassen und damit zu anderen Werteinheiten führt oder ob dies nicht der Fall ist. Dem Kläger lag und liegt nämlich nur an einer Verurteilung der Beklagten dem Grunde nach; auf die Berechnung der Höhe der Rente kam und kommt es ihm im anhängigen Verfahren nicht an, so daß es ohne Belang ist, ob man die Klage als verbundene Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs. 1 und 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) oder als Anfechtungs- und Verpflichtungsklage nach § 54 Abs. 1 SGG verstehen soll, denn in beiden Fällen ist es als Folge der Verurteilung des Versicherungsträgers dessen Aufgabe, die Rente des Klägers nunmehr im einzelnen der Höhe nach zu berechnen.

Ebenso wie die Beklagte nach der Lehre von der formellen Beschwer für die Revision beschwert ist, ist sie es auch nach der Lehre von der materiellen Beschwer. Diese Lehre läßt die vom jetzigen Rechtsmittelkläger in der Vorinstanz gestellten Anträge außer Betracht, da das Gericht nur auf die Prozeßbitte des Klägers, nicht aber auf den Anweisungsantrag des Beklagten zu entscheiden habe. Für die Lehre von der materiellen Beschwer ist es allein entscheidend, ob der Beklagte mit seinem Rechtsmittel "eine günstigere Stellung" erstrebt (vgl. BGH JZ 1953, 276; BGH JZ 1955, 423 = NJW 1955, 545; Ascher, Die Beschwer des Rechtsmittelklägers also Voraussetzung der Zulässigkeit des Rechtsmittels, MDR 1953, 584; Blomeyer, Zivilprozeßrecht, 1963 S. 514 f; Habscheid, NJW 1964, 234; Nicolini, NJW 1955, 616 f; Stein-Jonas-Pohle, ZPO, 18. Aufl., § 511 II A 2; Thomas-Putzo, ZPO, 2. Aufl. 1965, Vorbemerkung § 511 IV 2; a. M. Lent, Besprechungen der BGH-Urteile, JZ 1953, 276 und 1955, 423; Baur, aaO, S. 1 ff, 14, 16). Daß dies hier angesichts der Verurteilung der Beklagten durch das Berufungsgericht der Fall ist, bedarf keiner weiteren Begründung.

Die Beschwer des Klägers für die Berufung läßt sich entgegen der Auffassung der Beklagten auch nicht teilweise in dem von dieser bezeichneten Umfang in Abrede stellen. Nach der hier allein in Betracht kommenden Lehre von der formellen Beschwer - die Lehre von der materiellen Beschwer scheidet aus, weil sie eine hier nicht vorliegende Berufung der Beklagten voraussetzen würde - ist der Kläger für die Berufung beschwert, weil das SG entgegen dem Antrag des Klägers es abgelehnt hatte, die streitigen Arbeitsentgelte dem Grunde nach um 20 v. H. zu erhöhen.

Schließlich ist der Kläger auch durch den angefochtenen Bescheid beschwert, weil ihm die Beklagte die beantragte Verbesserung der unterbewerteten Bezüge um 20 v. H. nach Art. 2 § 55 Abs. 2 ArVNG aF schlechthin verweigert und er sich hiergegen mit der Behauptung zur Wehr gesetzt hatte, er sei durch den Bescheid der Beklagten beschwert (vgl. Peters-Sautter-Wolff, aaO, § 54 Anm. 2 d S. 178).

2. In der Sache selbst sieht sich der Senat nicht veranlaßt, von der bisherigen Rechtsprechung zu Art. 2 § 55 Abs. 2 ArVNG aF abzuweichen.

Nach Art. 2 § 55 Abs. 2 ArVNG aF ist der Berechnung der für den Versicherten maßgebenden Rentenbemessungsgrundlage auf Antrag für Zeiten vor dem 1. Januar 1957, für die der Versicherte die Voraussetzungen des Art. 2 § 55 Abs. 1 ArVNG nachweist, ein Arbeitsentgelt zugrunde zu legen, das um 20 v. H. gegenüber dem nachgewiesenen Arbeitsentgelt erhöht ist. In Art. 2 § 55 Abs. 1 ArVNG aF ist u. a. bestimmt: "Weist der Versicherte nach, daß für ihn vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes während mindestens zehn Jahren Beiträge für eine versicherungspflichtige Beschäftigung in einem landwirtschaftlichen Unternehmen (§ 915 Abs. 1 Buchstabe a der Reichsversicherungsordnung) ... entrichtet worden sind und ihm während dieser Zeit neben Barbezügen als Sach- oder Dienstleistungen freier Unterhalt (Kost und Wohnung) oder entsprechend Sachbezüge gewährt wurden, so ist die ... Rente ohne Kinderzuschuß um 10 vom Hundert zu erhöhen; ...".

Die hier maßgebliche Streitfrage, ob auch in Abs. 2 des Art. 2 § 55 ArVNG aF wie in Abs. 1 dieser Vorschrift vorausgesetzt wird, daß die unterbewerteten Sachbezüge während mindestens zehn Jahren gewährt worden sind, hat der erkennende Senat bereits in seinem Urteil vom 25. Mai 1965 - 12 RJ 206/62 - (SozR ArVNG Art. 2 § 55 Nr. 5) verneint. Er hat in diesem Urteil u. a. ausgeführt, der Wortlaut der streitigen Vorschrift sei nicht eindeutig; nach dem Wortlaut des Abs. 2 aaO sei es zum mindesten nicht auszuschließen, daß die Zeiten, für die der Versicherte die Voraussetzungen des Abs. 1 aF nachweisen muß, nicht mindestens zehn Jahre gedauert zu haben brauchen; wegen des nicht eindeutigen Wortlauts des Abs. 2 müßten bei dessen Auslegung um so mehr der Zusammenhang, in dem die Vorschrift im Gesetz stehe, und ihr Zweck unter Beachtung des Auslegungsergebnisses berücksichtigt werden; Zusammenhang und Zweck nötigten zu der Auslegung, daß Abs. 2 die in ihm vorgesehene Erhöhung des Arbeitsentgelts unabhängig von der Dauer der unterversicherten Beschäftigung vorschreibe; die darin liegende Abweichung von der in Abs. 1 getroffenen Regelung sei wohlbegründet, weil dort die Dinge völlig anders lägen; der Gesetzgeber habe bei der Umstellung der alten Renten eine die Rentenversicherungsträger nicht zu sehr mit Verwaltungsarbeit belastende, verhältnismäßig leicht durchführbare, wenn auch grobe Lösung finden müssen; er habe sie mit der pauschalen Erhöhung der umgestellten Rente um 10 v. H. gefunden; es sei aber selbstverständlich, daß eine solche Erhöhung der gesamten Rente nur bei recht erheblichen Zeiträumen mit unterbewerteten Sachbezügen vertretbar sei, nicht aber bei einer nur geringen Dauer dieser Zeiten; während in Abs. 1 das Erfordernis mindestens zehnjähriger Dauer sinnvoll sei, könne von einer solchen oder ähnlichen Zwangslage des Gesetzgebers bei Abs. 2 jedoch keine Rede sein.

Gegenüber dieser Rechtsprechung des erkennenden Senats macht die Revision unter Hinweis auf Ausführungen von Söchting in SozVers 1966, 292 insbesondere geltend, die Argumentation des erkennenden Senats, "Zusammenhang und Zweck der Vorschrift nötigen vielmehr zu der Auslegung, daß Abs. 2 die in ihm vorgesehene Erhöhung des Arbeitsentgelts unabhängig von der Dauer der unterversicherten Beschäftigung vorschreibt", zeige sicher einen "logischen Zusammenhang auf", jedoch lasse sich ein Gesetz nicht immer "aus der Logik heraus" auslegen. Es müsse deshalb für die Gesetzesauslegung in erster Linie auf den erkennbaren Willen des Gesetzgebers zurückgegriffen werden, was das Bundessozialgericht (BSG) hier unterlassen habe. Indes habe es dies auch nicht gekonnt, weil ihm die Vorstellungen des Gesetzgebers nicht bekannt geworden seien. Eine unklare, mehrdeutige Vorschrift mit dem Sinn des allgemeinen Gesetzesrahmens, in dem die auszulegende Vorschrift steht, zu deuten, heiße, zu verkennen, daß Gesetze nicht immer logisch seien und daß der Gesetzgeber mitunter gewisse Härten absichtlich oder auch unabsichtlich einbaue, die dann später evtl. durch ein neues Gesetz beseitigt oder gemildert würden.

Demgegenüber ist auf folgendes hinweisen: Maßgebend für die Auslegung einer Gesetzesvorschrift ist der in dieser zum Ausdruck gelangende objektivierte Wille des Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den diese hineingestellt ist (BVerfGE 1, 299, 312; 8, 274, 307; 10, 234, 244; 11, 126, 130; 19, 354, 362; BGHZ 33, 321, 330; 36, 370, 377; 37, 58, 60; 46, 74, 76; BGHSt 17, 21, 23; 20, 104, 107). Dem Ziel, den objektivierten Willen des Gesetzgebers zu erfassen, dienen die nebeneinander zulässigen, sich gegenseitig ergänzenden Methoden der Auslegung aus dem Wortlaut der Norm, aus dem systematischen Zusammenhang, aus der Entstehungsgeschichte und aus ihrem Zweck (BVerfGE 11, 126, 130). Man spricht insoweit auch von sprachlich-grammatischer, systematischer, historischer und teleologischer Interpretation. Regelmäßig wird - so hat es auch der erkennende Senat gehalten - mit der Auslegung nach dem Wortlaut begonnen (BGHZ 46, 74, 76; BGHSt 14, 116, 118; 18, 151, 152; 19, 158, 159).

Daß sprachlich-grammatisch die streitige Vorschrift mehreren Auslegungen zugänglich ist, hat der Senat ausgeführt. Die Revision bezweifelt das nicht.

Die systematische Auslegung erfordert, daß die einzelnen Gesetzesbestimmungen nicht isoliert für sich, sondern in ihrem äußeren Ordnungszusammenhang und ihren inneren Verknüpfungen gesehen werden. Die inneren Sinnverbindungen eines Gesetzes wirken sich auf die Auslegung einer Einzelnorm aus. Es gilt den Gesamtwillen des Gesetzes zu erfassen und von daher die Einzelnorm in rechter Weise einzuordnen. Dem Willensziel, von dem sich der Gesetzgeber bei Abfassung der Normen der Rentenversicherungs-Neuregelungsgesetze leiten ließ, war bei den Neurenten - nur auf sie bezieht sich Art. 2 § 55 Abs. 2 ArVNG aF - die Rente nach der Lebensarbeitsleistung des Versicherten zu bemessen. Der Senat hat dieses Ziel ausdrücklich genannt (aaO. Bl. A a 3 Rückseite) und damit der systematischen Auslegung den ihr gebührenden Platz eingeräumt.

Die Entstehungsgeschichte des Art. 2 § 55 Abs. 2 ArVNG aF gibt für die hier streitige Frage nichts her (vgl. die Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 2. Wahlperiode, 1953, Stenographische Berichte, Band 34, 186. Sitzung vom 18.1.1957, S. 10451, 10568 f). Auch die Revision und Söchting (aaO, 293, rechte Spalte oben) erkennen dies. Es ist daher verständlich, daß der erkennende Senat in seinem Urteil auf die unergiebige Entstehungsgeschichte der Norm nicht eingegangen ist.

Aus der teleologischen Interpretationsweise läßt sich auch nichts gegen die Auslegung durch den Senat einwenden. Mit der teleologischen Interpretation soll unter Berücksichtigung des Rechtssystems, der Rechtsgeschichte und des Willens des Gesetzgebers die in dem Rechtssatz zum Ausdruck gekommene Wertung der Interessen ermittelt werden (vgl. zB Wolff, Verwaltungsrecht I, 2. Aufl. 1958, S. 111). Auch das ist geschehen. Dabei hat der Senat die unterschiedliche Interessenlage nach Abs. 1 und Abs. 2 beachtet (aaO, Bl. 4).

Wenn die Revision dem Gesetzgeber letztlich unlogisches, sogar bewußtes Fehlgehen im Gesetzgebungsakt zuschreiben will, kann ihr darin nicht gefolgt werden. Daß der Gesetzgeber sich so hat verhalten wollen, hat die Revision im einzelnen nicht dargetan. Regelmäßig ist dem Gesetzgeber nicht zu unterstellen, daß er Gesetzgebungsakte setzen will, die in ihrer Anwendung zu sinnwidrigen, unvernünftigen Ergebnissen führen.

Die Revision will ihren Standpunkt ferner mit der Entstehungsgeschichte der Änderung des Art. 2 § 55 Abs. 2 ArVNG durch das Rentenversicherungs-Änderungsgesetz (RVÄndG) belegen. Sie hält dem Urteil des 4. Senats des BSG vom 12. Mai 1966 - 4 RJ 327/63 - (SozR ArVNG Art. 2 § 55 Nr. 8), mit dem sich der 4. Senat der Rechtsprechung des erkennenden Senats angeschlossen und ausgesprochen hat, aus der Neufassung der Vorschrift des Art. 2 § 55 Abs. 2 ArVNG lasse sich nichts Gegenteiliges entnehmen, entgegen, in diesem Urteil sei nur ein Teil der Entstehungsgeschichte des RVÄndG herausgegriffen worden. Der Gang des Gesetzgebungsverfahrens erschöpfe sich aber nicht in der 2. und 3. Lesung des Bundestages, sondern Regierungsentwurf, Stellungnahme des Bundesrates und Gegenstellungnahme der Bundesregierung sowie das Ergebnis der Ausschußberatungen umfaßten den wesentlichen und mitunter - so jedenfalls hier - entscheidende und wesentliche Hinweise gebenden Teil der Entstehungsgeschichte.

Der Revision kann zugegeben werden, daß, wenn auch mit der gebotenen Vorsicht und Zurückhaltung, ebenfalls die Entstehungsgeschichte eines Gesetzesvorschrift zu deren Auslegung heranzuziehen ist (vgl. Enneccerus-Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Ein Lehrbuch, 1. Halbband, 15. Aufl. 1959, S. 329 f; Lehmann-Hübner, Allgemeiner Teil des BGB, 15. Aufl. 1966, S. 61 f). Die Revision hat aber nicht die Entstehungsgeschichte des Art. 2 § 55 Abs. 2 ArVNG aF im Auge, die - wie bereits festgestellt - unergiebig ist, sondern diejenige der Neufassung dieser Vorschrift durch das RVÄndG. Das ist zu scheiden. Die frühere, in diesem Verfahren maßgebliche Fassung des Art. 2 § 55 Abs. 2 ArVNG läßt sich aber entgegen der Fassung der Revision nicht anhand der Entstehungsgeschichte der Neufassung derselben Vorschrift durch das RVÄndG auslegen. Wenn auch insoweit das Vorbringen der Revision, es hätte die gesamte Entstehungsgeschichte der Neufassung des Art. 2 § 55 Abs. 2 ArVNG durch das RVÄndG zur Auslegung der früheren Fassung dieser Vorschrift mit herangezogen werden müssen, und zwar mit dem Ergebnis, daß wie in Abs. 1 derselben Vorschrift (aF) auch in Abs. 2 aF die Zehnjahresfrist zu beachten gewesen sei, keine Grundlage für die Auslegung der Vorschrift abzugeben vermag, gibt es doch Veranlassung, die Sache unter einem anderen Gesichtspunkt zu prüfen, nämlich dem der weiteren Rechtsentwicklung (vgl. BGHZ 46, 74, 83).

Diese Prüfung hat davon auszugehen, daß die Vorschrift des Art. 2 § 55 Abs. 2 ArVNG aF unterschiedlich ausgelegt werden konnte und auch ausgelegt worden ist. Im Sinne der Revision hatten sich z. B. Elsholz-Theile, Die gesetzliche Rentenversicherung, S. 449 zu 1 b und LSG Hamburg, Breithaupt 1961, 438 erklärt, während der Verbandskommentar (§ 1255 Anm. 23, 6. Ergänzung, 1. August 1963) sich gegenteilig geäußert hatte. Im Verlauf der Gesetzgebungsarbeiten am RVÄndG ist zunächst davon ausgegangen worden, daß in Art. 2 § 55 Abs. 2 ArVNG aF Abs. 1 aF vollständig in Bezug genommen worden sei (Entwurf eines Gesetzes zur Beseitigung von Härten in den gesetzlichen Rentenversicherungen, Bundestagsdrucksache IV/2572 vom 23. September 1964, S. 16, 30; Stellungnahme des Bundesrats zu Nr. 27 S. 37; Gegenäußerung der Bundesregierung zu den Änderungsvorschlägen des Bundesrats zu Nr. 27 - S. 41 -; Schriftlicher Bericht des Ausschusses für Sozialpolitik (20. Ausschuß) über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes über die Beseitigung von Härten in den gesetzlichen Rentenversicherungen, Bundestagsdrucksache IV/3233, S. 52; Schriftlicher Bericht des Ausschusses für Sozialpolitik (20. Ausschuß) zur Drucksache IV/3233, Bericht des Abgeordneten Ollesch, S. 9 f). Erst als das Urteil des erkennenden Senats vom 25. Februar 1965, in dem der Senat zu dem Auslegungsergebnis gelangt war, in Abs. 2 werde nicht die Zehnjahresfrist des Abs. 1 gefordert, den Gesetzgebungsorganen bekannt geworden war, änderte sich die Sachlage. Im Bundestag ist das Urteil des erkennenden Senats, aus dem Teile sogar verlesen worden sind, Gegenstand der Beratungen gewesen (vgl. Deutscher Bundestag, 176. Sitzung vom 1. April 1965 S. 8882 bis 8886). Es stand dem Gesetzgeber frei, wie er sich in Kenntnis des Auslegungsergebnisses des erkennenden Senats bei der Neufassung der streitigen Vorschrift verhalten wollte, insbesondere stand es ihm frei, für die Zukunft einen anderen Weg zu gehen, als ihn der erkennende Senat gegangen war. Der Gesetzgeber des RVÄndG hat aber dem Urteil sogar wesentliche Anregungen für die Neufassung entnommen. Er hat nämlich, offensichtlich wie das Urteil davon ausgehend, daß es mit den Zielen des ArVNG unvereinbar und unbillig wäre, z. B. einen landwirtschaftlichen Arbeiter mit nahezu zehn Jahren Arbeit bei unterbewerteten Sachbezügen von der in Art. 2 § 55 ArVNG aF vorgesehenen Erhöhung des Arbeitsentgelts auszuschließen, die Frist von zehn Jahren um die Hälfte auf fünf Jahre herabgesetzt, und dafür, daß immerhin eine Frist von dieser Dauer für angemessen gehalten worden ist, sind offensichtlich verwaltungsmäßige Gründe maßgebend gewesen (vgl. Gellhorn, BABl 1965, 596), Gründe also, deren Berechtigung der erkennende Senat bei seiner Entscheidung unzweideutig anerkannt hatte. Keineswegs ist das Urteil im Bundestag auf Ablehnung gestoßen. Im Gegenteil ist ihm, wenn auch nicht für die Zukunft, so doch für die Vergangenheit Respekt gezollt worden. Zusammenfassend ist daher festzustellen, daß sich aus der Rechtsentwicklung kein Hinweis dafür gewinnen läßt, wonach die von der Revision angegriffene Rechtsprechung des erkennenden Senats rückschauend zu verwerfen und daher nicht mehr anzuwenden wäre.

Die weitere Rechtsentwicklung ergibt vielmehr, wie dargetan, das Gegenteil.

Wenn es auch zutreffend ist, daß die Neufassung des Art. 2 § 55 Abs. 2 ArVNG durch das RVÄndG im Hinblick auf die streitige Fristbestimmung gegenüber der vom BSG der alten Fassung dieser Vorschrift gegebenen Auslegung wegen des nunmehr verlängerten Sachbezuges "während mindestens fünf Jahren" für die Versicherten eine Verschlechterung bringt, kann dem Gedankengang der Revision nicht gefolgt werden, das RVÄndG habe die Beseitigung von Härten zum Ziele gehabt und deshalb könne von einer Härtenbeseitigung nur gesprochen werden, wenn man entgegen der Auffassung des erkennenden Senats bei der alten Fassung des Art. 2 § 55 Abs. 2 ArVNG eine Zehnjahresfrist annehme, die dann auf fünf Jahre in der Neufassung derselben Vorschrift durch das RVÄndG gemildert worden sei. Das RVÄndG bezweckte nämlich nicht nur die Beseitigung von Härten in den gesetzlichen Rentenversicherungen. Wie bereits die vollständige Bezeichnung des Gesetzes: "Gesetz zur Beseitigung von Härten in den gesetzlichen Rentenversicherungen und zur Änderung sozialrechtlicher Vorschriften" erkennen läßt, verfolgte der Gesetzgeber einen doppelten Zweck: Die Beseitigung von Härten in den gesetzlichen Rentenversicherungen und die Änderung sozialrechtlicher Vorschriften. Auch inhaltlich entspricht dieses Gesetz der doppelten Zielsetzung (vgl. Jantz, BABl 1965, 585). Damit ist der von der Revision gezogene Schluß, die einzig richtige Auslegung der streitigen Vorschrift sei diejenige, die von einer Zehnjahresfrist ausgehe, unzutreffend.

3. Es ist also von folgendem Ergebnis auszugehen: Art. 2 § 55 Abs. 2 ArVNG aF setzt im Gegensatz zu Abs. 1 dieser Vorschrift (aF) nicht voraus, daß die unterbewerteten Sachbezüge während mindestens zehn Jahren gewährt worden sind. Im Falle des Klägers sind demnach bei der Festsetzung des Altersruhegelds für die auf Dezember 1920 bis April 1928 entfallenden Beiträge Arbeitsentgelte zugrunde zu legen, die gegenüber dem nachgewiesenen um 20 v. H. erhöht sind. Zu diesem Ergebnis ist auch das LSG gelangt, so daß sich die Revision der Beklagten als unbegründet erweist.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2290796

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