Leitsatz (amtlich)
1. Wohnung iS des ArVNG Art 2 § 55 Abs 1 aF ist auch dann gewährt worden, wenn der durch Tarifvertrag zum Überlassen von Wohnung verpflichtete Arbeitgeber die Miete für das Zimmer übernommen hat.
2. Der Anspruch auf Erhöhung der Rente nach ArVNG Art 2 § 55 Abs 1 unterliegt nicht der Verjährung.
Normenkette
ArVNG Art. 2 § 55 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 29 Abs. 3
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 26. Juli 1963 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Gewährung von Wohnung im Sinne des Art. 2 § 55 Abs. 1 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) aF auch dann vorliegt, wenn der zum Überlassen von Wohnraum verpflichtete Arbeitgeber die Miete für das Zimmer des Versicherten zahlt, und weiter darüber, ob die Verjährungsvorschrift des § 29 Abs. 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) im Rahmen der Umstellungsvorschriften des Art. 2 §§ 31 ff und § 55 Abs. 1 ArVNG angewendet werden kann.
Die 1922 geborene Klägerin ist von Beruf Hausgehilfin. Sie war in der Zeit vom 1. April 1937 bis zum 2. Juli 1942 und vom 18. August 1942 bis 1. August 1943 in Haushaltungen tätig. Am 12. August 1943 wurde sie in den Städtischen Krankenanstalten K angestellt und arbeitete dort in ihrem Beruf bis zum 9. September 1952. Durch Bescheid vom 1. September 1952 bewilligte die Beklagte der Klägerin Invalidenrente.
Im Dezember 1961 beantragte die Klägerin die Erhöhung ihrer Rente um 10 vom Hundert nach Art. 2 § 55 Abs. 1 ArVNG aF, und zwar vom 1. Januar 1957 an. Mit Bescheid vom 4. Januar 1962 lehnte die Beklagte die Erhöhung der Rente mit der Begründung ab, die Klägerin habe während ihrer Tätigkeit als Hausangestellte im Krankenhaus neben Barlohn nur freie Kost, aber keine freie Wohnung erhalten, wie dies Art. 2 § 55 Abs. 1 ArVNG aF voraussetze; die Beschäftigung im Krankenhaus müsse deshalb in diesem Zusammenhang unberücksichtigt bleiben. Die Zeit ihrer Tätigkeit in der Hauswirtschaft vom 1. April 1937 bis zum 2. Juli 1942 und vom 18. August 1942 bis zum 1. August 1943 mache jedoch nur 325 Wochen = 75 Monate aus. Damit allein sei die Voraussetzung einer mindestens 10-jährigen versicherungspflichtigen Beschäftigung in der Hauswirtschaft nicht erfüllt.
Mit der Klage hat die Klägerin vorgetragen, sie sei nicht nur während der Zeit vom 1. April 1937 - mit Unterbrechungen - bis zum 1. August 1943 in der Hauswirtschaft tätig gewesen, sondern auch in der Zeit vom 12. August 1943 bis zum 9. September 1952. Sie habe als Hausangestellte im Städtischen Krankenhaus K. tarifvertraglich einen Anspruch auf freie Kost und Wohnung gehabt und diese Leistungen auch erhalten. Sie sei zunächst mit dem Krankenhaus infolge der Kriegsereignisse nach S. in Dithmarschen verlegt worden und dort bis Dezember 1946 bei freiem Unterhalt (Kost und Wohnung) neben Barlohn tätig gewesen. Nach der Rückkehr nach K. hätten sich Unterbringungsschwierigkeiten im Krankenhaus ergeben. Sie hätte sich deshalb selbst um eine Unterkunft in der Nähe des Krankenhauses bemüht. Die Miete für das von ihr gefundene Zimmer habe ihre Arbeitgeberin, die Stadt K., übernommen. Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, der Klägerin vom 1. Januar 1957 an die erhöhte Rente zu zahlen, das Landessozialgericht (LSG) die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Es hat dazu ausgeführt: Die Klägerin habe gemäß Art. 2 § 55 Abs. 1 ArVNG aF Anspruch auf die Gewährung einer um 10 v. H. erhöhten Rente. Sie habe nachgewiesen, daß für sie vor dem Inkrafttreten des ArVNG während mindestens 10 Jahren Beiträge für eine versicherungspflichtige Beschäftigung in der Hauswirtschaft und in Krankenanstalten entrichtet worden seien und sie während dieser Zeit neben Barbezügen freien Unterhalt (Kost und Wohnung) erhalten habe. Dieser Zehnjahreszeitraum setze sich mindestens zusammen aus ihrer Tätigkeit als Hausgehilfin von April 1937 bis Oktober 1940 sowie ihrer Beschäftigung im Städtischen Krankenhaus K. als Hausangestellte vom 12. August 1943 bis 9. September 1952. Daß die Klägerin im Rahmen dieses Beschäftigungsverhältnisses auf jeden Fall bis Dezember 1946 neben freier Kost auch freie Wohnung erhalten habe, stehe außer Zweifel. Dies müsse aber auch für die Folgezeit angenommen werden, in der die zur Unterkunftsgewährung verpflichtete Arbeitgeberin regelmäßig die Miete für das Zimmer der Klägerin übernommen habe. Diese Handhabung komme der Gewährung von Wohnung im Sinne des Art. 2 § 55 Abs. 1 ArVNG aF gleich, weil die Mietzahlung als Surrogat der geschuldeten Wohnung anzusehen sei. - Die Erhöhung der Rente der Klägerin stelle sich wegen ihres Sachzusammenhangs mit dem Vorgang der Rentenumstellung anläßlich der Rentenreform 1957 (Art. 2 §§ 31 ff ArVNG) als qualifizierte Umstellung einer Rente dar, für die das Sonderrecht der Umstellung, das keine Verjährung kenne, gelte. Hieraus folge, daß der Anspruch der Klägerin auf Erhöhung ihrer Rente nicht, wie die Beklagte geltend gemacht habe, für die Zeit vom 1. Januar bis 30. November 1957 verjährt sei.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Mit der Revision beantragt die Beklagte,
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Sie rügt, das LSG habe Art. 2 § 55 Abs. 1 ArVNG aF und § 29 Abs. 3 RVO unrichtig angewendet. Der Wortlaut des Art. 2 § 55 Abs. 1 ArVNG aF sei eindeutig. Danach führe allein die Gewährung von Wohnung in natura zu einer Erhöhung der Rente. Es könne auch der Meinung des LSG nicht beigetreten werden, gegenüber einem Erhöhungsanspruch aus Art. 2 § 55 Abs. 1 ArVNG könne keine Verjährung geltend gemacht werden. Grundsätzlich unterlägen alle Ansprüche auf Leistungen eines Versicherungsträgers der Verjährung gemäß § 29 Abs. 3 RVO. Das Klagebegehren erscheine danach jedenfalls für die Zeit vom 1. Januar 1957 bis 30. November 1957 ungerechtfertigt.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für richtig.
Die Revision ist zulässig, aber unbegründet. Der erkennende Senat ist dem angefochtenen Urteil im Ergebnis und im wesentlichen auch in der Begründung beigetreten.
Für die in diesem Rechtsstreit zu treffende Entscheidung ist von der vom 1. Januar 1957 bis 30. Juni 1965 in Kraft gewesenen Fassung des Art. 2 § 55 Abs. 1 ArVNG auszugehen. Die durch das Rentenversicherungs-Änderungsgesetz (RVÄndG) vom 9. Juni 1965 neu gestaltete Gesetzesbestimmung gilt zwar auch für Versicherungsfälle vor dem 1. Juli 1965 (Art. 5 § 4 Abs. 1 RVÄndG), ist aber erst mit Wirkung von diesem Tag an in Kraft getreten (Art. 5 § 10 Abs. 1 Buchst. e RVÄndG).
Nach Art. 2 § 55 Abs. 1 ArVNG aF ist die nach den §§ 32 und 33 dieses Artikels umgestellte Rente um 10 v. H. zu erhöhen, wenn der Versicherte nachweist, daß für ihn vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes während mindestens 10 Jahren Beiträge für eine versicherungspflichtige Beschäftigung in der Hauswirtschaft oder in Krankenanstalten entrichtet worden sind und ihm während dieser Zeit neben Barbezügen als Sach- oder Dienstleistungen freier Unterhalt (Kost und Wohnung) oder entsprechend Sachbezüge gewährt wurden. Zwischen den Beteiligten besteht nur Streit darüber, ob die Hingabe des monatlichen Mietbetrags durch die Arbeitgeberin in der Zeit von Dezember 1946 bis September 1952 dem Gewähren von Wohnung gleichsteht. Die Klägerin hatte während dieser Zeit tarifvertraglich einen Anspruch auf Unterbringung im Krankenhaus, sie war sogar verpflichtet, dort zu wohnen. Die Stadt K. hat diesen Anspruch der Klägerin durch Übernahme der vollen Miete - nicht etwa durch Zahlung eines von der Höhe der tatsächlichen Miete unabhängigen "Wohnungsgeldes" - erfüllt. Die Frage, ob zur Rentenerhöhung die Gewährung von Wohnung in natura erforderlich ist oder ob die Übernahme der jeweiligen Miete durch den Arbeitgeber genügt, wird in der Rechtsprechung der Tatsachengerichte nicht einheitlich beantwortet. Das LSG legt in der angefochtenen Entscheidung den Begriff "freier Unterhalt (Kost und Wohnung)" dahin aus, daß eine Mietübernahme dem Gewähren von Wohnung gleichkomme; der Mietbetrag sei Surrogat der geschuldeten Wohnung. Diese Auslegung ist jedenfalls für einen Fall wie den vorliegenden, in dem der durch Tarifvertrag zum Überlassen von Wohnung verpflichtete Arbeitgeber die Miete für das Zimmer des Versicherten übernommen hat, nicht zu beanstanden. Sinn und Zweck des Art. 2 § 55 ArVNG ergeben, wie das Bundessozialgericht (BSG) bereits entschieden hat (SozR ArVNG Art. 2 § 55 Nr. 5; Urteil des erkennenden Senats vom 12. Mai 1966 - 4 RJ 327/63 -), daß diese Vorschrift einen Ausgleich dafür schaffen will, daß früher die Entlohnung durch Sachbezüge vielfach unter ihrem wahren wirtschaftlichen Wert angesetzt worden ist. Das tatsächliche Arbeitseinkommen schlug sich infolge dieser Unterbewertung in den Beiträgen nicht ausreichend nieder. Das Ergebnis war eine Unterversicherung, die bei Altrentnern durch die Rentenumstellung 1957 nach Art. 2 §§ 31 ff ArVNG allein nicht ausgeglichen wurde und die eine zusätzliche Erhöhung der Renten erforderte. Das Berufungsgericht hebt besonders hervor, daß der monatliche Mietbetrag dem Gehalt der Klägerin nicht zugeschlagen worden ist und deshalb die Sozialversicherungsbeiträge nicht erhöhte. Die Beteiligten selbst sahen diesen Geldbetrag nicht als Barlohn, sondern als Leistung zur Befriedigung des wegen der besonderen Verhältnisse in der Nachkriegszeit vom Arbeitgeber nicht unmittelbar erfüllbaren Anspruchs auf Wohnung an. Hätte der Arbeitgeber, um seiner Pflicht, der Klägerin Wohnung zu stellen, zu genügen, die Klägerin irgendwo eingemietet und selbst die Miete unmittelbar an den Vermieter gezahlt, so könne nicht zweifelhaft sein, daß die Klägerin Wohnung vom Arbeitgeber erhalten hätte. Ein Fall wie der vorliegende kann nicht anders beurteilt werden. In beiden Fällen hätte der Arbeitgeber die Beiträge zur Sozialversicherung in gleicher Weise berechnet. Das ist entscheidend. Der für die Miete des Zimmers gezahlte Betrag ist nicht - wie etwa ein "Wohnungsgeld" - zum frei verfügbaren Barlohn geworden, sondern ist Surrogat der geschuldeten Wohnung. Ein solches Surrogat muß im Rahmen des Art. 2 § 55 Abs. 1 ArVNG aF das gleiche rechtliche Schicksal haben wie die Hauptschuld und wie diese zur Erhöhung der Rente führen. Nach der neuen Fassung, die die umstrittene Vorschrift durch das RVÄndG erhalten hat, kommt es auf die Gewährung von freier Wohnung überhaupt nicht mehr an; die Gewährung freier Verpflegung reicht zur Rentenerhöhung aus. Das LSG hat deshalb zu Recht entschieden, daß der Klägerin im Städtischen Krankenhaus K. von Dezember 1946 bis September 1952 neben Barbezügen und freier Kost auch freie Wohnung gewährt worden ist.
Der vom erkennenden Senat vertretenen Ansicht steht das Urteil des 11. Senats des BSG vom 13. August 1965 - 11/1 RA 114/63 - nicht entgegen. Der 11. Senat hatte über einen anderen Sachverhalt, nämlich über die Zahlung eines festen Wohnungsgeldes, nicht über eine Mietübernahme zu entscheiden.
Die von der Beklagten wegen der Erhöhungsbeträge für die Zeit vom 1. Januar bis 30. November 1957 geltend gemachte Verjährung greift nicht durch. Art. 2 § 55 Abs. 1 ArVNG stellt eine Ergänzung der allgemeinen Umstellungsvorschriften des Art. 2 §§ 31 ff ArVNG dar. Hieraus folgt, daß für den Zeitpunkt, von dem an die erhöhten Renten zu gewähren sind, die in Art. 2 § 31 Abs. 1 ArVNG getroffene Regelung gilt, d. h. die Erhöhung hat vom Inkrafttreten des ArVNG (1. Januar 1957) an zu erfolgen. Das entspricht der Rechtsprechung des erkennenden Senats (BSG 11, 96). Nach § 29 Abs. 3 RVO verjährt der Anspruch auf Leistungen der Versicherungsträger in 4 Jahren nach der Fälligkeit, soweit nichts anderes vorgeschrieben ist. Hinsichtlich des Anspruchs auf Erhöhung der Rente nach Art. 2 § 55 Abs. 1 ArVNG bestehen keine besonderen Vorschriften über die Verjährung.
Die Umstellung der Renten, die - wie die Rente der Klägerin - nach dem bis zum 1. Januar 1957 geltenden Recht festgestellt worden sind, hat nach Art. 2 § 31 Abs. 1 ArVNG von Amts wegen zu erfolgen. Art. 2 § 55 Abs. 1 ArVNG enthält zu den allgemeinen Umstellungsvorschriften insofern eine Sonderregelung, als der Versicherte den Nachweis der Voraussetzungen, die diese Vorschrift für die Erhöhung der Rente fordert, zu erbringen hat. Hieraus folgert die Beklagte, die Erhöhung der Rente sei ein von der Umstellung losgelöster Vorgang, der Anspruch auf diesen Teil der Rente unterliege daher der Verjährung. Dieser Auslegung kann nicht gefolgt werden. Der erkennende Senat hat in der genannten Entscheidung ausgesprochen, daß der Zeitpunkt, in welchem der Nachweis des Vorliegens der Voraussetzungen des Art. 2 § 55 Abs. 1 ArVNG erbracht wird, ebenso wie der Zeitpunkt, in welchem ein (nicht erforderlicher) Antrag auf Rentenerhöhung gestellt oder die Umstellung der Rente vorgenommen wird, keinen Einfluß auf den Beginn der umgestellten Rente habe; der Anspruch auf die erhöhte Rente bestehe für die Zeit vom 1. Januar 1957 an. Die dem Versicherten in Art. 2 § 55 Abs. 1 ArVNG ohne zeitliche Begrenzung auferlegte Beweisführungspflicht beruht nur auf einer praktischen Notwendigkeit. Sie wirkt sich auf den seit dem 1. Januar 1957 bestehenden Anspruch auf die erhöhte Rente nur dahin aus, daß dieser Anspruch entweder zu bejahen oder zu verneinen ist, je nachdem, ob die erforderlichen Beweise geführt oder nicht geführt sind. Der Zeitpunkt des Nachweises wirkt sich aber nicht auf den gesetzlich festgelegten Anspruchsbeginn aus. Diese Auffassung hat nicht zur Folge, daß eine Verjährung eines Erhöhungsanspruchs selbst dann nicht eingreifen könnte, wenn der Anspruch auf bestimmte Rentenleistungen einer umgestellten Rente selbst aus anderen Gründen verjährt ist. Denn soweit eine teilweise Verjährung der Rente vorliegt, entfällt auch der Erhöhungsanspruch. Der vom Senat vertretenen Ansicht steht auch nicht der allgemeine Verjährungszweck entgegen. Der Beginn der erhöhten Rente ist gesetzlich festgelegt und das Maß der durch das Gesetz ausgelösten Belastungen war für die Beklagte übersehbar. Nach alledem ist der Klägerin die umgestellt, um 10 v. H. erhöhte Rente bereits vom 1. Januar 1957 an zu zahlen.
Die Revision der Beklagten ist daher unbegründet und zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung ergeht in Anwendung des § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen