Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 09.05.1995) |
SG Stuttgart (Urteil vom 26.09.1994) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 9. Mai 1995 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten auch für das Revisionsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Streitig ist, ob der Kläger gegen die Beklagte einen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU), hilfsweise Berufsunfähigkeit (BU) hat.
Der 1943 geborene Kläger stammt aus dem ehemaligen Jugoslawien. Er hat dort nach seinen Angaben eine Ausbildung zum Zimmermann begonnen, jedoch nicht mit einer Prüfung abgeschlossen. Danach hat er von 1960 bis Juli 1966 in der Landwirtschaft seines Vaters und als Straßenbauarbeiter gearbeitet. In der Bundesrepublik Deutschland war er von 1966 bis 1991 als Zimmermannhelfer/Fassadenbauhelfer und als Bauhilfsarbeiter versicherungspflichtig beschäftigt. Danach wurde er arbeitsunfähig krank und ist seit August 1992 arbeitslos. Im September 1991 beantragte er bei der Beklagten die Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Diesen Antrag lehnte die Beklagte ab, weil EU oder BU nicht gegeben seien (Bescheid vom 8. März 1993; Widerspruchsbescheid vom 16. Juli 1993). Das Sozialgericht Stuttgart hat die Klage mit der Begründung abgewiesen, daß der Kläger noch in der Lage sei, vollschichtig körperlich leichte Arbeiten zu ebener Erde, ohne häufiges Treppensteigen, ohne regelmäßiges Heben und Tragen von Lasten über 10 kg zu verrichten (Urteil vom 26. September 1994). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 9. Mai 1995). Es hat ausgeführt: Der Kläger sei nicht erwerbs- oder berufsunfähig. Mit dem festgestellten Leistungsvermögen sei er auf dem für ihn maßgebenden allgemeinen Arbeitsmarkt vollschichtig einsatzfähig. Der konkreten Benennung einer Verweisungstätigkeit bedürfe es nicht.
Der Kläger hat die vom Senat zugelassene Revision eingelegt. Er rügt die Verletzung materiellen Rechts und trägt vor: Sofern die bei ihm festgestellten Leistungseinschränkungen nicht bereits eine sog Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen darstellten und schon nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) die konkrete Benennung einer Verweisungstätigkeit erforderten, sei eine Benennung jedenfalls deshalb notwendig, weil für die Versichertengruppe, welcher der Kläger angehöre, eine erhebliche Gefahr der Verschlossenheit des Arbeitsmarktes bestehe, wie sich aus den Vorlagebeschlüssen des 13. Senats an den Großen Senat (GrS) des BSG vom 23. November 1994 in den Verfahren 13 RJ 19/93, 13 RJ 71/93, 13 RJ 73/93 und 13 RJ 1/94 ergebe.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 9. Mai 1995 sowie das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 26. September 1994 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 8. März 1993 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Juli 1993 zu verurteilen, dem Kläger ab 1. Oktober 1991 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise Berufsunfähigkeit, zu gewähren,
hilfsweise, das Ruhen des Verfahrens anzuordnen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und sieht keinen Anlaß für eine Aussetzung des Verfahrens bis zur Entscheidung des GrS des BSG.
Entscheidungsgründe
II
Die zulässige Revision ist unbegründet. Das LSG hat zu Recht entschieden, daß dem Kläger keine Rente wegen EU oder BU zusteht.
Soweit der Kläger sich zur Begründung seiner Revision auf die Vorlagebeschlüsse des 13. Senats des BSG vom 23. November 1994 in den Verfahren 13 RJ 19/93, 13 RJ 71/93, 13 RJ 73/93 und 13 RJ 1/94 bezieht, hält der Senat sein Vorbringen für unerheblich und verweist auf die Gründe seines Urteils vom 14. September 1995 – 5 RJ 50/94 – (SozR 3-2200 § 1246 Nr 50 = SGb 1995, 603 = NZS 1996, 228).
In dieser Entscheidung ist auch ausgeführt, daß der Senat wegen der Vorlage zur Rechtsfortbildung nach § 41 Abs 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) an einer Entscheidung nicht gehindert ist und der Kläger bei einer abweichenden Entscheidung des GrS nach Maßgabe der §§ 44 ff des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – (SGB X) geschützt wird. Daß dieser Schutz nur längstens für einen Zeitraum von bis zu vier Jahren in die Vergangenheit zurückreicht, ist eine sozialpolitische Entscheidung des Gesetzgebers, die als Grundsatzregelung für alle Fälle einer nachgeholten Leistungserbringung – dh nicht nur für Streitigkeiten wie die vorliegende – gilt, und die der Senat nicht dadurch korrigieren kann, daß er entscheidungsreife Sachen unentschieden läßt.
Wie im Senatsurteil vom 14. September 1995 (5 RJ 50/94, aaO) im einzelnen ausgeführt, ist die bisherige Rechtsprechung des BSG zur Verschlossenheit des Arbeitsmarktes nicht ergänzungsbedürftig. Insbesondere stellen die beim Kläger bestehenden gesundheitlichen Einschränkungen qualitativer Art keine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen dar. Vielmehr handelt es sich um einige – wenn auch nicht unerhebliche – gewöhnliche Leistungseinschränkungen, die nicht dazu führen, daß der Kläger nur noch unter nicht betriebsüblichen Arbeitsbedingungen arbeiten könnte.
Im übrigen hat der Gesetzgeber durch die im Zweiten Gesetz zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (Zweites SGB VI-Änderungsgesetz – 2. SGB VI-ÄndG) vom 2. Mai 1996 (BGBl I S 659) vorgenommene Ergänzung des § 43 Abs 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Rentenversicherung – (SGB VI) klargestellt, daß nicht berufsunfähig ist, wer eine zumutbare Tätigkeit vollschichtig ausüben kann, wobei die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen ist. Entsprechend steht ein vollschichtiges Leistungsvermögen – ohne Berücksichtigung der jeweiligen Arbeitsmarktlage – erst recht der Annahme von EU entgegen, § 44 Abs 2 Satz 2 Nr 2 SGB VI. Dies gilt gemäß § 302b Abs 3 SGB VI idF des 2. SGB VI-ÄndG für alle Versicherten, deren Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor dem 1. Juni 1996 noch nicht begonnen hat. Im vorliegenden Fall hat die Rente des Klägers, da über sie noch nicht abschließend (“rechtskräftig”) entschieden ist, noch nicht “begonnen”. Dabei kann es wegen der klarstellenden Funktion der Rechtsänderung (BT-Drucks 13/2590, S 19; 13/3697, S 1, 3 ff; 13/3907, S 1, 5 ff) keinen Unterschied machen, ob der Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung nach den Vorschriften des SGB VI oder – wie im Falle des Klägers – nach den im wesentlichen gleichlautenden Normen der §§ 1246, 1247 der Reichsversicherungsordnung zu beurteilen ist.
Dem vom Kläger sinngemäß bzw ausdrücklich gestellten Antrag, den Rechtsstreit bis zur Entscheidung des GrS auszusetzen oder das Ruhen des Verfahrens anzuordnen, kann nicht entsprochen werden, weil die gesetzlichen Voraussetzungen fehlen (§ 114 SGG bzw § 202 SGG iVm § 251 Zivilprozeßordnung).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen