Entscheidungsstichwort (Thema)

Kraftfahrer ohne Prüfung nach Ausbildungsordnung. tarifliche Einstufung als Facharbeiter

 

Leitsatz (amtlich)

Eine erst während der Berufsausübung erfolgte Qualifizierung des Berufs zum Ausbildungsberuf begründet die eingeschränkte Verweisbarkeit des Versicherten als Facharbeiter nach RVO § 1246 Abs 2 S 2 (Anschluß an BSG 1979-03-14 1 RJ 84/78 = SozR 2200 § 1246 Nr 41, Bestätigung von BSG 1961-07-05 4 RJ 79/59 = SozR Nr 13 zu § 1246 RVO).

 

Orientierungssatz

1. Der Umstand, daß ein gesetzlich anerkannter Ausbildungsberuf geringer entlohnt wird als ein anderer, kann nicht dazu führen, ihm die Facharbeiterqualität abzusprechen. Für die Einordnung in die Gruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters ist insoweit nur die tarifliche Einstufung als Facharbeiter maßgeblich.

2. Hat ein Kraftfahrer die für seinen Beruf vorgesehene Ausbildung nicht durchlaufen, so ist dieser doch sein "bisheriger Beruf", wenn er ihn - womöglich nur kurzfristig, aber nicht nur vorübergehend - vollwertig ausgeübt hat (vgl BSG 1979-11-29 4 RJ 111/78 = SozR 2200 § 1246 Nr 53 und BSG 1979-12-12 1 RJ 132/78 = SozR 2200 § 1246 Nr 55 mit weiteren Nachweisen). Eine Verweisung auf die Tätigkeit eines einfachen Pförtners kommt nicht in Betracht.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG Hamburg (Entscheidung vom 18.07.1979; Aktenzeichen III JBf 87/78)

SG Hamburg (Entscheidung vom 20.04.1978; Aktenzeichen 11 J 1231/77)

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt von der Beklagten Rente wegen Berufsunfähigkeit ab 1. April 1976.

Der 1940 geborene Kläger war nach einer nicht zu Ende geführten Zimmererlehre als Bauarbeiter und seit September 1964 insbesondere als Kraftfahrer beschäftigt. Mit Unterbrechungen durch Tätigkeiten als Beifahrer und Betriebsarbeiter übte er diesen Beruf zumindest die letzten fünf Jahre bis zum 5. Dezember 1974 aus.

Den Antrag des Klägers vom April 1976, ihm Berufsunfähigkeitsrente zu gewähren, lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 11. August 1976; Widerspruchsbescheid vom 21. September 1977). Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 20. April 1978). Mit Urteil vom 18. Juli 1979 hat das Landessozialgericht (LSG) die Berufung des Klägers zurückgewiesen und im wesentlichen ausgeführt: Der Kläger sei nicht berufsunfähig iS des § 1246 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Als bisheriger Beruf des Klägers sei derjenige des - ihm gesundheitlich nicht mehr zumutbaren - Kraftfahrers anzusehen. Diesen Beruf habe er zuletzt jedenfalls mehr als fünf Jahre ausgeübt. Für die Zeit, in der der Kläger als Kraftfahrer gearbeitet habe, sei der Kraftfahrer jedoch nicht der Gruppe von Tätigkeiten zuzurechnen, die durch den Facharbeiter als Leitberuf gekennzeichnet seien. Denn der Berufskraftfahrer sei nach der "Berufskraftfahrer-Ausbildungs-Verordnung" erst seit dem 1. Januar 1974 staatlich anerkannter Ausbildungsberuf. Unter Berücksichtigung dieses Zeitpunktes lasse sich nicht annehmen, daß der Kläger den Ausbildungsberuf des Berufskraftfahrers hinreichend lange vollwertig ausgeübt habe. Er habe die Fertigkeiten und Kenntnisse des Ausbildungsberufsbildes auch nicht - wie in der Verordnung vorgeschrieben - in einer Abschlußprüfung nachgewiesen. Der am 1. Januar 1974 in Kraft getretenen Neuregelung des Kraftfahrerberufs könne auch keine Rückwirkung beigelegt werden. Es komme vielmehr nur auf die zur Zeit der Berufsausübung maßgebenden Kriterien an. Nachträglich eingetretene Änderungen der Bewertungsmaßstäbe müßten außer Betracht bleiben. Nach der maßgeblichen tariflichen Einstufung des Berufs zur Zeit seiner Ausübung lasse sich ebenfalls nicht feststellen, daß die Kraftfahrertätigkeit des Klägers qualitativ einem anerkannten Ausbildungsberuf entsprochen habe. Das zeige beispielhaft der ab 1. Februar 1974 geltende Lohntarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer im Güternahverkehrs- und Speditionsgewerbe Hamburg. Danach habe der Lohn der Kraftfahrer der verschiedenen Gruppen seinerzeit zwar über demjenigen der Boten, der Beifahrer und über dem Lohn der Platz-, Transport- und Schuppenarbeiter gelegen. Der höchste Lohn für Kraftfahrer habe aber nicht unerheblich hinter demjenigen der Betriebshandwerker zurückgestanden. Der Kläger könne somit lediglich der Gruppe der "angelernten Arbeiter" zugerechnet werden. Als Angelernter müsse er sich aber auch auf die Tätigkeit als einfacher Pförtner verweisen lassen. Diesen Beruf könne er noch vollschichtig ausüben.

Der Kläger und die vom LSG zum Verfahren beigeladene Freie und Hansestadt Hamburg haben die zugelassene Revision eingelegt. Sie rügen beide eine Verletzung des § 1246 Abs 2 RVO durch das Berufungsgericht.

Der Kläger und die Beigeladene beantragen sinngemäß,

das angefochtene Urteil, das Urteil des SG Hamburg

vom 20. April 1978 sowie den Bescheid der Beklagten

vom 11. August 1976 in der Fassung des Widerspruchsbescheides

vom 21. September 1977 aufzuheben und die Beklagte zu

verurteilen, dem Kläger ab 1. April 1976 Rente wegen

Berufsunfähigkeit zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revisionen zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die Revisionen des Klägers und der Beigeladenen sind insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist. Aufgrund der vom LSG festgestellten Tatsachen läßt sich noch nicht abschließend entscheiden, ob dem Kläger gemäß § 1246 RVO Berufsunfähigkeitsrente zusteht.

Das LSG hat unangegriffen festgestellt, daß "bisheriger Beruf" iS des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO die Tätigkeit des Klägers als Kraftfahrer gewesen ist, die er aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr verrichten kann. Da dieser Beruf - wie das Berufungsgericht weiter zutreffend ausgeführt hat - aufgrund der Berufskraftfahrer-Ausbildungsordnung vom 26. Oktober 1973 (BGBl I 1518) seit dem 1. Januar 1974 als Ausbildungsberuf mit einer Ausbildungszeit von zwei Jahren anerkannt ist, gehört der "bisherige Beruf" des Klägers zur oberen Gruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters, die nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) gemäß § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO grundsätzlich nur eine zumutbare Verweisung des Klägers auf Tätigkeiten der nächstniedrigeren Gruppe (sonstige Ausbildungsberufe mit einer Regelausbildungszeit von weniger als zwei Jahren) zuläßt (vgl Urteile des erkennenden Senats vom 30. März 1977 - BSGE 43, 243 = SozR 2200 § 1246 Nr 16 und vom 15. Februar 1979 - SozR 2200 § 1246 Nr 38 -, Urteil des 4. Senats vom 19. Januar 1978 - SozR 2200 § 1246 Nr 27 - sowie Urteile des 1. Senats vom 15. März 1978 - SozR 2200 § 1246 Nr 29 - und 12. Dezember 1979 - SozR 2200 § 1246 Nr 55 - jeweils mwN).

Entgegen der Ansicht des LSG kann an diesem Ergebnis der Umstand, daß die tarifliche Entlohnung des Berufskraftfahrers womöglich unter derjenigen anderer Facharbeiterberufe liegt, nichts ändern. Wie die Revisionskläger zu Recht ausgeführt haben, sind die Facharbeiterberufe nicht alle gleichmäßig entlohnt. Für die Einordnung in die Gruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters ist deshalb insoweit nur die tarifliche Einstufung als Facharbeiter maßgeblich. Dagegen kann allein der Umstand, daß ein gesetzlich anerkannter Ausbildungsberuf geringer entlohnt wird als ein anderer, nicht dazu führen, ihm die Facharbeiterqualität abzusprechen.

Die weitere Begründung des LSG, der bisherige Beruf des Klägers als Kraftfahrer könne vor allem deswegen nicht der Gruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters zugerechnet werden, weil der Kläger weder über eine Ausbildung im Beruf des Kraftfahrers verfüge noch die Kenntnisse und Fertigkeiten des Ausbildungsberufsbildes in einer nach der Verordnung vom 26. Oktober 1973 vorgeschriebenen Abschlußprüfung nachgewiesen habe, steht ebenfalls mit der ständigen Rechtsprechung des BSG nicht im Einklang. Danach kennzeichnet die in § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO - ua - genannte Ausbildung allein den Weg, auf dem die den Beruf qualifizierenden Kenntnisse und Fähigkeiten iS des Satzes 1 der Vorschrift regelmäßig erworben wird (vgl insoweit Urteil des erkennenden Senats vom 20. Januar 1976 in BSGE 41, 129 = SozR § 1246 Nr 11 mit zahlreichen weiteren Nachweisen). Hat deshalb ein Versicherter - wie hier der Kläger - die für einen bestimmten Beruf vorgesehene Ausbildung nicht durchlaufen, so ist dieser doch sein "bisheriger Beruf", wenn er ihn - womöglich nur kurzfristig, aber nicht nur vorübergehend - vollwertig ausgeübt hat (vgl hierzu Urteil des 4. Senats vom 29. November 1979 in SozR 2200 § 1246 Nr 53 und Urteil des 1. Senats vom 12. Dezember 1979 aaO jeweils mwN). Letzteres wird aber im Falle des Klägers, der nach den beigezogenen Akten und sonstigen Unterlagen, auf die im angefochtenen Urteil Bezug genommen worden ist, als Lkw-Fahrer sowohl im Güternahverkehr als auch im Fernverkehr mit Auslandseinsatz beschäftigt war, vom LSG nicht in Frage gestellt.

Unter Berücksichtigung der aufgezeigten Rechtsprechung - insbesondere des BSG-Urteils vom 29. November 1979 aaO - kann auch der Meinung des Berufungsgerichts, der Kläger habe unter Berücksichtigung der erst zum 1. Januar 1974 in Kraft getretenen Ausbildungs-Verordnung den Ausbildungsberuf des Berufskraftfahrers "nicht hinreichend lange" vollwertig ausgeübt, nicht gefolgt werden. Im übrigen hat der 4. Senat des BSG bereits mit Urteil vom 5. Juli 1961 (SozR Nr 13 zu § 1246 RVO) entschieden, daß eine erst während der Berufsausübung erfolgte Qualifizierung des Berufs zum Lehrberuf der eingeschränkten Verweisbarkeit als Facharbeiter nach § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO nicht entgegensteht. Diese Entscheidung ist auch mit dem vom LSG angeführten Urteil des 1. Senats des BSG vom 14. März 1979 (SozR 2200 § 1246 Nr 41) vereinbar, wonach die qualitative Bewertung des bisherigen Berufs nur nach den "zur Zeit seiner Ausübung" maßgebenden Kriterien vorgenommen werden kann. Denn der 1. Senat stellt dabei erkennbar auf die Bewertung im letzten Zeitraum der Berufsausübung ab und will damit - ebenso wie der 4. Senat im Urteil vom 5. Juli 1961 aaO - eine bis dahin erfolgte Qualifizierung des Berufs zum Lehrberuf berücksichtigen.

Nach alledem ist der Kläger als Facharbeiter auf die Tätigkeit eines einfachen Pförtners nicht iS des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO zumutbar zu verweisen. Dies hat der erkennende Senat im Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung des BSG (vgl SozR 2200 § 1246 Nr 17 und Nr 55) mit Urteil vom 11. September 1980 - 5 RJ 98/78 - nochmals entschieden. Da das LSG bisher lediglich die einfache Pförtnertätigkeit als - somit unzulässigen - Verweisungsberuf konkret in Betracht gezogen hat, wird es nach den im zuletzt genannten Urteil aufgeführten Kriterien noch zu prüfen haben, ob unter Berücksichtigung des gesundheitlich eingeschränkten Leistungsvermögens des Klägers noch zumutbare Verweisungstätigkeiten vorhanden sind.

Die Kostenentscheidung bleibt der abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1657608

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