Leitsatz (redaktionell)
Über die Anfechtung eines außergerichtlichen Vergleichs ist nicht mehr zu entscheiden, wenn das Verfahren im Zeitpunkt der Anfechtung wegen der Rücknahme der Klage nicht mehr rechtshängig gewesen ist.
Normenkette
SGG § 102 S. 2 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 27. Oktober 1970 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Der Beklagte hat den Klägerinnen auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Die Klägerinnen sind die Rechtsnachfolger (Witwe und Töchter) des am 11. Februar 1967 verstorbenen Beschädigten Otto Sch (Sch.). Bei diesem waren zunächst durch Bescheid des Versorgungsamtes (VersorgA) III Berlin vom 3. Oktober 1953 hochgradige Schwerhörigkeit, chronische Mittelohreiterung links infolge Minenexplosion und Fremdkörpereinlagerungen als Schädigungsfolgen anerkannt bei einem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 v. H. Die Anerkennung der weiter geltend gemachten Gesundheitsstörungen "Gedächtnisschwund, Bewußtseinstrübung, Diabetes" wurde abgelehnt. Im anschließenden Klageverfahren äußerten die Sachverständigen Dr. B/Dr. B, die Untersuchungsbefunde, insbesondere die Luftencephalographie, zeigten, daß eine organische Hirnschädigung erheblichen Grades vorliege; auch der Diabetes und dessen Folgen seien als Versorgungsleiden anzusehen; die gesamte Erwerbsminderung durch Versorgungsleiden betrage 70 v. H.
Nach Einholung mehrerer fachärztlicher Stellungnahmen bot der Beklagte mit Schriftsatz vom 6. Juni 1957 (Bl. 36 der SG-Akte S 45 V 7661/54) folgenden Vergleich an:
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"I. |
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Die Versorgungsleiden werden wie folgt ergänzt: |
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3) |
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Traumatische Hirnschädigung mit mäßiger Hirnleistungsschwäche und Wesensänderung, |
im Sinne der Entstehung.
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II. |
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Für sämtliche Versorgungsleiden wird die Gesamt-MdE ab 1.7.1950 auf 70 v. H. festgesetzt. |
Der Kläger wird als Hirnverletzter anerkannt.
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III. |
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Der Kläger nimmt seine Klage zurück. |
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IV. |
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... (Auslagenersatz). |
Der Kläger wird um Äußerung gebeten, ob er dieses Vergleichsangebot annimmt".
Mit Schreiben seines Prozeßbevollmächtigten vom 27. Juni 1957 erklärte sich der Kläger (Sch.) mit dem Vergleichsvorschlag einverstanden. Er fügte hinzu, daß er das dort anhängige Streitverfahren in der Hauptsache als beendet betrachte. Das Sozialgericht (SG) teilte darauf dem Kläger und dem Landesversorgungsamt (LVersorgA) mit, der Kläger habe mit Schreiben vom 27. Juni 1957 mitgeteilt, daß er das Vergleichsangebot annehme und die Klage zurückziehe; das Verfahren sei hiermit beendet. Das VersorgA erteilte den Ausführungsbescheid vom 4. September 1957.
Im Juni 1958 stellte der Kläger einen Verschlimmerungsantrag und beantragte ferner die Erhöhung der MdE "gem. § 30 BVG". Das VersorgA holte wiederum mehrere fachärztliche Gutachten ein und erhöhte mit Bescheid vom 6. Dezember 1961 den Grad der MdE auf 80 v. H. Im sozialgerichtlichen Verfahren wurde ein Gutachten von dem Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. W erstattet. Dieser schätzte die schädigungsbedingte MdE - ohne Berücksichtigung der Voraussetzungen des § 30 BVG - auf 90 v. H. Die Versorgungsbehörde unterbreitete darauf mit Schriftsatz vom 28. September 1964 (Bl. 43 der SG-Akte S 45 V 983/63) folgendes Vergleichsangebot:
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"I. |
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Die anzuerkennenden Schädigungsfolgen werden nunmehr wie nachstehend bezeichnet: |
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3. |
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Kontusionelle Hirnschädigung mit mittelschwerer Hirnleistungsschwäche und schwerer Wesensänderung und Zuckerkrankheit nach Kontusion des Stammhirns. |
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II. |
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Der Gesamtgrad der MdE für die unter I) anzuerkennenden Schädigungsfolgen beträgt unter Berücksichtigung des § 30 (1) Satz 2 aF und des § 30 (2) nF BVG 100 v. H. ab 1. Juni 1958. |
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III. |
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Der Kläger nimmt seine Klage zurück. |
Der Beklagte fügte hinzu, das abgegebene Vergleichsangebot stelle "nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts keine Anerkennung dar".
Der Kläger nahm mit Schriftsatz seines Prozeßbevollmächtigten vom 19. Oktober 1964 "auf Grund des Vergleichsangebots die erhobene Klage zurück". Er fügte hinzu: "Der Rechtsstreit ist somit in der Hauptsache als erledigt anzusehen". In Ausführung dieses Vergleichs erging der Bescheid vom 15. Juli 1965. Anträge des Sch. auf Gewährung einer Pflegezulage und einer Schwerstbeschädigtenzulage wurden abgelehnt. Eine im Widerspruchsverfahren vorgesehene weitere Begutachtung konnte nicht mehr abgeschlossen werden, weil Sch. inzwischen verstorben war.
Aufgrund des Sektionsbefundes kam der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. B zu dem Ergebnis, daß ein Hirnschaden durch Kriegseinwirkung mit Sicherheit niemals vorgelegen habe; vielmehr habe es sich um ein progredient verlaufendes Hirnleiden (hirnatrophischer Prozeß) gehandelt. Prof. Dr. P bestätigte in seinem Gutachten, zu Unrecht sei eine Hirnstammschädigung als Folge der Minenexplosion angenommen worden; die damalige Beurteilung habe sich zweifelsfrei als unzutreffend herausgestellt. Die gleiche Auffassung vertrat Dr. K in einer versorgungsärztlichen Stellungnahme.
Das LVersorgA focht darauf mit Schriftsatz vom 14. Februar 1968 an das SG die am 19. Oktober 1964 und am 27. Juni 1957 angenommenen Vergleiche gemäß § 119 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) an und beantragte die Fortsetzung des früheren Verfahrens; hilfsweise machte das LVersorgA die Unwirksamkeit der Vergleiche gemäß § 779 BGB geltend. Das SG hat beide Sachen zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden und durch Urteil vom 20. Juni 1968 festgestellt, daß der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt ist. Das LSG hat durch Urteil vom 27. Oktober 1970 die Berufung des Beklagten zurückgewiesen. In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt, bei den Vergleichen vom 27. Juni 1957 und 19. Oktober 1964 habe es sich um außergerichtliche Vergleiche gehandelt. Eine Entscheidung über die von dem Beklagten erklärte Anfechtung sei nicht möglich, weil das Klageverfahren im Zeitpunkt der Anfechtung der Vergleiche nicht mehr rechtshängig gewesen sei. Die in dem Schriftsatz des Prozeßbevollmächtigten des damaligen Klägers vom 27. Juni 1957 enthaltene Erklärung, daß er das Streitverfahren als in der Hauptsache erledigt betrachte, stelle eine Zurücknahme der Klage dar. In dem Schriftsatz vom 19. Oktober 1964 habe der Kläger die Klage sogar ausdrücklich zurückgenommen. Eine Klagerücknahme sei als Prozeßerklärung grundsätzlich unwiderruflich und wegen Willensmängeln nicht anfechtbar. Die Voraussetzungen für eine Fortsetzung des Verfahrens seien nicht gegeben.
Das Landessozialgericht (LSG) hat die Revision zugelassen.
Dieses Urteil wurde dem Beklagten am 30. Dezember 1970 zugestellt, der dagegen am 21. Januar 1971 Revision eingelegt und diese nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist bis zum 30. März 1971 am 10. März 1971 begründet hat.
Der Beklagte beantragt,
unter Abänderung der Urteile des Landessozialgerichts Berlin vom 27. Oktober 1970 und des Sozialgerichts vom 20. Juni 1968 den Rechtsstreit fortzusetzen und die Klage abzuweisen.
In seiner Revisionsbegründung trägt der Beklagte vor, die von den Parteien 1957 und 1964 geschlossenen Vereinbarungen stellten außergerichtliche Vergleiche dar, die nach den einschlägigen Vorschriften des Bürgerlichen Rechts (§§ 119, 779 BGB) wirksam angefochten werden könnten. Entgegen der Annahme des LSG sei über die damit unwirksamen Vergleiche durch Fortsetzung des alten Verfahrens zu entscheiden. Eine die Prozeßbeendigung bewirkende Prozeßhandlung sei von den Parteien in den früheren Verfahren nicht abgegeben worden. Dem Vergleichsangebot vom 6. Juni 1957 habe der damalige Kläger am 28. Juni 1957 zugestimmt mit der Feststellung, daß das anhängige Streitverfahren in der Hauptsache als beendet betrachtet werde; am 19. Oktober 1964 mit der Bemerkung, daß die Klage zurückgenommen werde und der Rechtsstreit somit in der Hauptsache erledigt sei. Diese Erklärungen seien aber keine Prozeßhandlungen, sondern Teile der außergerichtlichen Vereinbarung und ausschließlich Rechtsgeschäfte des materiellen Rechts. Der Kläger habe damals lediglich dem Gericht angezeigt, daß und wie die Parteien sich außergerichtlich verständigen wollten und verständigt hätten. Eine besondere Prozeßerklärung sei damit nicht abgegeben worden. Zumindest die am 27. Juni 1957 abgegebene Zustimmung sei nicht eindeutig und damit auslegungsbedürftig. Für den Kläger habe damals durchaus Veranlassung bestanden, das Klageverfahren fortzusetzen; eine evtl. notwendig werdende Fortsetzung des Verfahrens im selben Rechtszug sei nämlich nur möglich, wenn der Prozeß nicht durch eine entsprechende Prozeßhandlung beendet worden sei.
Die Klägerinnen und Revisionsbeklagten beantragen,
die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 27. Oktober 1970 als unbegründet zurückzuweisen, sowie dem Beklagten auch die außergerichtlichen Kosten dieses Verfahrens aufzuerlegen.
Sie beziehen sich auf die Entscheidungsgründe des LSG, die sie insoweit zum eigenen Sach- und Rechtsvortrag bestimmen.
II
Die durch Zulassung (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) statthafte Revision des Beklagten ist unbegründet.
Das LSG ist zunächst zutreffend davon ausgegangen, daß sich die Beteiligten - der Beschädigte Sch. und der Beklagte - in den früheren Verfahren über die mit der Klage geltend gemachten Ansprüche verglichen haben. Der frühere Kläger hat das Vergleichsangebot des Beklagten vom 6. Juni 1957 - nämlich traumatische Hirnschädigung und Zuckerkrankheit als weitere Versorgungsleiden im Sinne der Entstehung anzuerkennen und ab 1. Juni 1950 Rente nach einer Gesamt-MdE um 70 v. H. zu gewähren - mit seinem Schriftsatz vom 27. Juni 1957 angenommen. Ebenso hat Sch. das spätere Vergleichsangebot des Beklagten aus dem Schriftsatz vom 28. September 1964 - Neufassung der Versorgungsleiden und Gewährung einer Versorgungsrente nach einer MdE um 100 v. H. ab 1. Juni 1958 - mit seinem Schriftsatz vom 9. Oktober 1964 angenommen. Obwohl die Vergleichsangebote und -annahmen in beiden Fällen im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens und durch Schriftsätze an das Gericht erklärt worden sind, hat es sich um sogenannte außergerichtliche Vergleiche gehandelt (vgl. BSG in SozR SGG Nr. 4 zu § 101; Urteil BSG vom 21. September 1971 - 8 RV 269/70 -). Ein gerichtlicher Vergleich liegt nur dann vor, wenn die Beteiligten "zur Niederschrift des Gerichts oder des Vorsitzenden ..." einen Vergleich schließen (vgl. § 101 Abs. 1 SGG; s. BSG, aaO); das aber ist in beiden Fällen nicht geschehen. Ein prozessuales Anerkenntnis (§ 101 Abs. 2 SGG) liegt gleichfalls nicht vor (s. hierzu BSG 24, 4).
Die damaligen Beteiligten haben über den Gegenstand der Klage auch verfügen dürfen (§ 101 Abs. 1 letzter Halbsatz SGG), obwohl sich die in den Vergleichen vorgenommene Regelung nachträglich als unzweifelhaft unrichtig herausgestellt hat (vgl. BSG 26, 210; Urteil des erkennenden Senats vom 29. April 1969 in BVBl 1969, 130). Zwischen den Beteiligten bestand damals Streit darüber, ob bei Sch. als weitere Schädigungsleiden eine traumatische Hirnschädigung und eine Zuckerkrankheit vorliegen und ob deshalb die MdE zu erhöhen ist. Diese Streitpunkte haben die Beteiligten im Wege gegenseitigen Nachgebens erledigt (§ 779 BGB; vgl. Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, § 101 Anm. 1 a S. II/61 - 43 -). Die Versorgungsverwaltung hätte diesen materiellen Anspruch des Beschädigten auch durch einen Verwaltungsakt - möglicherweise falsch, aber rechtswirksam - regeln können. Ist aber ein solcher Verwaltungsakt zunächst rechtswirksam, dann muß ein entsprechender Vergleich - unabhängig davon, ob es sich um einen Prozeßvergleich oder einen außergerichtlichen Vergleich handelt - ebenfalls wirksam sein (vgl. BSG aaO).
Die Unterscheidung zwischen außergerichtlichem und gerichtlichem Vergleich gewinnt Bedeutung bei einem Streit über die Wirksamkeit des Vergleichs. Ein während des Rechtsstreits geschlossener Vergleich der Beteiligten hat zunächst materiell-rechtliche Bedeutung, weil er den vertragschließenden Parteien bestimmte Rechte und Pflichten auferlegt (vgl. Peters/Sautter/Wolff, aaO). Seine Rechtswirkungen sind nach Vertragsgrundsätzen zu beurteilen, wobei auch bei öffentlich-rechtlichen Ansprüchen - wie sie hier im Streit waren - die einschlägigen Vorschriften des BGB (§§ 119, 779) entsprechend heranzuziehen sind (vgl. BSG 7, 279; Urteil BSG vom 21. September 1971, aaO). Wird ein solcher Vergleich in der vom Gesetz vorgeschriebenen Form (§ 101 Abs. 1 SGG) geschlossen, also zur Niederschrift des Gerichts oder des Vorsitzenden, so liegt darin zugleich eine Prozeßhandlung der Beteiligten, welche eine Beendigung des Rechtsstreits zur Folge hat ("Doppelnatur des Vergleichs"; vgl. BSG 19, 112, 115 = SozR SGG Nr. 6 zu § 101; Urteil BSG vom 29. April 1969, aaO mit weiteren Nachweisen; BGHZ 16, 388, 390; 28, 171; BGB in NJW 1972, 159; BVerwG in DÖV 1962, 423). Die den Prozeß beendende Wirkung des Prozeßvergleichs entfällt nicht nur bei formellen Mängeln der Prozeßhandlung, sondern auch dann, wenn ein materiell-rechtlich wirksamer Vertrag zwischen den Vergleichspartnern nicht zustande gekommen ist, also insbesondere dann, wenn der Vergleich von vornherein nichtig gewesen ist oder durch Anfechtung (§ 119 BGB) nichtig geworden ist. Bei einem Prozeßvergleich ist die Unwirksamkeit (Nichtigkeit oder Anfechtbarkeit in Fortsetzung des früheren Verfahrens geltend zu machen, weil durch die Anfechtung eines solchen Vergleichs auch die einen Teil des Prozeßvergleichs bildende Klage- oder Rechtsmittelrücknahme hinfällig wird, so daß das alte Verfahren noch rechtshängig ist (vgl. BSG 7, 281; Urteil BSG vom 21. September 1971, aaO).
Dem Prozeßvergleich steht der formlos, d. h. ohne gerichtliche Protokollierung vereinbarte außergerichtliche Vergleich gegenüber, dem nicht die Bedeutung einer Prozeßhandlung zukommt, der also nicht das gerichtliche Verfahren unmittelbar beendet (vgl. BGH in JZ 1964, 257; Peters/Sautter/Wolff, aaO S. II/61-51-), sondern der den Beteiligten die Möglichkeit gibt, sich auf den Inhalt des Vergleichs zu berufen (vgl. BSG in SozR SGG Nr. 4 zu § 101 mit weiteren Nachweisen). Nach dem Abschluß eines außergerichtlichen Vergleichs kann allerdings das anhängige Verfahren durch eine rechtswirksame Prozeßerklärung eines Beteiligten (z. B. Klagerücknahme) beendet werden. Ist dies geschehen, dann kann über den Widerruf bzw. die Anfechtung eines außergerichtlichen Vergleichs nicht mehr in Fortsetzung des früheren Verfahrens entschieden werden (vgl. Zeihe, SGG, 3. Aufl., § 101 Abs. 1 An. 4 f); vielmehr muß ein neues, selbständiges Klageverfahren in Gang gesetzt werden (vgl. BGH 16, 388). Das frühere Verfahren kann also im Falle der Geltendmachung der Unwirksamkeit des außergerichtlichen Vergleichs nur dann fortgeführt werden, wenn es zur Zeit der Widerrufserklärung bzw. der Anfechtung noch nicht abgeschlossen war (vgl. Urteil BSG vom 21. September 1971, aaO).
Das Revisionsgericht ist bei der Beurteilung der Erklärung eines Beteiligten dahin, ob sie als Klage- oder Berufungsrücknahme anzusehen ist, nicht an die Auslegung der Tatsachengerichte gebunden. Eine derartige Prozeßerklärung unterliegt vielmehr der freien Nachprüfung durch das Revisionsgericht, weil nur auf diesem Wege die Einhaltung der verfahrensrechtlichen Vorschriften höchstrichterlich überprüft werden kann (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 29. April 1969, aaO, mit weiteren Nachweisen). Bei der sonach gebotenen Auslegung der Erklärungen des Klägers (Sch.) vom 27. Juni 1957 und 19. Oktober 1964 zeigt sich, daß die damaligen Verfahren jeweils durch eine Klagerücknahme beendet worden sind. Die dem Gericht gegenüber zu erklärende Klage- (oder Berufungs-)rücknahme braucht nicht stets ausdrücklich und mit diesem Wortlaut zu erfolgen; sie kann auch in anderer Weise, z. B. durch den Gebrauch anderer Worte oder auch stillschweigend durch schlüssiges Verhalten vorgenommen werden. Erforderlich ist jedoch, daß sie unmißverständlich, d. h. eindeutig und unzweifelhaft erklärt wird (vgl. BSG in SozR SGG Nr. 8 zu § 102). Das trifft hier auf die Erklärung des Klägers vom 19. Oktober 1964 jedenfalls zu. Der Beklagte hatte mit seinem Schriftsatz vom 28. September 1964 ein Vergleichsangebot unterbreitet. Darin war nicht nur die - teilweise - Neufassung der Versorgungsleiden und die rückwirkende Erhöhung der MdE auf 100 v. H. vorgesehen, sondern dieses Vergleichsangebot enthielt unter Ziff. III ausdrücklich den Satz: "Der Kläger nimmt seine Klage zurück". Der Kläger seinerseits hat sich nicht darauf beschränkt, dieses Vergleichsangebot einfach anzunehmen. Sein Schriftsatz vom 19. Oktober 1964 enthielt nicht nur die Annahmeerklärung des außergerichtlichen Vergleichs gegenüber dem Beklagten, sondern dieser Schriftsatz, der an das SG gerichtet war, hat den Wortlaut, daß der Kläger "aufgrund des Vergleichsangebots ... die fristgerecht unter dem 7.6.1963 erhobene Klage zurücknimmt". Diese Erklärung ist eindeutig; es handelt sich um eine Prozeßerklärung, mit der der Kläger nicht nur zum Ausdruck bringt, daß sich die Beteiligten außergerichtlich verständigt haben, sondern mit der er ausdrücklich die Klage zurücknimmt. Das damalige Prozeßverfahren ist durch diese Erklärung des Klägers beendet worden. Der Sachverhalt ist insofern anders gelagert als in der vom Bundessozialgericht (BSG) am 21. September 1971 (8 RV 269/70) entschiedenen Streitsache. Dort hat der 8. Senat des BSG aber ausdrücklich betont, daß - zur Annahme einer eindeutigen Klagerücknahme - "die Erklärung gegenüber dem Gericht etwa dahin lauten müsse, daß sich die Beteiligten außergerichtlich verglichen haben und daß deshalb die Berufung (oder die Klage) zurückgenommen werde". Gerade eine solche Erklärung hat der Kläger Sch., wie dargelegt, aber abgegeben.
Nicht so zweifelsfrei ist die Auslegung der Erklärung vom 27. Juni 1957. Darin hat sich der Kläger mit dem Vergleichsvorschlag des LVersorgA Berlin vom 6. Juni 1957 einverstanden erklärt und hinzugefügt, daß er "das dort anhängige Streitverfahren in der Hauptsache als beendet betrachtet.". Zur Beurteilung dieser Erklärung daraufhin, ob es sich um eine Prozeßerklärung über die Klagerücknahme oder um eine - prozeßrechtlich unverbindliche - Erklärung über die Annahme des außergerichtlichen Vergleichsvorschlags handelt, sind die näheren Umstände ergänzend heranzuziehen. Dabei ist zunächst darauf hinzuweisen, daß der Beklagte seinen Vergleichsvorschlag unter Ziff. III gleichfalls dahin formuliert hatte: "Der Kläger nimmt seine Klage zurück", also offensichtlich eine Klagerücknahme erwartet hatte. Bei der Annahmeerklärung des Klägers ist zu beachten, daß er nicht etwa die Hauptsache für "erledigt" erklärt, sondern daß er dem SG mitgeteilt hat, daß er das dort anhängige Streitverfahren in der Hauptsache als "beendet" betrachte. Seine Erklärung rückt damit ganz in die Nähe einer ausdrücklich erklärten Klagerücknahme, denn dem damaligen Prozeßbevollmächtigten des Klägers mußte bekannt sein, daß ein Streitverfahren von seiten eines Beteiligten durch Rücknahme der Klage (§ 102 SGG) "beendet" wird. In diesem Sinne ist die Erklärung des Klägers von dem SG auch verstanden worden. Mit Verfügung vom 3. Juli 1957 hat der Vorsitzende des Gerichts sowohl dem Kläger als auch dem Beklagten mitgeteilt, daß der Kläger das Vergleichsangebot vom 6. Juni 1957 angenommen hat und "die Klage zurückzieht". Dabei kann dahinstehen, ob eine Klagerücknahme, wie sie der Beklagte in seinem Vergleichsangebot selbst vorgeschlagen hatte, im Interesse des Klägers lag oder nicht, denn jedenfalls hat der Kläger der in der Verfügung des Gerichts vom 3. Juli 1957 vertretenen Auffassung nicht widersprochen, daß er die Klage zurückgezogen hat. Die Rücknahme der Klage konnte in jeder Phase des Verfahrens bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung, also auch nach Abschluß des außergerichtlichen Vergleichs, vorgenommen werden (§ 102 Satz 1 SGG). Die Gesamtumstände lassen daher auch hier - bei anders gelagertem Sachverhalt gegenüber der vom BSG am 21. September 1971 entschiedenen Sache - nur die Auslegung zu, daß der Kläger durch eine Prozeßerklärung die Klage zurückgenommen hat.
Hat aber der Kläger in beiden Verfahren die Klage aufgrund der vom Beklagten unterbreiteten Vergleichsangebote zurückgenommen, dann waren damit die Verfahren in prozessualer Hinsicht beendet und bei dem SG nicht mehr anhängig. Der Beklagte war daher nicht berechtigt, die früheren Verfahren mit dem Ziel der Klageabweisungen aufgrund der Anfechtung bzw. des Widerrufs der außergerichtlichen Vergleiche fortzuführen bzw. wiederaufzunehmen (vgl. BGHZ 16, 388, 391; 41, 310; BGH in NJW 1972, 159). Selbständige Angriffsmittel gegen die Wirksamkeit der Klagerücknahmen durch den damaligen Kläger sind vom Beklagten nicht vorgebracht; sie hätten auch allenfalls vom Kläger bzw. seinen Rechtsnachfolgern nach den von der Rechtsprechung entwickelten einschränkenden Grundsätzen (vgl. BVerwG vom 26. Januar 1971 in Sammlung BVerwG, Leitzahl 310 Nr. 3 zu § 92 VerwGO; BGHZ 12, 284; 33, 73) geltend gemacht werden können. Bei dieser Rechtslage brauchte der Senat nicht zu entscheiden, ob die vom Beklagten erklärte Anfechtung der Vergleiche materiell gerechtfertigt ist und zur Nichtigkeit der Vergleiche führt. Die Revision des Beklagten war als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.
Fundstellen