Beteiligte
…, Kläger und Revisionskläger |
…, Beklagte und Revisionsbeklagte |
Tatbestand
I.
Der klagende Landeswohlfahrtsverband verlangt von der beklagten Allgemeinen Ortskrankenkasse Erstattung der Kosten für ein Hilfsmittel, das er einem Mitglied der Beklagten, der Beigeladenen, zur Verfügung gestellt hat.
Die 1956 geborene Beigeladene ist von Geburt an behindert; sie leidet an einer spastischen Vierfachlähmung (Tetraplegie). Sie befindet sich seit Oktober 1979 in den Heggbacher Einrichtungen, einer Werkstatt für Behinderte, seit Oktober 1981 im Arbeitsbereich. Nach einer ärztlichen Bescheinigung vom 5. Oktober 1983 war zur weiteren Arbeitsleistung ein orthopädischer Arbeitsstuhl erforderlich. Die Beklagte verneinte ihre Leistungspflicht. Sie verwies darauf, daß sie bereits ein Delta-Gehrad zur Verfügung gestellt hatte. Daraufhin wurden die Kosten des im Juli 1984 gelieferten Ortho-Sitzschalenstuhls vorläufig vom Kläger übernommen (§ 44 des Bundessozialhilfegesetzes - BSHG -). Seine Forderung auf Kostenerstattung lehnte die Beklagte ab, da die Beschaffung eines orthopädischen Arbeitsstuhls nicht zu den Aufgaben der gesetzlichen Krankenversicherung gehöre.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen. Nach seiner Ansicht wurde mit der Beschaffung des Sitzschalenstuhls eine Aufgabe der beruflichen Rehabilitation erfüllt, die nicht zu den Aufgaben der gesetzlichen Krankenversicherung gehöre (Urteil vom 18. Juni 1986).
Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers aus folgenden Gründen zurückgewiesen: Dem Kläger stehe der Erstattungsanspruch deshalb nicht zu, weil die Beklagte die Beigeladene nicht mit dem vom Kläger bewilligten Sitzschalenstuhl auszustatten habe. Die Leistungspflicht der Krankenkasse nach § 182 Abs 1 Nr 1 Buchst c iVm § 182b der Reichsversicherungsordnung (RVO) beschränke sich darauf, im medizinischen Bereich für den Ausgleich des Schadens zu sorgen. Auch Hilfsmittel, die eine Körperfunktion ermöglichten, ersetzten, erleichterten und ergänzten, schulde die Krankenkasse nur dann, wenn der durch das Hilfsmittel zu erreichende Funktionsausgleich im Rahmen der Erfüllung elementarer Lebensbedürfnisse liege und gerade dieses Maß an Krankenhilfe zwangsläufig unentbehrlich sei (vgl BSG SozR 2200 § 182b Nr 25). Nach dem Hilfsmittelkatalog komme zwar ein Sitzschalenstuhl als ein von der Krankenkasse zu gewährendes Hilfsmittel in Betracht, insbesondere bei einer Behinderung, wie sie bei der Beigeladenen vorliege. Im vorliegenden Fall werde das Hilfsmittel aber nicht zur Sicherstellung oder Befriedigung elementarer Grundbedürfnisse, sondern ausschließlich für die Beschäftigung im Arbeitsbereich der Heggbacher Einrichtungen benötigt. Nach dem Attest des Dr. W. vom 25. November 1985 sei der Sitzschalenstuhl zur Verbesserung der Situation am Arbeitsplatz und zur Erhaltung der Arbeitsfähigkeit erforderlich; die Beigeladene könne bei Benutzung eines normalen Arbeitsstuhls mit den ihr übertragenen Arbeiten nicht fertig werden, da sie als Tetra-Spastikerin beim Sitzen keinen richtigen Halt habe.
Mit der Revision rügt der Kläger eine Verletzung der §§ 182b, 182 Abs 2 RVO. Der umstrittene Sitzschalenstuhl übernehme die Funktion der Wirbelsäule, ermögliche ein aufrechtes Sitzen und die freie Beweglichkeit der Arme und Hände. Es handele sich um ein notwendiges Hilfsmittel der Krankenversicherung. Für einen Behinderten sei eine sinnvolle Beschäftigung in einer Werkstatt für Behinderte ein elementares und normales Lebensbedürfnis (vgl BSG SozR 2200 § 182 Nr 73 und § 182b Nr 28 und insbesondere Nr 16). Nach § 187 Nr 3 RVO idF vor dem Rehabilitationsangleichungsgesetz (RehaAnglG) habe die Satzung einer Krankenkasse nötige Hilfsmittel zur Wiederherstellung und Erhaltung der Arbeitsfähigkeit zubilligen können. Das Bundessozialgericht (BSG) habe die Zielsetzung erweitert (BSGE 33, 263). Durch das RehaAnglG sei
die Erweiterung gutgeheißen worden; es sei keinesfalls eine Einschränkung beabsichtigt gewesen (BT-Drucks 7/1237). Der Sitzschalenstuhl sei nicht deshalb notwendig, weil der Arbeitsplatz der Beigeladenen ein besonderes, nur auf sie zugeschnittenes Hilfsmittel erfordere; das aufrechte Sitzen und die freie Betätigung beider Hände sei nichts Besonderes, sondern vielen Arbeitsplätzen eigen. Die Leistungen der Beklagten nach §§ 182b, 182 Abs 2 RVO seien vorrangig gegenüber den Leistungen der Bundesanstalt für Arbeit (§ 57 Satz 1 des Arbeitsförderungsgesetzes - AFG -). Die Beklagte sei der vorrangig verpflichtete Träger iS des § 104 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X).
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des LSG Baden-Württemberg vom 26. Juni 1987 - L 4 Kr 2663/86 - und des Urteils des SG Stuttgart vom 18. Juni 1986 - S 2 Kr 2133/85 - zu verurteilen, ihm 2.005,18 DM zu erstatten.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie räumt ein, daß ein Sitzschalenstuhl ein Hilfsmittel iS des § 182b RVO sein könne. Im strittigen Fall sei dieses Mittel aber nicht zum direkten Ausgleich der Behinderung erforderlich und diene auch nicht der alltäglichen Lebensbetätigung im Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse. Es setze erst bei den Folgen der Behinderung im Zusammenhang mit einer Eingliederungsmaßnahme iS der §§ 39, 40 Abs 2 BSHG an. Wer wie die Beigeladene ein Delta-Gehrad benutzen könne, bedürfe zum normalen Sitzen keines Sitzschalenstuhls. Die Notwendigkeit seiner Beschaffung beschränke sich auf die Verbesserung der Situation am Arbeitsplatz. Es werde durch die Rechtsprechung des BSG nicht gedeckt, zu den allgemeinen Grundbedürfnissen auch die Tätigkeit in einer Behindertenwerkstatt oder auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu rechnen. § 57 Satz 1 AFG beziehe sich auf berufsfördernde Maßnahmen, die das Aufgabengebiet der Krankenversicherung nicht umfasse (ua § 6 Abs 2 Nr 2 RehaAnglG; § 193 Abs 2 RVO).
Die Beigeladene hat sich am Rechtsstreit nicht beteiligt.
II.
Die Revision ist begründet. Dem Kläger steht der geltend gemachte Erstattungsanspruch zu. Die Beklagte hatte die Beigeladene mit dem hier fraglichen Sitzschalenstuhl auszustatten. Nachdem sie ihrer Verpflichtung nicht nachgekommen war, wurde die Leistung vom nachrangig verpflichteten Kläger erbracht. Diesem ist sie nach § 104 SGB X erstattungspflichtig.
Zwischen den Beteiligten besteht kein Streit darüber, daß der Sitzschalenstuhl an sich ein Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung sein kann. Er ist geeignet, eine Behinderung, wie sie bei der Beigeladenen vorliegt, in beschränktem Umfang auszugleichen; er gibt beim Sitzen einen besseren Halt. Nach dem Hilfsmittelkatalog der Bundesverbände der Krankenversicherungsträger kann ein Sitzschalenstuhl ausnahmsweise in Betracht kommen, wenn ein Sitzkorsett nicht ausreicht; vorwiegend sei dies denkbar bei Tetraplegie, Querschnittslähmungen, spastisch Gelähmten. Die Krankenkasse hat deshalb einen Versicherten mit diesem Hilfsmittel auszustatten, wenn das im Rahmen der Krankenpflege und medizinischen Rehabilitation notwendig ist (§ 182 Abs 1 Nr 1 Buchst c iVm § 182b, § 182 Abs 2 RVO).
Die Beklagte bestreitet ihre Leistungspflicht im wesentlichen nur deshalb, weil die Beigeladene, die ein Delta-Gehrad benutzen könne, zum normalen Sitzen keinen Sitzschalenstuhl benötige; dieser diene lediglich der Verbesserung der Situation am Arbeitsplatz. Das LSG bestätigt die Auffassung der Beklagten mit der Begründung, das Hilfsmittel werde nicht zur Sicherstellung bzw Befriedigung elementarer Grundbedürfnisse, sondern ausschließlich für die Beschäftigung im Arbeitsbereich der Heggbacher Einrichtungen benötigt. Die Beklagte und das LSG sind damit zwar von Abgrenzungskriterien ausgegangen, die für die Leistungspflicht der Krankenkassen in diesem Leistungsbereich von Bedeutung sind (BSG SozR 2200 § 182b Nr 33 mwN); sie haben diese aber zu restriktiv angewandt. Es ist allerdings einzuräumen, daß aus der Rechtsprechung, die die Leistungspflicht der Krankenkassen für diejenigen Hilfsmittel bejaht, die zur Befriedigung elementarer Grundbedürfnisse notwendig sind, dagegen für jene Leistungen verneint, die nur die Folgen der Behinderung in besonderen Lebensbereichen auszugleichen vermögen, sich dann Abgrenzungsschwierigkeiten ergeben können, wenn eine Behinderung vor allem im beruflichen Bereich eines Ausgleichs bedarf. Einerseits ist es ein elementares Grundbedürfnis des Menschen, eine berufliche oder andere gleichwertige Tätigkeit auszuüben; andererseits sind Maßnahmen zur beruflichen Eingliederung eines Behinderten keine Leistungen der den Krankenkassen obliegenden Krankenpflege oder medizinischen Rehabilitation. Mit dieser Abgrenzungsfrage sich weiter zu befassen, ist jedoch nicht erforderlich. Im vorliegenden Fall geht es nicht darum, eine bestimmte berufliche Tätigkeit zu ermöglichen oder einen bestimmten Arbeitsplatz behindertengerecht auszugestalten. Das umstrittene Hilfsmittel ist vielmehr notwendig, damit die Beigeladene überhaupt eine sinnvolle Tätigkeit ausüben kann. Für sie kommt wegen ihrer Behinderung nur eine sitzende Tätigkeit in Betracht. Eine solche Tätigkeit, gleich welcher Art, ist ihr auf Dauer nur möglich, wenn ihr ein Sitzschalenstuhl zur Verfügung steht. Die Ausstattung mit diesem Hilfsmittel bezweckt somit nicht nur, daß die Beigeladene den Anforderungen einer bestimmten beruflichen Beschäftigung gerecht werden kann, sondern daß sie überhaupt zu einer Tätigkeit, nämlich zu der allein in Betracht kommenden Tätigkeit im Sitzen, befähigt wird. Erst durch dieses Hilfsmittel erlangt sie die Fähigkeit, eine Arbeit zu verrichten. Die Herstellung und Erhaltung der Arbeitsfähigkeit ist aber seit jeher eine Aufgabe der Krankenversicherung.
Der § 187 Nr 3 RVO idF vor dem am 1. Oktober 1974 in Kraft getretenen RehaAnglG ermächtigte die Krankenkassen, in ihren Satzungen Hilfsmittel gegen Verunstaltung und Verkrüppelung zuzubilligen, die nach beendigtem Heilverfahren nötig waren, um die Arbeitsfähigkeit herzustellen oder zu erhalten. Das BSG hatte diese Vorschrift in einem weiten Sinne ausgelegt. Bei mitversicherten Kindern hatte es als ausreichend erachtet, daß sich die Versorgung mit einer Prothese günstig auf die Schulfähigkeit auswirkte (BSGE 30, 151, 154). Aus der Eingliederung der Rentner in die gesetzliche Krankenversicherung als "vollwertige Mitglieder" - durch das Gesetz über die Krankenversicherung der Rentner vom 12. Juni 1956 - hatte es gefolgert, daß § 187 Nr 3 RVO aF einer auf Rentner bezogenen Auslegung bedurfte und dementsprechend dem erklärten Ziel der Vorschrift bereits dann genügt war, wenn mit dem Hilfsmittel die Fähigkeit hergestellt und erhalten wurde, am allgemeinen gesellschaftlichen Leben teilzunehmen (BSGE 33, 262, 266 ff). In einer weiteren Entscheidung hatte es sich erneut gegen eine enge Auslegung des § 187 Nr 3 RVO aF ausgesprochen (SozR 2200 § 187 Nr 3 - Badhelfer -; vgl auch aaO Nr 4 - Arthrodesenstuhl -). Durch das RehaAnglG wurde die Verpflichtung der Krankenkasse zur Hilfsmittelgewährung erweitert: Der Versicherte erhielt einen gesetzlichen Anspruch, und die Zielsetzung dieses Anspruchs wurde nicht auf die Herstellung und Erhaltung der Arbeitsfähigkeit beschränkt (§ 182 Abs 1 Nr 1 Buchst c iVm § 182b RVO nF).
Dadurch, daß das RehaAnglG die für eine Leistung gemäß § 187 Nr 3 RVO aF vorausgesetzte Zielsetzung nicht in das neue Leistungsrecht übernahm, sollte eine Leistungsbeschränkung beseitigt werden. Dem Versicherten wurde - im Rahmen der Krankenpflege und der medizinischen Rehabilitation - ein umfassender Anspruch eingeräumt (vgl BT-Drucks 7/1237, Begründung zu Nr 7 - § 182b RVO -). Es ist daher nicht zulässig, in der neuen gesetzlichen Regelung eine Leistungseinschränkung zu sehen. Der erkennende Senat hat dementsprechend in mehreren Entscheidungen zum Ausdruck gebracht, daß im Rahmen der Hilfsmittelgewährung die Möglichkeit der (Wieder-) Herstellung und Erhaltung der Arbeitsfähigkeit zu berücksichtigen ist (ua SozR 2200 § 182b Nr 10 und Nr 17 sowie § 182 Nr 73).
Der Klage war aus diesen Gründen stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes. Dabei war zu berücksichtigen, daß die Beigeladene - ihr gesetzlicher Vertreter - nicht am Rechtsstreit teilgenommen hat.
Bundessozialgericht
3 RK 29/87
Verkündet am
12. Oktober 1988
Fundstellen