Leitsatz (amtlich)
Witwenrentenabfindung (RVO § 1302 Abs 1) zählen nicht zu den "Kapitalzahlungen, die an die Stelle von Renten treten können" (EWG-V 3 Art 1 Buchst s).
Leitsatz (redaktionell)
Wenn der Richter nicht zu erkennen vermag, daß über Sinn und Tragweite einer Norm des europäischen Gemeinschaftsrechts Zweifel auftreten können, braucht er eine Vorabentscheidung des EuGH nicht einzuholen.
Normenkette
RVO § 1302 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23; EWGV 3 Art. 1 Buchst. s Fassung: 1958-09-25
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 29. Januar 1969 und das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 12. März 1968 werden aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die Klägerin bezog Witwenrente aus der Arbeiterrentenversicherung ihres verstorbenen ersten Ehemannes. Im August 1965 heiratete sie wieder. Den Antrag auf Abfindung der Rente lehnte die beklagte Landesversicherungsanstalt ab, weil die Klägerin, die die französische Staatsangehörigkeit besitzt, sich dauernd in Frankreich aufhalte und weil der Auslandsaufenthalt einer Erfüllung der Leistung entgegenstehe (§§ 1315 ff der Reichsversicherungsordnung - RVO -).
Der Klage haben Sozialgericht (SG) und Landessozialgericht (LSG) stattgegeben. Sie sehen die Ermächtigung zur Zahlung in das Ausland in Art. 10 Abs. 1 der EWG-Verordnung Nr. 3 (EWG-VO), wonach Renten und Sterbegelder nicht ruhen, wenn der Berechtigte in einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften wohnt. Was für Renten gilt, beziehen die Vorinstanzen auch auf Witwenrentenabfindungen.
Die Beklagte hat die - zugelassene - Revision eingelegt und beantragt, die vorinstanzlichen Urteile aufzuheben und die Klage abzuweisen; hilfsweise regt sie an, wegen der anstehenden Rechtsfrage den Europäischen Gerichtshof (EugH) anzurufen. Sie meint, für Witwenrentenabfindungen treffe das Recht der Europäischen Gemeinschaften keine Regelung.
Die Revision ist begründet.
Die Beklagte hat zutreffend angenommen, sie sei gemäß §§ 1315 ff RVO gehindert, der Klägerin die Witwenrentenabfindung auszuzahlen. Die Klägerin hält sich freiwillig gewöhnlich außerhalb des Geltungsbereichs der RVO auf. Für diesen Fall gilt der Grundsatz, daß Geldleistungen aus den Rentenversicherungen ruhen, soweit nicht das Gesetz etwas anderes anordnet oder im übernationalen Recht oder in zwischenstaatlichen Abkommen eine besondere Regelung getroffen ist (BSG 24, 227). Ein Abweichen von dem Grundsatz gestatten für einen Sachverhalt wie den vorliegenden weder das Gesetz noch das zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich bestehende Vertragsrecht. Vertragsbestimmungen, in denen die hier zu beantwortende Frage behandelt sein könnte, sind nicht neben den europäischen Rechtsvorschriften bestehen geblieben (Art. 5 Buchst. b EWG-VO Nr. 3). Die Normen des europäischen Rechts eröffnen indessen ebenfalls nicht die Erfüllung des Anspruchs auf Witwenrentenabfindung an eine Berechtigte, die sich freiwillig dauernd in Frankreich aufhält.
Als Grundlage für eine solche Zahlung käme allenfalls Art. 10 Abs. 1 EWG-VO Nr. 3 in Betracht. Nach dem hier interessierenden Teil dieser Regelung dürfen Renten, die nach den Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten erworben worden sind, nicht deshalb zum Ruhen gebracht werden, weil der Berechtigte im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnt. Was für Renten gilt, wird durch die Begriffserläuterung des Art. 1 Buchst. s EWG-VO Nr. 3 ua auf "Kapitalzahlungen" erstreckt, "die an die Stelle von Renten treten können". Zu solchen Kapitalzahlungen zählen Abfindungen, durch welche künftige Wiederkehrleistungen abgegolten werden, nicht jedoch Witwenrentenabfindungen. Die Bezeichnung "Abfindung" trifft auf diese nicht im eigentlichen Wortsinne zu. Zwar bestimmt § 1302 Abs. 1 RVO die Höhe der "Abfindung" nach dem fünffachen Jahresbetrag der bisher bezogenen Rente. Doch werden die Witwenrentenabfindungen nicht - wie Vorwegzahlungen kapitalisierter Rentengefälle (vgl. §§ 72 ff des Bundesversorgungsgesetzes - BVG - und §§ 603 ff RVO) - zur Ablösung solcher Bezüge gegeben, die der Berechtigte sonst in der Zukunft zu erwarten hätte. Denn die Witwenrente ist mit der Wiederheirat weggefallen (§ 1291 Abs. 1 RVO). Dieser Rentenwegfall steht in keiner ursächlichen Beziehung zur Gewährung der Witwenrentenabfindung. Deshalb kann sich der Betrag dieser Abfindung auch nicht nach dem Ausmaß des voraussichtlichen Rentenaufwandes bemessen (BSG 28, 102, 103; SozR Nr. 50 zu RVO § 1265). Die Unterscheidung zwischen einerseits der Witwenrentenabfindung als einer selbständigen, neben der Rente stehenden und nicht anstatt ihrer zu gewährenden Regelleistung (§ 1235 Nrn. 2 und 3 RVO) und andererseits der Abfindung "für" Renten (vgl. §§ 603 ff RVO) als ihr auszugleichender Gegenwert ist für das Verständnis des Art. 1 Buchst. s EWG-VO Nr. 3 erheblich. Durch diese Unterscheidung findet der - das Wort "Kapitalzahlungen" einschränkende - Nebensatz ("die an die Stelle von Renten treten können") seine Erklärung. Es ist nicht an Kapitalzahlungen schlechthin, sondern nur an solche gedacht, welche die Rente "ersetzen" und welche demselben oder gleichen Zweck wie diese dienen. Freilich wird der Ausdruck "anstelle von" nicht nur dann verwendet, wenn das, was statt eines anderen gesetzt wird, den Wertausgleich für etwas Verlorenes oder Aufgegebenes abgibt. Wenn die Aufmerksamkeit weniger auf den stellvertretenden Charakter des einen "für" das andere gelenkt wird, liegt in der Wendung "anstelle von" nicht immer die gleiche Zweckrichtung beschlossen. Stets soll aber gesagt sein, daß ein Gegenstand den Platz eines anderen eingenommen hat. Schon diese Bedeutung hat jedoch die Witwenrentenabfindung nicht. Denn sie kann den Ort und erst recht die Funktion der Rente nicht ausfüllen, weil die Rente ohnehin wegfällt. Vor allem ist der Zweck, der mit der Witwenrentenabfindung verfolgt wird, von dem Zweck verschieden, der mit der Leistung von Renten erreicht werden soll. Mit der Rente sollen dem einzelnen die anderweit verlorenen Unterhaltsmittel bereitgestellt werden. Dem Institut für Witwenrentenabfindungen liegt dagegen ein verstärkt öffentliches Interesse und ein sozial-ethisches Motiv zugrunde; mit ihm soll die neue Eheschließung der Witwen gefördert werden, damit den sogenannten Rentenkonkubinaten entgegengewirkt wird. Diese sozial-ethische Absicht wird jeder Staat naturgemäß nur oder doch in erster Linie innerhalb der Grenzen des eigenen Bereichs zu verwirklichen suchen. Dagegen ist nicht zu unterstellen, daß die Leistung, die von einer solchen - territorial gebundenen - Absicht getragen wird, darüber hinaus auch den Bewohnern anderer Staaten zugedacht sein soll. Dafür hätte es einer deutlicheren Anordnung bedurft.
Von der gleichen Erwägung geht das internationale und europäische Sozialversicherungsrecht aus. Dort, wo in zwischenstaatlichen Übereinkünften davon die Rede ist, daß bestimmte Leistungen nicht auf den innerstaatlichen Bereich beschränkt, sondern auch fremden Staatsangehörigen im anderen Land zugute kommen sollen, gilt ein solches Entgegenkommen nicht ohne weiteres für "Abfindungen" der hier besprochenen Art. Deshalb vermag sich die Klägerin nicht, wie sie es getan hat, auf Art. 16 Abs. 1 des Allgemeinen Abkommens zwischen Deutschland und Frankreich vom 10. Juli 1950 (BGBl II 1951, 177) zu berufen. In diesem Artikel, der im übrigen nicht in den Anhang D zur EWG-VO aufgenommen und sonach aufgehoben worden ist, war zwar vereinbart worden, daß im Verhältnis der Staatsangehörigen beider Länder zueinander die Gewährung bestimmter Leistungen von Wohnsitzbedingungen unabhängig sei. Was unter "Leistungen" zu verstehen war, wurde indessen durch die Überschrift des Kapitels 4, dem Art. 16 eingegliedert war, verdeutlicht. Diese lautet: "Gemeinsame Bestimmungen für die Invaliditäts-, Alters- und Hinterbliebenenversicherung (Renten)". Der einengende Zusatz "Renten", der sich auch an anderen Stellen des Abkommens findet (vgl. die Überschrift des Kapitels 3 sowie Art. 13 § 5) ist bezeichnend. Durch ihn wird der weitere Begriff "Leistungen" in seinem Inhalt reduziert. An diese Sinnverkürzung halten sich ebenfalls andere Abkommen; so diejenigen, welche die Bundesrepublik mit Italien und den Niederlanden geschlossen hat. Auch in diesen Vereinbarungen ist jeweils eine Klausel, wie die des Art. 16 Abs. 1 des Deutsch-Französischen Vertrags enthalten. Gleichwohl haben es die vertragschließenden Staaten für nötig befunden, dieser Klausel eine besondere Bestimmung zur Seite zu stellen, die die Zahlung von Abfindungen an Berechtigte im Ausland erlauben. Darüber handeln Art. 3 Abs. 4 des Abkommens mit den Niederlanden vom 29. März 1951 (BGBl II, 222) und Art. 3 Abs. 4 des Abkommens mit Italien vom 5. Mai 1953 (BGBl II, 1956, 2). ZB heißt es in der angeführten Stelle des Deutsch-Niederländischen Vertrags, daß in bezug auf "die Abfindung von Ansprüchen oder die Gewährung anderer einmaliger Leistungen" der Aufenthalt im anderen Staat nicht als Auslandsaufenthalt gelte. Die Existenz dieser und verwandter Sonderklauseln verdeutlicht und rechtfertigt die Differenzierung zwischen "Leistungen", die Renten gleichzusetzen sind, und "Abfindungen", die nicht einmal das Surrogat solcher Renten sind. An diese Differenzierung knüpft die EWG-VO Nr. 3 an. In ihrem Anhang D ist Art. 3 Abs. 4 des Deutsch-Niederländischen Abkommens aufrecht erhalten worden. Hingegen ist die allgemeine Klausel über die Wohnsitzunabhängigkeit von "Leistungen", nämlich Abs. 3 des Art. 3 des Vertrags mit den Niederlanden ebenso wie Art. 16 Abs. 1 des Deutsch-Französischen Abkommens durch das Recht der EWG aufgesaugt worden.
Auf dem Hintergrund dieser internationalen Rechtssetzungspraxis ist Art. 10 Abs. 1 EWG-VO Nr. 3 zu lesen. Dieser spricht selbst nur von Renten und Sterbegeldern. Durch Art. 1 Buchst. s EWG-VO Nr. 3 wird er lediglich in bezug auf solche Kapitalzahlungen ergänzt, die den Wert für in der Zukunft zu erbringende laufende Bezüge ausgleichen. Mithin ist durch das Recht der EWG die Schranke der §§ 1315 ff RVO, die eine Zahlung von Witwenrentenabfindungen an Berechtigte im Ausland verbietet, nicht beseitigt.
Zur abschließenden Entscheidung sieht sich der erkennende Senat für befugt an, ohne zuvor dem EuGH die Frage vorlegen zu müssen, wie Art. 1 Buchst. s und Art. 10 Abs. 1 EWG-VO Nr. 3 zu interpretieren sind. Eine Vorabentscheidung des EuGH nach Art. 177 Abs. 3 EWGV ist nicht in jedem Falle einer Auslegung von Handlungen der Organe der Gemeinschaft herbeizuführen. Denn auch eindeutige Vorschriften sind auslegungsfähig, wenn auch nicht notwendig auslegungsbedürftig. Vielmehr ist die Anrufung des EuGH geboten, wenn sich die Frage der Auslegung stellt. Das ist allenfalls dann zu erwägen, wenn mehrere Deutungen in Betracht zu ziehen sind, mögen auch die Gewichte der verschiedenen Interpretationen unterschiedlich verteilt sein. Dagegen bleibt die Entscheidung im Verantwortungsbereich des nationalen Richters, wenn er nicht zu erkennen vermag, daß über Sinn und Tragweite einer Norm des europäischen Gemeinschaftsrechts Zweifel auftreten können. So ist es hier. Nicht nur das Rentenversicherungsrecht der Bundesrepublik, sondern auch die Bestimmungen des zwischenstaatlichen und supranationalen Rechts stimmen in der Differenzierung von Renten, - rentenersetzenden - Kapitalzahlungen und anderen einmaligen Leistungen überein. Für abweichende Lösungen bieten sich keine Hinweise an. Die anders lautenden Entscheidungen der Vorinstanzen stehen dieser Ansicht nicht entgegen. Die Vorderrichter haben die hier erörterten Unterschiede der Leistungsarten überhaupt nicht gesehen. Erst auf der Grundlage einer solchen Erkenntnis könnten aber denkbare Zweifel an der gefundenen Antwort aufkommen.
Nach allem war der Klage auf Überweisung der Witwenrentenabfindung ins Ausland nicht stattzugeben. Die angefochtenen Urteile waren aufzuheben und der Bescheid der Beklagten zu bestätigen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen