Leitsatz (redaktionell)
Zur Frage der Zahlung einer Witwenrentenabfindung ins Ausland; (12. Senat des BSG beschließt Rückfrage beim 4. Senat des BSG).
Normenkette
RVO § 1302 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Dem Großen Senat wird gemäß § 42 des Sozialgerichtsgesetzes folgende Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt:
Ist einer Berechtigten im Ausland die Witwenrentenabfindung auch dann zu zahlen, wenn die Zahlung weder im übernationalen Recht noch in zwischenstaatlichen Abkommen ausdrücklich vorgesehen ist?
Gründe
I
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der in der Schweiz wohnhaften Klägerin die Witwenrentenabfindung (§ 1302 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) ausgezahlt werden kann.
Die Klägerin hat aus der Versicherung ihres ersten Ehemannes eine Witwenrente bezogen. Sie hat sich am 30. November 1966 von ihrem bisherigen Wohnort in Baden abgemeldet und ist nach Basel verzogen. Dort hat sie am 1. Dezember 1966 einen Schweizer Staatangehörigen geheiratet. Seitdem wohnt sie in der Schweiz. Die Beklagte hat die beantragte Witwenrentenabfindung zwar festgesetzt, die Auszahlung des Geldes jedoch abgelehnt, weil sich die Klägerin gewöhnlich im Ausland aufhalte. Die Klage ist ohne Erfolg gewesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg die Beklagte zur Auszahlung der Abfindung verpflichtet. Es ist der Auffassung, daß weder gesetzliche Vorschriften noch das sogenannte Territorialprinzip der Auszahlung des Abfindungsbetrages an die Klägerin entgegenstehen (Urteil vom 19. Dezember 1969).
Die zugelassene Revision der Beklagten stützt sich ausschließlich auf Gründe, die sich in der bisherigen Rechtsprechung des 4. Senats finden. Dieser hat entschieden, daß der Aufenthalt der Berechtigten außerhalb des Geltungsbereichs der RVO der Zahlung der Witwenrentenabfindung entgegensteht, sofern nicht übernationales Recht oder zwischenstaatliche Abkommen die Zahlung zulassen (vgl. die Urteile vom 3.2.1966 - BSG 24, 227 -, 12.11.1969 - SozR Nr. 10 zu § 1302 RVO -, 14.10.1970 - 4 RJ 201/70).
II
Der 12. Senat sieht darin, daß weder in den §§ 1315 bis 1323 a RVO noch in den Bestimmungen des deutsch-schweizerischen Abkommens über Soziale Sicherheit vom 25. Februar 1964 (BGBl II 1293) die Witwenrentenabfindung aus der gesetzlichen Rentenversicherung ausdrücklich erwähnt ist, keinen hinreichenden Grund für die Annahme, daß der Klägerin, weil sie in der Schweiz wohnt, die Leistung nicht ausgezahlt werden kann. Er ist vielmehr - nachdem auch der 3. Senat hinsichtlich einer anderen Regelleistung der gesetzlichen Rentenversicherung in dem Auslandsaufenthalt des Berechtigten kein Zahlungshindernis gesehen hat (Urteile vom 28.8.1970 - SozR Nr. 24 zu § 381 RVO -, 27.5.1971 - 3 RK 64/70 und 16.7.1971 - 3 RK 1/71) - der Auffassung, daß die Witwenrentenabfindung aus der gesetzlichen Rentenversicherung unter den gleichen Voraussetzungen an Berechtigte außerhalb des Geltungsbereichs der RVO zu zahlen ist, wie dies in den §§ 1315 ff für die Rente bestimmt ist (ebenso Urteil des 5. Senats vom 28.1.1971 - SozR Nr. 12 zu § 1302 RVO). Der Senat will an seiner bisherigen, gegenteiligen Rechtsprechung (vgl. Urteil vom 29.5.1969 - 12 RJ 152/68) nicht mehr festhalten und die Revision der Beklagten zurückweisen.
Der 4. Senat hat auf Anfrage mitgeteilt, daß er an seiner in den Entscheidungen vom 3. Februar 1966 (BSG 24, 227), 12, November 1969 (SozR Nr. 10 zu § 1302 RVO) und 14. Oktober 1970 (4 RJ 201/70) niedergelegten Rechtsauffassung festhält (Beschluß vom 23. Juni 1971 - 4 AR 11/71). Der Senat hat daher beschlossen, die aufgezeigte Rechtsfrage gemäß § 42 SGG dem Großen Senat zur Entscheidung vorzulegen.
III
Der 4. Senat hat seine Auslegung der §§ 1315 bis 1323 a RVO in erster Linie aus dem Territorialprinzip hergeleitet, wonach sich die Sozialversicherungsgesetze im allgemeinen nur auf das Inland beziehen und demzufolge Leistungen der Rentenversicherung regelmäßig nur im deutschen Rechtsanwendungsgebiet zu erbringen seien. Der 3. Senat hat in der Entscheidung vom 28. August 1970 aaO bereits dargelegt, daß es für den Bereich der gesetzlichen Kranken- und Unfallversicherung einen aus dem Territorialprinzip abgeleiteten Grundsatz des Inhalts, daß Leistungen nur an Berechtigte im Inland zu erbringen seien, bei Auslandsaufenthalt also ruhen, nicht gibt. Gleiches gilt jedenfalls für den Bereich des Leistungsrechts der gesetzlichen Rentenversicherung. Auch für diesen Versicherungszweig ist das Territorialprinzip nur für die Frage maßgebend, wieweit sich die Regelungen des Versicherungszwanges durch den inländischen Gesetzgeber erstrecken können (ebenso Urteil des 5. Senats vom 28.1.1971 aaO). Sind Pflichtbeiträge zur Rentenversicherung aufgrund dieses Versicherungszwanges im Inland entrichtet worden, so ist sowohl das Entstehen als auch der Wegfall einer Leistung nicht von dem Wohnsitz des Versicherten oder seiner Hinterbliebenen im Bundesgebiet abhängig. Wollte man das Territorialprinzip dagegen auch generell für das Leistungsrecht der gesetzlichen Rentenversicherung gelten lassen und demzufolge die Vorschriften der §§ 1315 ff RVO lediglich als Ausnahmen von der Regel der ausschließlichen "Inlandsleistungen" bewerten, so könnte zwangsläufig die ebenfalls in den Bereich des Leistungsrechts fallende Vorschrift des § 1291 Abs. 1 RVO bei bisher ins Ausland gezahlten Witwen- und Witwerrenten keine Anwendung finden; deren Wegfall wäre somit bei Wiederheirat der Berechtigten im Ausland überhaupt nicht zu bewirken. Daraus erhellt, daß die folgerichtige Anwendung des Territorialprinzips im Leistungsrecht der gesetzlichen Rentenversicherung zu kaum vertretbaren Ergebnissen führen würde. Auch ist nicht zu erkennen, inwiefern die nur auf Antrag (§§ 1545 Abs. 1 Nr. 2, 1613 RVO) zu gewährende Rentenabfindung als Ausübung staatlicher Hoheitsgewalt - dem wesentlichen Kriterium des Territorialprinzips (vgl. BSG 7, 257, 263; 30 244, 246) - angesehen werden könnte.
Der 4. Senat sieht seine auf dem Territorialprinzip beruhende Auffassung durch die mit dem 1. Rentenversicherungs-Änderungsgesetz (RVÄndG) eingefügte Vorschrift des § 1323 a RVO bestätigt, weil damit der Gesetzgeber die Notwendigkeit der ausdrücklichen Durchbrechung des Territorialprinzips für den Fall der Beitragserstattung erkannt habe und im übrigen seine Geltung voraussetze. Diese Argumentation ist schon deswegen nicht überzeugend, weil - worauf der 3. Senat aaO zutreffend hinweist - die neue Vorschrift wohl nur als Reaktion auf das Urteil des 4. Senats vom 24. Februar 1965 (BSG 22, 263) zu verstehen ist. In der Gesetzesbegründung zu § 1323 a RVO heißt es insoweit, daß die Beitragserstattung bei Auslandsaufenthalt "im Gesetz bisher nicht ausdrücklich geregelt" sei (vgl. BT-Drucksache IV/2572, Teil B Art. 1 § 1 zu Nr. 19 RVÄndG). Die Einfügung des § 1323 a RVO durch das 1. RVÄndG ist daher lediglich als Klarstellung anzusehen (vgl. Zimmer, Rent.-Vers der Arbeiter und der Angestellten, Anm. 2 zu § 1323 a RVO), die hinsichtlich der Zulässigkeit der Zahlung anderer Leistungen in das Ausland keine Rückschlüsse erlaubt.
Für die Zahlung von Rentenabfindungen liegt es außerdem nahe, daß der Gesetzgeber - wegen des Zusammenhanges mit dem Wegfall der bisher gewährten Hinterbliebenenrente - von einer besonderen Regelung für die Rentenabfindungen deshalb absah, weil er eine entsprechende Anwendung der §§ 1318 ff RVO für möglich und zulässig gehalten hat. Dabei mag die Überlegung maßgebend gewesen sein, daß nicht einzusehen ist, weshalb zB einer Witwe, deren Rentenanspruch beim ständigen Auslandsaufenthalt ganz oder teilweise zu erfüllen ist, im Falle der Wiederheirat keine Witwenrentenabfindung zustehen soll. Diese würde dann - im Hinblick auf den nach § 1302 Abs. 1 RVO bestehenden unmittelbaren Zusammenhang mit dem Zahlbetrag der bisher bezogenen Hinterbliebenenrente - ohnehin nach dem Zahlbetrag der Auslandsrente zu bemessen sein. Einer besonderen Regelung bedurfte es daher insoweit nicht.
Die Richtigkeit dieser Annahme wird nicht zuletzt durch das dem 12. Senat in Ablichtung vorliegende Schreiben des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung vom 4. Januar 1971 - IV b 7 - 4120.7 - 3551/70 - bestätigt (vgl. Bl. 50/51 BSG-Akte). Danach hielt die deutsche Delegation bei den in den Jahren 1963/64 - und damit nach Inkrafttreten der §§ 1315 ff RVO - geführten Verhandlungen über die Revision des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über Sozialversicherung vom 24. Oktober 1950 die Aufnahme des bisherigen Art. 4 Abs. 2, der die Zahlung der Witwenrentenabfindung in die Schweiz ausdrücklich zuließ, in das revidierte Abkommen vom 25. Februar 1964 für entbehrlich, weil die Mehrzahl der deutschen Rentenversicherungsträger damals der Ansicht war, daß Witwenrentenabfindungen (trotz der §§ 1315 bis 1323 RVO) auch in das Ausland zu zahlen sind, und entsprechend verfuhren (vgl. Verbandskommentar zur RVO, 6. Aufl., Ergänzungslieferung Dezember 1961; Vorbemerkung vor § 1315 RVO sowie Haensel/Lippert, Fremdrenten- und Auslandsrentengesetz, 2. Aufl., Band 2, Anm. 2 zu Art. 2, S. 474 f mit weiteren Nachweisen).
Einen gegenteiligen Schluß läßt auch die Systematik der durch Art. 2 Nr. 5 FANG mit Wirkung vom 1. Januar 1959 in die RVO eingefügten Regelungen der §§ 1315 ff nicht zu. Ob Leistungen in Gebiete außerhalb des Geltungsbereichs des Gesetzes zu erbringen sind, regeln hiernach Ruhens-, also Zahlungsvorschriften. Die Ansprüche selbst werden durch den Aufenthalt im Ausland nicht berührt. Überdies wollte der Gesetzgeber - wie sich aus der Begründung zum FANG ergibt - lediglich die Zahlung von Rentenleistungen bei Auslandsaufenthalt neu regeln (vgl. BT-Drucksache III/1109, Teil B, Art. 2 zu Nr. 4, Allgemeines). Daraus darf gefolgert werden, daß die §§ 1315 ff RVO für die übrigen Regelleistungen der Rentenversicherung (§ 1235 RVO) bei Aufenthalt außerhalb des Geltungsbereichs des Gesetzes keine Verschlechterung gegenüber dem bisherigen Recht beinhalten sollten.
Während der Geltung der §§ 1281, 1282, 1284, 1287 RVO aF und des § 8 FremdRG (FAG) sind indes die Witwenrentenabfindungen auch bei Wiederheirat im Ausland gezahlt worden (vgl. Verbandskommentar, 5. Aufl., Anm. 4 zu § 1287 RVO und Anm. 1 zu § 8 FremdRG), weil die damaligen Ruhensvorschriften bei Auslandsaufenthalt ausschließlich die Renten betrafen. Die Witwenrentenabfindung ist in § 1298 Satz 2 RVO erstmals durch das Gesetz vom 13. Juli 1923 (RGBl I 636) eingeführt worden. Dies war für den Gesetzgeber kein Anlaß, die sich nur auf die Renten beziehenden Ruhensbestimmungen bei Auslandsaufenthalt (§§ 1313, 1314 RVO idF des Gesetzes vom 19.7.1923 - RGBl I 687) auf die Witwenrentenabfindungen auszudehnen.
Daran hat sich durch die seit 1. Januar 1959 geltende Neuregelung der §§ 1315 ff RVO, die sich ebenfalls allein mit den Rentenleistungen befassen und hier zunächst das Ruhen der Renten und anschließend die Ausnahmen vom Ruhen behandeln, nichts geändert. Anderenfalls wäre schwerlich erklärbar, weshalb das nach der gegenteiligen Auffassung des 4. Senats doch selbstverständliche Ruhen der Rentenleistungen in den §§ 1315 ff RVO eigens angesprochen wird und weshalb sich die Ausnahmen vom Ruhen der Leistungen bei vorübergehendem Aufenthalt außerhalb des Geltungsbereichs der RVO allein auf Rentenleistungen beziehen. Hätte der Gesetzgeber durch Art. 2 Nr. 5 FANG wirklich erstmals die Erfüllung der übrigen Regelleistungen im Ausland ganz oder zum Teil ausschließen wollen, so hätte es auch erstmals entsprechender ausdrücklicher Vorschriften bedurft, wie es zB für den Bereich der Unfallversicherung in § 12 FRG geschehen ist. Da solche fehlen, ist nur folgende Alternativ-Lösung denkbar: Entweder sind die in den §§ 1315 ff RVO nicht genannten Witwenrentenabfindungen bei Auslandsaufenthalt ohne Einschränkungen wie bei Inlandsaufenthalt zu zahlen oder die Ruhensvorschriften der §§ 1315 ff RVO gelten für die Zahlung der Witwenrentenabfindungen ins Ausland entsprechend. Der 12. Senat möchte der letzteren Lösung im Hinblick auf den aufgezeigten engen Zusammenhang zwischen der Abfindung und dem Zahlbetrag der bisher bezogenen Rente den Vorzug geben. Auch der 5. Senat neigt im Urteil vom 28. Januar 1971 aaO zu der Auffassung, daß die Vorschriften der §§ 1315 ff RVO auf die Witwenrentenabfindung entsprechend anzuwenden sind, weil es sich hierbei - wenn auch nicht rechtlich, so doch wirtschaftlich - um im voraus zu zahlende wiederkehrende Rentenleistungen handelt.
Die gegenteilige Ansicht des 4. Senats wird somit weder der geschichtlichen Entwicklung und der Systematik der maßgebenden Ruhensbestimmungen noch dem Rechtscharakter der §§ 1315 ff RVO als bloße Zahlungsvorschriften gerecht. Sie vermag auch im Ergebnis nicht zu befriedigen. Die Entscheidungen des 4. Senats können das Wiederaufleben der Hinterbliebenenrente nach § 1291 Abs. 2 RVO bei Auflösung der im Ausland geschlossenen Ehe nicht verhindern, obwohl dieser gesetzlichen Bestimmung ebenso wie § 1302 RVO die sozialpolitische Erwägung der Abkehr vom Rentenkonkubinat zugrunde liegt und beide Vorschriften daher im Zusammenhang gesehen werden müssen (vgl. Eicher/Haase, Die Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, 3. Aufl., Anm. 2 zu § 1291 RVO). Im übrigen ist nach der vom 4. Senat vertretenen Ansicht in den Fällen, in denen deutsche Staatsangehörige Ausländer heiraten und ihren Wohnsitz in das Ausland verlegen wollen, die Zahlung der Rentenabfindung allein davon abhängig, ob die Ehe noch in der Bundesrepublik oder bereits im Ausland geschlossen wird (vgl. Urteil des 4. Senats vom 14.10.1970 - SozR Nr. 11 zu § 1302 RVO). Die Auszahlung der Rentenabfindung wäre somit bei Berücksichtigung der Rechtsauffassung des 4. Senats in diesen Fällen auch manipulierbar. So hätte gerade die Klägerin des vorliegenden Rechtsstreits, die bis zu ihrer Wiederheirat in W/Baden gewohnt hat, welcher Ort nur etwa 10 km von B, dem Ort ihrer Eheschließung entfernt liegt, es bei Kenntnis der Rechtsprechung unschwer bewerkstelligen können, daß ihr die Abfindung trotz Auslandaufenthalts gezahlt werden muß, indem sie sich zum Umzug in die Schweiz erst nach der Wiederheirat entschlossen hätte.
Nach alledem ist der 12. Senat nicht der Auffassung, daß nur die in den §§ 1315 ff RVO ausdrücklich geregelten Leistungen außerhalb des Geltungsbereichs des Gesetzes zulässig sind. Er ist vielmehr mit den Ausführungen des 5. Senats im Urteil vom 28. Januar 1971 aaO der Meinung, daß - umgekehrt - lediglich die dort für die Renten ausdrücklich geregelten Einschränkungen auch bei der Zahlung der Witwenrentenabfindung in das Ausland beachtet werden müssen. Die gestellte Rechtsfrage ist demnach zu bejahen.
Fundstellen