Leitsatz (amtlich)
Ein Versicherter, der im rheinisch-westfälischen Steinkohlenbergbau als gelernter Schmied über Tage (Hauptberuf) tätig war, ist vermindert bergmännisch berufsfähig, wenn er nur noch die Tätigkeiten eines Apparatewärters, Tafelführers, Verwiegers im Landabsatz und Instrumentenablesers verrichten kann.
Normenkette
RKG § 45 Abs. 2 Fassung: 1957-05-21
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 28. November 1967 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
In der Revisionsinstanz streiten die Beteiligten nur noch über die Bergmannsrente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit.
Der am 18. Dezember 1923 geborene Kläger war seit dem 3. Oktober 1947 als gelernter Schmied im Übertagebetrieb des Bergbaues beschäftigt. Wegen der Folgen eines am 6. September 1957 erlittenen Arbeitsunfalles mußte er diese Tätigkeit zunächst aufgeben. Er nahm sie zwar am 13. März 1958 wieder auf, war danach aber wiederholt arbeitsunfähig krank. Vom 1. Oktober 1963 bis zum 31. Dezember 1963 war er als Kohlenfahrer und seit dem 1. Januar 1964 als Platzreiniger tätig.
Die Beklagte gewährte dem Kläger die Gesamtleistung wegen Erwerbsunfähigkeit für die Zeit vom 8. März 1958 bis zum 31. August 1958. Am 16. Juli 1963 beantragte der Kläger die Gesamtleistung wegen Berufsunfähigkeit. Die Beklagte lehnte den Antrag am 30. Juli 1964 ab. Sie nahm an, der Kläger sei weder berufsunfähig noch vermindert bergmännisch berufsfähig, denn er könne nach den vorliegenden Gutachten noch einige Arbeiten der Lohngruppe III über Tage verrichten, z. B. als Laboratoriumsarbeiter, Wäschearbeiter, Abnehmer, Tafelführer und Verwieger. Der Widerspruch des Klägers hatte keinen Erfolg.
Das mit der Klage angerufene Sozialgericht (SG) hat die Beklagte nach Beweiserhebung verurteilt, dem Kläger die Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit ab Antragstellung nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren, weil der Kläger wegen der Gebrauchsbehinderung der linken Hand die Tätigkeiten als Stellwerkswärter, Tafelführer, Verwieger u. ä. nicht verrichten könne.
Das von der Beklagten mit der Berufung angerufene Landessozialgericht (LSG) hat das in dem Rechtsstreit L 2 Kn 449/62 erstattete technische Gutachten des Obersteigers H vom 28. April 1966 beigezogen und zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht. Das LSG hat das Urteil des SG abgeändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger Bergmannsrente von der Antragstellung an zu gewähren. Die weitergehende Klage hat es abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, Berufsunfähigkeit liege nicht vor, weil der Kläger trotz der fast vollständigen Gebrauchsunfähigkeit des linken Armes nicht gehindert sei, noch als Apparatewärter, Tafelführer, Verwieger im Landabsatz oder Instrumentenableser im Bergbau und in der übrigen Industrie tätig zu sein, zumal der rechte Gebrauchsarm nicht beschädigt sei. Den Ausführungen des technischen Sachverständigen sei zu entnehmen, daß der Verlust der Gebrauchsfähigkeit eines Armes nicht die Unfähigkeit zur Verrichtung dieser Arbeiten herbeiführe. Die genannten Tätigkeiten seien dem Kläger sozial zumutbar; mit ihnen könne er auch mehr als die Hälfte des tariflichen Einkommens eines gelernten Schmiedes erzielen. Dagegen sei der Kläger vermindert bergmännisch berufsfähig. Die genannten Tätigkeiten der Lohngruppen II und III setzten dem gelernten Handwerker gegenüber keine im wesentlichen gleichwertigen Kenntnisse und Fähigkeiten voraus. Ob dies für die Arbeiten des Stellwerkswärters und Lampenstubenaufsehers gelte, die seit dem 1. Juni 1966 der Lohngruppe I zugeordnet seien, könne dahingestellt bleiben. Der Kläger sei bisher nicht im Rangierdienst beschäftigt gewesen; darüber hinaus sei aber auch für beide Tätigkeiten die Gebrauchsfähigkeit beider Hände unerläßlich.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte die Verletzung des § 45 Abs. 2 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG). Sie trägt vor, die Fähigkeit, noch als Verwieger, Apparatewärter und Tafelführer zu arbeiten, schließe verminderte bergmännische Berufsfähigkeit aus. Die genannten Tätigkeiten seien der Tätigkeit eines gelernten Schmiedes über Tage im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig; die wirtschaftliche Gleichwertigkeit sei auch ein Indiz dafür, daß es sich dabei um Tätigkeiten handele, die im wesentlichen gleichwertige Kenntnisse und Fähigkeiten verlangten. Wenn selbst der Hauer als Facharbeiter des Bergbaues auf Arbeiten verweisbar sei, die nicht wegen der besonderen Kenntnisse und Fähigkeiten, sondern - wie beim Sprengstoffausgeber - wegen der damit verbundenen Verantwortung tariflich hoch eingestuft seien, so müsse dies auch für die über Tage beschäftigten Handwerker gelten, bei denen von einer bergmännischen Berufsfähigkeit kaum gesprochen werden könne, weil ihre Tätigkeit nicht typisch bergmännischer Natur sei, sondern ebenso in anderen Betrieben vorkomme.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil sowie das Urteil des SG Münster vom 19. Januar 1966 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für richtig und ist der Ansicht, es entspreche der Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 13. April 1967 (SozR Nr. 26 zu § 45 RKG).
II
Die zulässige Revision der Beklagten hat keinen Erfolg, denn das LSG hat die Beklagte mit Recht zur Gewährung der Bergmannsrente verurteilt.
Der Kläger hat nicht nur die erforderliche Wartezeit von 60 Beitragsmonaten in der knappschaftlichen Rentenversicherung zurückgelegt, sondern er ist auch vermindert bergmännisch berufsfähig i. S. des § 45 Abs. 2 RKG. Er ist infolge der bei ihm bestehenden Gesundheitsstörungen weder imstande, die von ihm bisher verrichtete knappschaftliche Arbeit noch andere im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertige Arbeiten von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten in knappschaftlichen Betrieben auszuüben.
Der Kläger ist zwar nach den von der Beklagten mit der Revision nicht angegriffenen Tatsachenfeststellungen, an die das BSG nach § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) gebunden ist, noch in der Lage, als Apparatewärter, Tafelführer, Verwieger im Landabsatz oder Instrumentenableser im Bergbau eine seiner früheren Tätigkeit als gelernter Schmied im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertige Tätigkeit zu verrichten. Bei den Verweisungstätigkeiten handelt es sich aber nicht um Arbeiten von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten, wie es nach § 45 Abs. 2 RKG erforderlich ist.
Entscheidende Bedeutung hat das Merkmal "ähnliche Ausbildung" nicht. Es ist kein selbständiges und zusätzliches Tatbestandsmerkmal, sondern nur in Verbindung mit den erforderlichen "gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten" zu verstehen. Es bezeichnet nur den Weg, der zu diesen Kenntnissen und Fähigkeiten als Ergebnis einer irgendwie gearteten Ausbildung führt. Erforderlich ist deshalb nicht, daß die Ausbildung nach Art und Dauer im wesentlichen übereinstimmt. Es genügt vielmehr, daß zur Ausübung der Verweisungstätigkeiten Kenntnisse und Fähigkeiten erforderlich sind, die denen der bisherigen Tätigkeit von der Qualität her gleichwertig sind. Hierbei verlangen Sinn und Zweck des Gesetzes - ebenso wie beim Lohnvergleich - nur, daß die Fähigkeiten einander "im wesentlichen" qualitativ gleichwertig sind (vgl. SozR Nr. 22 zu § 45 RKG). Solche Tätigkeiten kann der Kläger aber nicht mehr verrichten. Wenn auch in aller Regel mit der wesentlichen wirtschaftlichen Gleichwertigkeit der zu vergleichenden Arbeiten die wesentliche Gleichwertigkeit der Kenntnisse und Fähigkeiten verbunden sein wird (vgl. SozR Nr. 23 zu § 45 RKG), so trifft diese Vermutung jedenfalls für die Tätigkeit eines Apparatewärters, Tafelführers, Verwiegers im Landabsatz und Instrumentenablesers im Bergbau nicht zu. Wie das LSG zutreffend erkannt hat, handelt es sich um Tätigkeiten, die keine beruflichen Kenntnisse und Fähigkeiten voraussetzen, sondern von jedem anderen Arbeiter nach kurzer Einarbeitung verrichtet werden können. Ihre im Vergleich zu sonstigen ungelernten Tätigkeiten höhere tarifliche Einstufung beruht nicht auf einer Würdigung der beruflichen Kenntnisse und Fähigkeiten, sondern darauf, daß die Tätigkeiten bestimmte charakterliche Eigenschaften, nämlich Zuverlässigkeit und gehobenes Verantwortungsbewußtsein voraussetzen (vgl. SozR Nrn 26 und 15 zu § 45 RKG). Sind aber andere Umstände als die nach dem Gesetz erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten für die tarifliche Einstufung ausschlaggebend, so entfällt die Verweisungsmöglichkeit (vgl. BSG Bd. 25 S. 113, 115). Für den gelernten Handwerker über Tage gelten die gleichen Grundsätze wie für den gelernten Handwerker unter Tage. Wie dieser ist er zwar nicht berufsunfähig, wohl aber vermindert bergmännisch berufsfähig, wenn er über anderweitig erworbene Kenntnisse und Fähigkeiten nicht verfügt, so daß er nur noch einfache Tätigkeiten mit gehobener Verantwortung ausüben kann, ohne seine speziellen Berufskenntnisse verwerten zu können. Die Vorschrift des § 45 Abs. 2 RKG unterscheidet nicht zwischen über und unter Tage Beschäftigten. Sie erlaubt daher auch keine verschiedene Auslegung. Zwar wird die hier getroffene Entscheidung im allgemeinen dazu führen, daß bei einem gelernten Schmied - ebenso wie bei den übrigen gelernten Handwerkern über Tage - im Rahmen der verminderten bergmännischen Berufsfähigkeit keine andere Verweisungstätigkeit gefunden werden kann. Das liegt aber an den tatsächlichen Gegebenheiten, nämlich daran, daß bei dem gelernten Schmied wegen seiner Beschäftigung über Tage keinerlei bergmännische oder andere Kenntnisse vorhanden sind, so daß infolge der Ausrichtung auf sein Fachgebiet keine qualitativ im wesentlichen gleichwertigen Tätigkeiten gefunden werden können. Dieses Ergebnis rechtfertigt es aber nicht, den Begriff der gleichwertigen Kenntnisse und Fähigkeiten für Bergleute und Handwerker unterschiedlich auszulegen. Auch der Hauer als der typische Bergmann erhält die Bergmannsrente in der Regel dann, wenn er nur noch Tätigkeiten verrichten kann, bei denen seine speziellen Kenntnisse nicht verwertbar sind. Es ist zwar richtig, daß der Hauer auf eine Reihe von Tätigkeiten der Lohngruppe I unter Tage verwiesen werden kann und deshalb eine geringfügige Lohneinbuße in Kauf nehmen muß, ohne Anspruch auf die Bergmannsrente zu haben. Das hat seine Ursache aber in der umfassenden bergmännischen Ausbildung, die ihn befähigt, auch andere Tätigkeiten wesentlich gleicher bergmännischer Qualifikation auszuüben. Diese Möglichkeit besteht für den Kläger als gelernten Handwerker über Tage nicht. Er steht im Ergebnis dem Hauer gleich, der keine Untertagearbeiten mehr verrichten kann. Diese im tatsächlichen begründete Unterschiedlichkeit kann nicht dadurch ausgeglichen werden, daß man bei den über Tage beschäftigten Handwerkern das Tatbestandsmerkmal der "gleichwertigen Kenntnisse und Fähigkeiten" schon als erfüllt ansieht, wenn sie noch einfache Arbeiten mit gehobener Verantwortung verrichten können. Wollte man dies tun, so wäre für diese Gruppe von Handwerkern der Versicherungsfall der verminderten bergmännischen Berufsfähigkeit identisch mit dem der Berufsunfähigkeit, denn die Unfähigkeit zur Verrichtung von Tätigkeiten, die sich von den einfachen Hilfsarbeitertätigkeiten durch besondere Anforderungen an Verantwortungsbewußtsein, Gewissenhaftigkeit, geistige Beweglichkeit, Geschicklichkeit usw. hervorheben, begründet gleichzeitig die Berufsunfähigkeit (vgl. SozR Nr. 26 zu § 1246 RVO). Damit wäre aber der nach dem gesetzlichen Aufbau erforderliche Abstand zwischen Bergmannsrente und Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit nicht mehr gegeben. Das LSG hat daher mit Recht verminderte bergmännische Berufsfähigkeit angenommen.
Die danach unbegründete Revision der Beklagten muß zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen