Leitsatz (amtlich)
Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung an die Hinterbliebenen eines Versicherten nach RVO § 589 Abs 1 sind auch dann zu gewähren, wenn eine Berufskrankheit, die den Tod des Versicherten verursacht hat, bei Lebzeiten des Versicherten eine Minderung seiner Erwerbsfähigkeit nur deshalb nicht herbeiführen konnte, weil er aus anderen Gründen bereits dauernd völlig erwerbsunfähig war.
Normenkette
RVO § 589 Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1963-04-30, Nr. 4 Fassung: 1963-04-30, § 551 Abs. 3 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 21. März 1968 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Streitig ist, ob der Klägerin Witwenrente und Überbrückungshilfe aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren ist, obwohl die Berufskrankheit (Siliko-Tuberkulose), die den am 31. Mai 1966 eingetretenen Tod des Ehemanns der Klägerin (Versicherter) verursacht hat, eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) des Versicherten nur deshalb nicht herbeiführen konnte, weil dieser aus anderen Gründen bereits dauernd völlig erwerbsunfähig war.
Die Beklagte und das Sozialgericht (SG) Aachen haben die geltend gemachten Ansprüche abgelehnt.
Auf die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen mit Urteil vom 21. März 1968 das Urteil des SG aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin Hinterbliebenenrente und Überbrückungshilfe nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. Das LSG hat es dahingestellt sein lassen, ob der Versicherte schon im Zeitpunkt des Beginns der Berufskrankheit völlig erwerbsunfähig gewesen ist, weil nach seiner Rechtsauffassung der Klägerin auch dann eine Hinterbliebenenrente zusteht, wenn das der Fall gewesen sein sollte. Voraussetzung für die genannten Leistungen sei nach dem Wortlaut des § 589 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) allein, daß der Tod durch die Berufskrankheit verursacht worden sei, und diese Voraussetzung sei erfüllt. Es sei zwar richtig, daß eine Verletztenrente nicht gewährt werden könne, wenn der Versicherte bei Beginn der Berufskrankheit oder der MdE bereits dauernd völlig erwerbsunfähig gewesen sei, weil in diesen Fällen durch die Berufskrankheit keine MdE mehr eintreten könne (§ 581 Abs. 1 RVO). Das gelte aber nicht für eine Hinterbliebenenrente, die von anderen Voraussetzungen abhängig sei. Gegen das Urteil hat das LSG die Revision zugelassen.
Die Beklagte trägt zur Begründung der von ihr eingelegten Revision vor, nach § 561 RVO aF in der bis zum 30. Juni 1963 in Kraft gewesenen Fassung habe einem Verletzten, der schon zur Zeit des Beginns der Berufskrankheit dauernd völlig erwerbsunfähig gewesen sei, nur Krankenbehandlung gewährt werden können. Diese Leistungseinschränkung sei durch die Rechtsprechung auch auf die Rentenansprüche Hinterbliebener ausgedehnt worden. Wenn auch mit dem Inkrafttreten des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes (UVNG) der § 561 RVO aF ersatzlos gestrichen worden sei, so sei doch dadurch hinsichtlich der Verletztenrente keine Änderung des früheren Rechtszustandes eingetreten. Es könne deshalb nicht überzeugen, daß die frühere Rechtsprechung nicht mehr für Hinterbliebenenrenten gelten solle.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die Entscheidung des LSG für richtig.
II
Die zulässige Revision der Beklagten ist nicht begründet.
Nach § 589 Abs. 1 Nr. 3 und 4 RVO sind bei einem Tod durch Arbeitsunfall Hinterbliebenenrente und Überbrückungshilfe zu gewähren. Diese Vorschrift ist für Berufskrankheiten entsprechend anzuwenden (§ 551 Abs. 3 RVO). Der Ehemann der Klägerin ist an den Folgen einer Berufskrankheit verstorben; die Voraussetzungen für die geltend gemachten Ansprüche sind also erfüllt, eine Einschränkung des Anspruchs beim Vorliegen dieser Voraussetzung ist nach Ansicht des Senats nach Wegfall des § 561 RVO aF nicht mehr gerechtfertigt.
Der erkennende Senat hat in seinem Urteil vom 17. Dezember 1969 - 5 RKnU 34/68 - (SozR Nr. 6 zu § 581 RVO) entschieden, daß ein Versicherter, der durch einen Unfall oder eine Berufskrankheit - an sich - erwerbsgemindert geworden wäre, keine Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung erhält, wenn er bei Eintritt einer auf dem Unfall oder der Berufskrankheit beruhenden MdE, die bei einigen Berufskrankheiten oft erst geraume Zeit nach dem Unfallereignis oder dem Beginn der Berufskrankheit einzutreten pflegt, durch ein unfallunabhängiges Leiden bereits dauernd voll erwerbsunfähig war. Nach § 581 Abs. 1 RVO kann nämlich Verletztenrente an einen Versicherten nur gezahlt werden, wenn durch den Arbeitsunfall oder die Berufskrankheit eine rentenberechtigende MdE verursacht worden ist. Daraus ergibt sich, daß dann, wenn in dem Zeitpunkt, in welchem durch den Arbeitsunfall oder die Berufskrankheit an sich eine rentenberechtigende MdE herbeigeführt werden würde, diese in Wirklichkeit überhaupt nicht mehr eintreten kann, weil der Versicherte aus anderen Gründen bereits völlig erwerbsunfähig ist. Das bedeutet, daß eine Rente nicht gewährt werden kann, weil die MdE nicht infolge des Arbeitsunfalls oder der Berufskrankheit, sondern allein infolge des anderen Ereignisses eingetreten ist. Die Entscheidung rechtfertigt sich also allein aus dem Wortlaut des § 581 Abs. 1 RVO und den in dieser Vorschrift enthaltenen besonderen Voraussetzungen für eine Verletztenrente. Irgendwelche Rückschlüsse für die Gewährung einer Hinterbliebenenrente, für die das Gesetz andere Voraussetzungen fordert, können aus dieser Entscheidung dagegen nicht gezogen werden.
Das Reichsversicherungsamt (RVA) hat zwar die Ansicht vertreten (vgl. EuM 36, 42 ff, besonders die in der Anmerkung in EuM 36, 43 abgedruckte Entscheidung vom 22. März 1902), daß dann, wenn ein Verletzter zur Zeit des Unfalles bereits dauernd völlig erwerbsunfähig gewesen ist, seinen Hinterbliebenen ein Anspruch auf Rente nicht zusteht. Das folge aus einer analogen Anwendung des an sich allerdings nur die Ansprüche des Verletzten regelnden § 8 Abs. 4 des Unfallversicherungsgesetzes für Land- und Forstwirtschaft vom 30. Juni 1900 - LUVG - (RGBl S. 641 ff) in Verbindung mit dem allgemeinen Grundsatz des § 7 LUVG, nach welchem nur der Ersatz des durch die Körperverletzung oder Tötung entstandenen Schadens den Gegenstand der Versicherung bilde. Wenn die Erwerbsfähigkeit des Verletzten durch den Unfall nicht mehr herabgesetzt werden könne, weil sie schon vorher völlig erloschen war, so gebühre den Hinterbliebenen als solchen ein durch Rentenzahlung zu leistender Schadensersatz für eingebüßte Erwerbsfähigkeit des Verletzten ebensowenig wie diesem selbst.
Unter Bezugnahme auf diese Rechtsprechung des RVA ist auch der 2. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) in einer Entscheidung vom 30. März 1962 (SozR Nr. 1 zu § 561 RVO aF) auf Grund des bis zum 30. Juni 1963 in Kraft gewesenen § 561 RVO aF zu dem Ergebnis gekommen, daß auch ein Witwenrentenanspruch nach § 561 RVO aF ausgeschlossen sei, wenn ein Versicherter schon zur Zeit des Unfalles dauernd erwerbsunfähig war. Der Gesetzgeber habe in § 561 RVO aF einen Rentenanspruch des Verletzten deshalb ausgeschlossen, weil die durch einen Unfall verursachten körperlichen Schädigungen keine einen Schadensersatzanspruch begründenden Auswirkungen haben, wenn der Verletzte vor dem Unfall bereits dauernd völlig erwerbsunfähig, d. h. nicht mehr in der Lage gewesen sei, durch eine Betätigung im Erwerbsleben einen nennenswerten Verdienst zu erzielen. In einem solchen Falle bewirke auch der durch den Tod verursachte völlige Wegfall der vor dem Unfall noch vorhanden gewesenen, wirtschaftlich jedoch bedeutungslosen Betätigungsmöglichkeiten des Verletzten keinen Rentenanspruch der Hinterbliebenen.
Nachdem § 561 RVO aF außer Kraft getreten ist, besteht keine Möglichkeit mehr, über die sich aus dem § 589 Abs. 1 Nr. 3 RVO ergebenden Anspruchsvoraussetzungen hinaus die Gewährung einer Hinterbliebenenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung von weiteren sich aus dem Gesetz nicht ergebenden Voraussetzungen abhängig zu machen. Wenn auch der Grund der Hinterbliebenenrente der ist, den durch den Tod des Ernährers bestehenden materiellen Schaden, d. h. den direkt oder indirekt (Verletztenrente) auf Erwerbstätigkeit beruhenden Unterhalt zu ersetzen, so hat doch der Gesetzgeber diesen Grund nicht zur Anspruchsvoraussetzung für Leistungen an die Hinterbliebenen gemacht. Es ist, solange keine Sonderregelungen, wie etwa die des § 8 Abs. 4 in Verbindung mit § 7 LUVG oder des § 561 RVO aF etwas anderes verlangt haben, bei den sogenannten unbedingten Witwenrenten der gesetzlichen Unfallversicherung, ebenso wie übrigens auch bei den sogenannten unbedingten Witwenrenten der Rentenversicherung, auch sonst nicht zweifelhaft, daß diese unabhängig davon zu gewähren sind, ob der Versicherte seine Ehefrau tatsächlich unterhalten hat oder hierzu auch nur in der Lage war.
Es darf darüberhinaus nicht verkannt werden, daß eine andere Entscheidung der Interessenlage etwas anders gelagerter Fälle, die jedoch im Grundsatz gleich beurteilt werden müssen, nicht gerecht werden würde. Der erkennende Senat hat in seiner oben angegebenen Entscheidung vom 17. Dezember 1969 u. a. darauf hingewiesen, daß die vor Beginn der Berufskrankheit eingetretene völlige Erwerbsunfähigkeit eines Verletzten in Einzelfällen durch einen Verkehrsunfall oder ein sonstiges Ereignis eingetreten sein kann, für das er bereits durch eine lebenslängliche Rente voll entschädigt wird und daß es in diesen Fällen nicht gerechtfertigt wäre, dem Verletzten noch eine zweite Rente zu zahlen.
Bei Hinterbliebenenrenten liegen die Verhältnisse jedoch anders. Hinterbliebene können nach dem Tod des Versicherten auf Grund eines Verkehrsunfalls oder sonstiger zu einer Entschädigung führender Ereignisse in Fällen dieser Art keine Rente erhalten, weil diese Ereignisse den Tod des Versicherten nicht verursacht haben. Würden sie nun auch keine Hinterbliebenenrente auf Grund der Berufskrankheit, die den Tod des Versicherten verursacht hat, erhalten, so stünde ihnen weder aus dem einen noch aus dem anderen Grunde eine Hinterbliebenenrente zu. Es ist einleuchtend, daß ein solches Ergebnis der bestehenden Interessenlage widersprechen würde.
Dem Urteil des LSG war daher zuzustimmen, so daß die Revision der Beklagten zurückgewiesen werden mußte.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen