Leitsatz (amtlich)
Die Vermutung in RVO § 589 Abs 2 S 1 ist auch dann anzuwenden, wenn der Versicherte zu seinen Lebzeiten vor Eintritt der unter diese Vorschrift fallenden Berufskrankheit aus anderen Gründen dauernd völlig erwerbsunfähig war, die Berufskrankheit für sich allein aber eine MdE um 50 oder mehr vH ohne die unabhängigen Leiden hervorgerufen haben würde (Anschluß an und Fortführung von BSG 1970-11-12 5 RKnU 23/68 = BSGE 32, 58 = SozR Nr 8 zu RVO § 589).
Normenkette
RVO § 589 Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1963-04-30, Abs. 2 S. 1 Fassung: 1963-04-30
Verfahrensgang
Tatbestand
Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob der Klägerin aus der Versicherung ihres am 7. November 1975 verstorbenen Ehemannes Heinrich P Witwenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung zusteht.
Zu Lebzeiten des Versicherten erkannte die Beklagte mit Bescheid vom 10. Januar 1975 an, daß dieser an einer Quarzstaublungenerkrankung in Verbindung mit aktiver Lungentuberkulose als Berufskrankheit leide. Die Beklagte zahlte dem Ehemann der Klägerin jedoch keine Rente, weil er bei Beginn der Berufskrankheit durch davon unabhängige Leiden bereits völlig erwerbsunfähig gewesen ist. Nach dem Tode des Versicherten lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 6. September 1976 es ab, der Klägerin Witwenrente zu zahlen, da der Tod weder wesentlich durch die Berufskrankheit mitverursacht noch beschleunigt worden sei.
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, Hinterbliebenenleistungen zu gewähren (Urteil vom 12. Dezember 1977). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 9. Januar 1979). Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Berufskrankheit und dem Tod des Versicherten sei nicht wahrscheinlich, so daß eine Rentengewährung gemäß § 589 Abs 1 Nr 3 Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht möglich sei. Da ernsthafte Zweifel am Fehlen jeglicher Zusammenhangsbeziehungen zwischen Berufskrankheit und Tod des Versicherten nicht hätten ausgeräumt werden können, habe die Klägerin jedoch Anspruch auf Witwenrente nach § 589 Abs 2 S 1 RVO. Für die Anwendung dieser Vorschrift stehe die Schwere der Berufskrankheit im Vordergrund und es sei nicht entscheidend, ob und inwieweit beim Versicherten noch eine Erwerbsfähigkeit vorhanden gewesen sei, die durch die Berufskrankheit tatsächlich habe gemindert werden können. Die Schwere der Berufskrankheit hätte beim Ehemann der Klägerin zur Zeit des Todes einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 100 vH entsprochen, wenn er nicht infolge anderer Gesundheitsstörungen schon vorher erwerbsunfähig gewesen wäre.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte die unrichtige Anwendung des § 589 Abs 2 S 1 RVO. Da der Ehemann der Klägerin zur Zeit des Todes unfallunabhängig dauernd erwerbsunfähig gewesen sei, sei es schon begrifflich unmöglich, hier von einer durch die Folgen der Berufskrankheit bedingten MdE um 50 oder mehr vH auszugehen, wie es die genannte Vorschrift erfordere. Die Argumentation des Berufungsgerichts mit der Schwere der Berufskrankheit treffe zwar die generellen Motive des Gesetzgebers bei der Schaffung des § 589 Abs 2 RVO, hier befinde sich das LSG aber nicht in Einklang mit dem Wortlaut und dem objektivierbaren Inhalt der Vorschrift. Wegen ihres Ausnahmecharakters sei sie eng auszulegen. Das habe das Berufungsgericht übersehen. Auch unter den Voraussetzungen des § 589 Abs 1 RVO bestehe eine Entschädigungspflicht der Beklagten nicht.
Die Beklagte beantragt sinngemäß,
die Urteile des LSG und des SG aufzuheben
und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung des Rechtsstreits ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Beklagten ist nicht begründet. Der Klägerin steht die ihr von den Vorinstanzen zugesprochene Witwenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu (§ 589 Abs 1 Nr 3, Abs 2 RVO).
§ 589 Abs 2 RVO ist auch im Falle der Klägerin anzuwenden. Danach wird vermutet, daß der Tod eines Versicherten, der an einer der in dieser Vorschrift genannten Berufskrankheiten mit einer MdE um 50 vH oder mehr gelitten hat, durch diese Berufskrankheit verursacht worden ist. Zur Zeit seines Todes bestand beim Ehemann der Klägerin als Berufskrankheit eine Quarzstaublungenerkrankung in Verbindung mit aktiver Lungentuberkulose (Siliko-Tuberkulose) iS der damals geltenden Nr 35 der Anlage zur Siebten Berufskrankheiten-Verordnung (BKVO) vom 20. Juni 1968 (jetzt Nr 4102 der Anlage 1 zur BKVO idF der VO vom 8. Dezember 1976 - BGBl I S 3329 -). Rente hat er jedoch zu Lebzeiten wegen der Folgen dieser Berufskrankheit nicht bezogen, weil er bei ihrem Beginn und unabhängig davon wegen anderer Leiden bereits völlig erwerbsunfähig war. Das entspricht der ständigen Rechtsprechung des Senats (BSGE 30, 224 f = SozR Nr 6 zu § 581 RVO; BSGE 35, 232 f = SozR Nr 14 aaO; SozR Nrn 15 und 17 aaO; vgl auch SozR Nr 13 aaO und BSGE 43, 208, 209 f = SozR 2200 § 581 Nr 10). Ist der Versicherte bereits dauernd völlig erwerbsunfähig, so ist die MdE nicht infolge des Unfalles oder der Berufskrankheit, sondern allein infolge dem unfallunabhängigen Krankheit eingetreten. Allerdings läßt sich dieser Grundsatz nicht auf die Erhöhung der beim Eintreten völliger Erwerbsunfähigkeit bereits laufenden Unfallrenten ausdehnen (SozR Nrn 17 und BSGE 43 aaO). Auch steht es dem Anspruch auf Hinterbliebenenrente nicht entgegen, daß der Versicherte zu Lebzeiten völlig aus unfallunabhängigen Gründen erwerbsunfähig war und deshalb keine Unfallrente bezogen hat, wenn eine Berufskrankheit für den Tod wesentlich ursächlich war (BSGE 32, 58, 59 f = SozR Nr 8 zu § 589 RVO und BSGE 43 aaO).
Die Beklagte ist nun der Ansicht, § 589 Abs 2 RVO sei schon seinem Wortlaut nach im Falle der Klägerin nicht anzuwenden, weil ihr Ehemann beim Eintritt gesundheitlicher Schäden infolge der Berufskrankheit bereits völlig erwerbsunfähig gewesen sei, so daß es schon begrifflich unmöglich sei, hier von einer MdE auszugehen. Allein vom Wortlaut her betrachtet ist diese Argumentation denkbar. Wenn bei unfall-unabhängiger Erwerbsunfähigkeit es verneint wird, daß iS des § 581 Abs 1 Nr 2 RVO die "Erwerbsfähigkeit des Verletzten gemindert ist", dann ist die Frage zu stellen, ob nach dem Tode des Versicherten unter den gleichen Voraussetzungen iS des § 589 Abs 2 RVO "die Erwerbsfähigkeit durch die Folgen einer Berufskrankheit gemindert war". Trotz dieser Übereinstimmung im Wortlaut beider Vorschriften zwingen jedoch deren Sinn und Zweck sowie der darin zum Ausdruck gekommene gesetzgeberische Plan - insbesondere die unterschiedliche Funktion, die die MdE jeweils zu erfüllen hat - nicht dazu, den Begriff der MdE in beiden Vorschriften formal gleich anzuwenden.
Der Senat hat bereits in seinem Urteil vom 12. November 1970 (BSGE 32, 59) ausgeführt, die Entscheidung zu § 581 Abs 1 RVO über die Nichtgewährung der Unfallrente wegen anderweitiger völliger Erwerbsunfähigkeit rechtfertige sich allein aus dem Wortlaut und den in dieser Vorschrift enthaltenen besonderen Voraussetzungen für eine Verletztenrente. Irgendwelche Rückschlüsse für die Gewährung einer Hinterbliebenenrente könnten daraus nicht gezogen werden. Der 7. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) (SozR Nr 10 zu § 589 RVO) hat sich dieser Auffassung angeschlossen. Hinterbliebenenleistungen seien ihrem Wesen nach nicht eine Fortsetzung der Leistungen an Verletzte, sondern eigenständige Leistungen; die wegen einer MdE gewährte Verletztenrente habe Lohnersatzfunktion, die Hinterbliebenenrente dagegen Unterhaltsersatzfunktion.
§ 589 Abs 2 RVO knüpft nicht primär an die MdE an, die in § 581 Abs 1 RVO neben dem Arbeitsunfall eine der Grundvoraussetzungen für die Rentengewährung ist. Für die Hinterbliebenenrenten tritt dagegen der Tod des Versicherten an die Stelle der MdE in § 581 Abs 1 RVO. Ebenso wie dort ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Unfall und MdE gefordert wird, ist nach § 589 Abs 1 RVO die Hinterbliebenenrente grundsätzlich nur zu gewähren, wenn der Arbeitsunfall kausal für das Todesgeschehen gewesen ist. Abs 2 des § 589 RVO hat nun die Aufgabe, mit Hilfe einer Vermutung den Nachweis des ursächlichen Zusammenhangs zwischen bestimmten Berufskrankheiten und dem Tod des Versicherten - auch aus Gründen der Pietät (BSGE 24, 88, 90 = SozR Nr 1 zu § 589 RVO) - zu erleichtern. Der Gesetzgeber hat diese Vermutung aufgestellt, weil erfahrungsgemäß die dort genannten Berufskrankheiten, wenn ihre Folgen eine MdE um 50 oder mehr vH bedingen, in aller Regel zumindest eine rechtlich wesentliche Ursache für den Tod bilden (so der Senat in SozR Nr 11 zu § 589 RVO). Wenn somit nach dem Zweck der Vorschrift bei einer Quarzstaublungenerkrankung mit einer MdE um mindestens 50 vH, die den Tod des Versicherten unmittelbar oder mittelbar rechtlich wesentlich verursacht haben könnte, grundsätzlich Hinterbliebenenrente gewährt werden soll (Urteil des Senats in BSGE 28, 38, 41 = SozR Nr 4 zu § 589 RVO), so kann - ebenso wie im Falle nachgewiesener Kausalität bei § 589 Abs 1 RVO (vgl BSGE 32, 58) - die Gewährung der Hinterbliebenenrente nicht von dem Rentenanspruch des Versicherten zu Lebzeiten abhängen bzw von der dafür notwendigen MdE. Anderenfalls wäre die vom Gesetzgeber in § 589 Abs 2 RVO für den Hinterbliebenenrentenanspruch gewollte Gleichstellung einer fiktiv unterstellten Kausalität zwischen den dort genannten Berufskrankheiten und dem Tod des Versicherten mit den Fällen der nachgewiesenen Kausalität in Abs 1 der Vorschrift nicht zu erreichen.
In § 589 Abs 2 RVO erfüllt die MdE in der Konzeption des Gesetzgebers eine von § 581 Abs 1 RVO grundverschiedene Funktion. In der zuletzt genannten Bestimmung ist sie - neben dem Jahresarbeitsverdienst - Maßstab des (abstrakt) auszugleichenden Schadens. Dagegen hat die MdE in § 589 Abs 2 RVO lediglich die Bedeutung, schwere Folgen der dort genannten Berufskrankheiten von den leichteren abzugrenzen, weil nur bei wirklich schwerwiegenden Erkrankungen die - gesetzliche - Vermutung eingreifen soll. Die Frage, ob eine Quarzstaublungenerkrankung ursächlich für den Tod des Versicherten war, hängt nicht unbedingt davon ab, ob er anderweitig völlig erwerbsunfähig war, sondern von der Schwere der Berufskrankheit. Das kann folgendes Beispiel verdeutlichen: Ein Versicherter, der langjährig im Bergbau unter Tage beschäftigt war, erblindet unabhängig von seiner Berufstätigkeit und wird dadurch völlig erwerbsunfähig. Nachdem er blind geworden ist, erkrankt er an einer Siliko-Tuberkulose. Er kann somit zu Lebzeiten keine Verletztenrente erhalten (BSGE 30, 224). Gleichwohl ist im Falle seines Todes die Wahrscheinlichkeit wesentlich größer, daß er an der Siliko-Tuberkulose verstorben ist als an dem Verlust der Sehkraft. Es ist kein einleuchtender Grund dafür vorhanden, daß nun den Hinterbliebenen dieses - erblindeten - Versicherten die Vermutung des § 589 Abs 2 RVO nicht zugute kommen soll, obwohl für die vom Gesetzgeber damit verfolgte Absicht die Blindheit und die dadurch hervorgerufene Erwerbsunfähigkeit von untergeordneter Bedeutung sind. Für die Kausalität zwischen Berufskrankheit und Tod ist folglich nicht generell die zu Lebzeiten bestehende - unfallunabhängige - Erwerbsunfähigkeit von Bedeutung, sondern die Schwere der Berufskrankheit, die zu erfassen, die MdE in § 589 Abs 2 RVO ermöglichen soll. Das zwingt dazu, in Fällen wie dem des Ehemannes der Klägerin die Folgen der Berufskrankheit isoliert zu betrachten und die MdE festzustellen, die diese Krankheit unabhängig von anderen Leiden für sich allein in der Regel hervorgerufen haben würde.
Nach den von der Revision nicht angegriffenen und für den Senat nach § 163 Sozialgerichtsgesetz (SGG) bindenden Feststellungen des LSG hätte die Berufskrankheit des Ehemannes der Klägerin - Quarzstaublungenerkrankung in Verbindung mit aktiver Lungentuberkulose - für sich allein zur Zeit seines Todes eine MdE um 100 vH bedingt. Ernsthafte Zweifel am Fehlen von Zusammenhangsbeziehungen zwischen der Berufskrankheit und dem Tod des Versicherten lassen sich nicht ausräumen, so daß das Fehlen des ursächlichen Zusammenhangs nicht offenkundig iS des § 589 Abs 2 RVO ist. Damit steht der Klägerin - wie vom Berufungsgericht zutreffend entschieden - die Witwenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu.
Die demnach unbegründete Revision der Beklagten mußte zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen