Leitsatz (amtlich)

1. Die in zweiseitigen Verträgen über soziale Sicherheit begründete Zuständigkeit eines Rentenversicherungsträgers als Vertrags-Verbindungsstelle berechtigt und verpflichtet ihn grundsätzlich nicht, den "multilateralen Effekt" mehrerer den Versicherten begünstigender zweiseitiger Abkommen zu prüfen und hierüber zu entscheiden. Eine Ausnahme gilt für die letztentscheidende Vertrags-Verbindungsstelle; sie darf hierüber entscheiden.

2. Haben alle Vertrags-Verbindungsstellen den Rentenantrag des Versicherten abgelehnt, so tritt zur Prüfung des multilateralen Effekts mehrerer den Versicherten begünstigender zweiseitiger Abkommen über soziale Sicherung die bundesgesetzliche Zuständigkeit des Wohnsitz-Versicherungsträgers nach RVO § 1630 Abs 2 S 1 wieder zutage.

3. Der nach RVO § 1630 Abs 2 S 1 zur Entscheidung berufene Rentenversicherungsträger - ausnahmsweise an seiner Stelle die letztentscheidende Verbindungsstelle (Nr 1) - hat den Anspruch des Versicherten nach allen zweiseitigen Abkommen zu prüfen, denen der Bundestag nach GG Art 59 Abs 2 S 1 zugestimmt hat ("Vertragsgesetze"; Anschluß an BSG 1972-03-08 11 RA 46/71 = BSGE 34, 90, BSG 1973-03-29 4 RJ 351/71 = SozR Nr 2 zu Abk USA Art IV und BSG 1977-07-14 4 RJ 53/76 = SozR 2200 § 1250 Nr 11).

 

Orientierungssatz

1. Mehrere einen Versicherten begünstigende Vertragsgesetze entziehen sich einer gleichzeitigen Anwendung, wenn sie sich gegenseitig ausschließen, wesentlich beeinträchtigen oder - entgegen Sinn und Zweck der deutschen Sozialgesetzgebung - zu unzulässiger Leistungshäufung führen.

2. Eine Zusammenrechnung von deutschen, österreichischen und türkischen Versicherungszeiten zum Zwecke der Erfüllung der Wartezeit begründen allein einen einzigen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nur aus den von ihm in der Bundesrepublik zurückgelegten deutschen Versicherungszeiten (Art 18 des Ersten deutsch-österreichischen Abkommens; Art 27 des deutsch-türkischen Abkommens).

3. Ein Rentenanspruch ist begründet, wenn die deutschen, die österreichischen und die türkischen Zeiten zusammengerechnet mehr als 60 Kalendermonate ergeben und unstreitig Erwerbsunfähigkeit vorliegt.

 

Normenkette

GG Art 20 Abs 3 Fassung: 1949-05-23; GG Art 59 Abs 2 S 1 Fassung: 1949-05-23; RVO § 1572 Abs 2 Fassung: 1953-09-03, § 1614 Fassung: 1953-09-03, § 1630 Abs 2 S 1 Fassung: 1924-12-15; SozSichAbk AUT Art 18 Fassung: 1974-03-29; SozSichAbk AUT Art 42 Abs 3 Fassung: 1974-03-29; SozSichAbk TUR Art 27 Fassung: 1964-04-30; RVO § 1247 Abs 3 Fassung: 1975-05-07

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 31.07.1979; Aktenzeichen L 1 J 14/79)

SG Köln (Entscheidung vom 19.01.1979; Aktenzeichen S 4 J 60/78)

 

Tatbestand

Streitig ist ein Anspruch des Klägers auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU).

Der am 29. November 1945 geborene Kläger, türkischer Staatsangehöriger, ist seit 1973 chronisch nierenkrank und auf künstliche Hämodialyse (Blutwäsche) angewiesen.

Am 4. Juni 1976 beantragte er bei der Landesversicherungsanstalt (LVA) Rheinprovinz - der für seinen Wohnort zuständigen Landesversicherungsanstalt - Versichertenrente wegen EU. Nachdem der Kläger neben deutschen auch österreichische und türkische Versicherungszeiten angegeben hatte, reichte die LVA Rheinprovinz den Rentenantrag zunächst an die LVA Oberbayern weiter.

Mit Bescheid vom 2. April 1977 lehnte die LVA den Antrag des Klägers ab und führte aus, zwar liege EU ab 1975 vor; mit 45 deutschen und 13 österreichischen Beitragsmonaten sei die Wartezeit für die deutsche Rente von 60 Kalendermonaten nicht erfüllt. Über eine eventuelle Leistung nach dem deutsch-türkischen Abkommen erhalte er von der - beklagten - LVA Oberfranken und Mittelfranken noch gesondert Bescheid. Sodann reichte die LVA Oberbayern die Akte an die Beklagte weiter.

Gegen den Bescheid der LVA Oberbayern legte der Kläger zunächst keinen Rechtsbehelf ein.

Mit Bescheid vom 16. Februar 1978 lehnte auch die Beklagte "als Verbindungsstelle nach dem deutsch-türkischen Sozialversicherungsabkommen" den Antrag des Klägers ab: Mit 43 deutschen und 2 türkischen Versicherungsmonaten sei die Wartezeit nicht erfüllt.

Gegen diesen letzteren Bescheid hat der Kläger Klage zum Sozialgericht (SG) erhoben und in der mündlichen Verhandlung vom 17. November 1978 beantragt, sowohl diesen Bescheid wie auch den Bescheid der LVA Oberbayern vom 2. April 1977 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm Rente wegen EU ab 1. Juni 1976 zu gewähren. Im Schriftsatz an das SG vom 11. Dezember 1978 hat die Beklagte ua ausgeführt, zu den bei ihr anrechenbaren 51 Monaten könnten die vom Kläger in Österreich zurückgelegten Versicherungszeiten von 13 Monaten nicht hinzugerechnet werden. Im Urteil vom 19. Januar 1979 hat das SG dem Begehren des Klägers entsprochen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten hiergegen in der angefochtenen Entscheidung vom 31. Juli 1979 zurückgewiesen. In der Begründung heißt es, beide - das deutsch-türkische und das deutsch-österreichische - Abkommen seien nach Erlaß der entsprechenden Zustimmungsgesetze geltendes Recht und vom zuständigen deutschen Träger anzuwenden; ihre Nichtberücksichtigung bedeute Nichterfüllung der Abkommensverpflichtungen. Keines der beiden Abkommen gebiete es, die vorgeschriebene Zusammenrechnung der beiderseitigen Versicherungszeiten zur Erfüllung der Wartezeit auf den jeweiligen Vertragsstaat zu beschränken.

Das LSG hat die Revision gegen dieses Urteil zugelassen.

Die Beklagte hat die Revision eingelegt. Sie führt aus, der von den Vorinstanzen aufgehobene Bescheid der LVA Oberbayern vom 2. April 1977 sei, da der Kläger keine Klage eingelegt habe, längst rechtsverbindlich. Im übrigen sei der von der Aufhebung dieses Bescheides betroffenen LVA Oberbayern kein rechtliches Gehör gewährt worden. Das deutsch-türkische Abkommen schließe die Berücksichtigung von Zeiten nach einem dritten Vertrag ausdrücklich aus. Das Bundessozialgericht (BSG) habe in seinem Urteil vom 14. Juli 1977 übersehen, daß eine Verknüpfung verschiedener zweiseitiger Abkommen bzw die Sicherstellung von Ansprüchen durch eine mehrseitige Zusammenrechnung von Versicherungszeiten nur durch den Abschluß mehrseitiger Übereinkommen erreicht werden könne (zu vgl das vierseitige Abkommen Deutschland-Schweiz-Österreich-Liechtenstein). Die vom Kläger zurückgelegten österreichischen Versicherungszeiten hätten daher außer Betracht zu bleiben.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts für das Land

Nordrhein-Westfalen vom 31. Juli 1979 und das

Urteil des Sozialgerichts Köln vom 19. Januar 1979

aufzuheben sowie die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er verweist auf die einschlägige Rechtsprechung des BSG und hält das angefochtene Urteil für richtig.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist teils unzulässig und im übrigen nur zum Teil begründet.

Soweit die Beklagte beantragt, die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben, als diese ihrerseits den Rente versagenden Bescheid der LVA Oberbayern vom 2. April 1977 aufgehoben haben, ist das Rechtsmittel unzulässig: Es ist nicht ersichtlich, wie weit die Beklagte dadurch rechtlich betroffen sein könnte, daß der einem Versicherten durch einen dritten Versicherungsträger - die LVA Oberbayern - über eine Rentenablehnung erteilte Bescheid von der Vorinstanz aufgehoben worden ist. Unmittelbar rechtlich betroffen sein kann durch die Aufhebung dieses Bescheides allein die letztgenannte LVA: Der Rentenantrag des Klägers ihr gegenüber ist nun wieder unverbeschieden und - jedenfalls wenn der Kläger darauf anträgt - nochmals zu prüfen und nochmals zu verbescheiden. Daß die Aufhebung dieses Bescheides der LVA Oberbayern durch die Vorinstanzen möglicherweise schon verfahrensfehlerhaft, weil ohne jede Beteiligung dieser LVA am sozialgerichtlichen Verfahren geschehen ist, vermag der Senat nicht näher zu prüfen; denn das Revisionsgericht kann selbst schwere, grundsätzlich von Amts wegen zu prüfende Verfahrensverstöße der Tatsachengerichte nur im Rahmen eines bei ihm überhaupt zulässigerweise eingelegten Rechtsmittels prüfen.

Die Revision der Beklagten ist daher als unzulässig zu verwerfen, soweit sie sich gegen die von den Vorinstanzen verfügte Aufhebung des Bescheids der LVA Oberbayern vom 2. April 1977 wendet.

Soweit die Beklagte ihre Revision gegen ihre Verurteilung zur Leistung richtet, dringt sie mit dem Rechtsmittel nur zum kleineren Teil durch.

Bei der Prüfung der Revision der Beklagten insoweit sind zunächst verwaltungsverfahrensrechtliche Besonderheiten herauszustellen und festzuhalten, die den vorliegenden Fall - und alle anderen Fälle, in denen der Versicherte Anspruch auf deutsche Versichertenrente aufgrund mehrerer zweiseitiger Abkommen mit anderen Staaten begehrt - unverwechselbar kennzeichnen:

Der damals in Köln wohnende Kläger hat am 4. Juni 1976 ursprünglich bei der LVA Rheinprovinz Versichertenrente beantragt. Zur Entscheidung hierüber war diese LVA nach §§ 1630 Abs 2 Satz 1, 1614, 1572 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) in der vor dem 1. Juli 1977 geltenden Fassung als Wohnort-LVA des Antragstellers zuständig. Wenn die LVA Rheinprovinz am 1. August 1976 den Rentenantrag - zunächst - an die LVA Oberbayern abgegeben hat, so trug sie damit der Sonderzuständigkeit dieser LVA nach Art 42 Abs 3 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich über soziale Sicherheit vom 22. Dezember 1966 idF des Ersten und Zweiten Zusatzabkommens vom 10. April 1969 und 29. März 1974 Rechnung, denen der Deutsche Bundestag durch Gesetz zugestimmt hat (vgl BGBl II 1978, 253). Nach Art 42 Abs 3 aaO wird "zur Erleichterung der Durchführung dieses Abkommens" in der Bundesrepublik Deutschland "für die Rentenversicherung der Arbeiter die LVA Oberbayern, München, als Verbindungsstelle" eingerichtet. Diese gegenüber der gesetzlichen Grundzuständigkeit der LVA Rheinprovinz nach § 1630 Abs 2 Satz 1 RVO engere Abkommens-Zuständigkeit beschränkt sich - naturgemäß - auf die Durchführung des genannten bilateralen deutsch-österreichischen Vertrags über soziale Sicherheit. Dementsprechend hat die LVA Oberbayern in ihrem Bescheid vom 2. April 1977 den Rentenantrag des Klägers nicht generell - und nicht gleichsam stellvertretend für alle sonst noch in Frage kommenden anderen deutschen Träger der gesetzlichen Rentenversicherung der Arbeiter - abgelehnt, sondern ausdrücklich allein in bezug auf die und unter Anwendung der zweiseitigen Bestimmungen der deutsch-österreichischen Abkommen. Um dies vollends deutlich zu machen, hat die LVA den Kläger in ihrem Bescheid vom 2. April 1977 ausdrücklich insbesondere darüber belehrt, daß er "die begehrte Leistung aus der deutschen Rentenversicherung ... eventuell nach dem deutsch-türkischen Abkommen" doch noch erhalten könne und er von der hierzu zuständigen Beklagten "noch gesondert Bescheid" erhalten werde. Daß die LVA Oberbayern in ihrem Bescheid Rente aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung ausdrücklich nicht generell, sondern nur unter dem partiellen rechtlichen Aspekt des deutsch-österreichischen Abkommens und nur als zur Durchführung dieses Abkommens zuständiger Träger versagt hat, wird im übrigen den Kläger mutmaßlich veranlaßt haben, den Bescheid dieser LVA zunächst gar nicht anzufechten.

Der gegenwärtig streitbefangene Bescheid der beklagten LVA Oberfranken und Mittelfranken vom 16. Februar 1978 ist zunächst und in erster Linie nicht anders wie der der LVA Oberbayern eine Rentenversagung allein unter einem, nämlich dem bilateralen Teilaspekt, wie er sich aus der "Vertrags-Zuständigkeit" der Beklagten gemäß Art 2 Abs 1 Nr 3 Buchst b der Zusatzvereinbarung zur Durchführung und Ergänzung des Abkommens vom 30. April 1964 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Türkei über soziale Sicherheit ergibt, dem der Deutsche Bundestag gleichfalls zugestimmt hat (BGBl II 1965, 1169). Diese Beschränkung auf den bilateralen Teilaspekt ohne generelle Ablehnung des deutschen Rentenanspruchs des Klägers ist zwar im streitigen Bescheid der Beklagten nicht ganz so deutlich wie im Bescheid der LVA Oberbayern vom 2. April 1977; er ist gleichwohl unübersehbar: Die Beklagte hat den Bescheid ausdrücklich "als Verbindungsstelle nach dem deutsch-türkischen Abkommen" erlassen, ausdrücklich auf Art 27 des deutsch-türkischen Vertrags vom 30. April 1964 Bezug genommen und ausdrücklich auch nur deutsche und türkische Versicherungszeiten, nicht aber die ihr ebenfalls bekannten von der LVA Oberbayern bereits festgestellten österreichischen Versicherungszeiten bei der Erfüllung der Wartezeit für eine deutsche Rente geprüft und zusammengerechnet. Daß aber die Beklagte, nicht anders wie die LVA Oberbayern, als zuständige Verbindungsstelle "ihres" zweiseitigen Sozialversicherungsabkommens dem Kläger keine Versichertenrente zu gewähren hatte, bedarf keiner näheren Begründung: Der Kläger hat nach Zusammenrechnung seiner 43 deutschen mit den 2 türkischen Versicherungsmonaten die Wartezeit für eine Rente wegen EU von mindestens 60 Kalendermonaten nach § 1247 Abs 3 RVO nicht erfüllt. Die Klage gegen den partiell das deutsch-türkische Abkommen anwendenden Bescheid der Beklagten vom 16. Februar 1978 ist daher offensichtlich unbegründet. Die Entscheidungen der Vorinstanzen, die diesen Bescheid als rechtswidrig aufgehoben haben, können daher keinen Bestand haben; zugleich war die Klage abzuweisen.

Einen weder von der LVA Oberbayern im Bescheid vom 2. April 1977, noch ursprünglich von der Beklagten im streitigen Bescheid vom 16. Februar 1978 behandelten, weil innerhalb der von diesen Versicherungsträgern jeweils allein angewendeten bilateralen Sozialversicherungsabkommen irrelevanten rechtlichen Aspekt des vom Kläger erhobenen Rentenanspruchs stellt die Frage dar, ob zur Erfüllung der Wartezeit nach § 1247 Abs 3 RVO die von dem Versicherten nach allen von mehreren auf ihn anwendbaren zweiseitigen Abkommen zurückgelegten Versicherungszeiten zusammenzurechnen sind. Die jeweilige bilaterale Vertrags-Zuständigkeit der beiden genannten Landesversicherungsanstalten, wie sie vorstehend ausgeführt worden ist, reichte freilich nicht aus, um diese "multilaterale" Rechtsfrage zu prüfen und zu entscheiden. Nach Erschöpfung der partiell-bilateralen Zuständigkeiten als Vertrags-Verbindungsstellen durch den das jeweilige bilaterale Verfahren abschließenden Verwaltungsakt tritt nunmehr die gesetzliche "Grundzuständigkeit" der Wohnsitz-LVA nach § 1630 Abs 2 Satz 1 RVO wieder zutage. Es kann nicht Rechtens sein, daß von zwei, drei oder etwa gar mehr Vertrags-Verbindungsstellen jede - womöglich gegensätzlich und bindend (§ 77 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) - die Kompetenz für sich in Anspruch nehmen könnte, über den "multilateralen Effekt" mehrerer auf ein und denselben Versicherten anzuwendenden zweiseitigen Abkommen zu entscheiden.

Indessen läßt sich nicht übersehen, daß die Beklagte im konkreten Fall nach "Erledigung" der Vertrags-Zuständigkeit der LVA Oberbayern als praktisch einzige in Betracht kommende Vertrags-Verbindungsstelle zurückgeblieben ist. Hat aber nur (noch) eine Verbindungsstelle zu entscheiden, so drängt der enge Zusammenhang der Entscheidung über ein und denselben deutschen Rentenanspruch auf Grund derselben deutschen Beiträge einerseits nach bilateralem Vertragsrecht wie andererseits nach übervertraglichen Gesichtspunkten und damit verbunden der Gesichtspunkt der Verfahrensökonomie dazu, eine umfassende Entscheidungszuständigkeit dieser Verbindungsstelle zuzulassen, zumal die Träger der Rentenversicherung der Arbeiter die Leistungen aus der Gewährung von Renten nach dem Verhältnis ihrer Beitragseinnahmen grundsätzlich ohnedies gemeinsam tragen (§ 1390 RVO). Festzuhalten bleibt allerdings, daß die Entscheidungskompetenz des letztentscheidenden Rentenversicherungsträgers nunmehr die nach § 1630 Abs 2 Satz 1 RVO, nicht die nach bilateralem Vertragsrecht ist.

Tatsächlich hat die Beklagte im Schriftsatz an das SG vom 11. Dezember 1978 unmißverständlich klargestellt, daß sie den Anspruch des Klägers auch unter Berücksichtigung des "multilateralen Effekts" mehrerer zweiseitiger Sozialabkommen abgelehnt wissen wollte. Dieser Ablehnung des Anspruchs unter diesem weiteren rechtlichen Gesichtspunkt stehen - nach dem soeben Dargelegten - keine ernsthaften verwaltungsverfahrensrechtlichen Hindernisse entgegen.

Jeder Träger der gesetzlichen Rentenversicherung der Arbeiter, der sich nicht kraft einer nur vertraglich-bilateral verengten Zuständigkeit auf eine partielle Prüfung des vom Versicherten erhobenen Rentenanspruchs beschränken darf und beschränkt hat, hat das Rentenbegehren auf Grund der ihm durch § 1630 Abs 2 Satz 1 RVO bundesrechtlich übertragenen Zuständigkeit nach dem Verfassungsgebot der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (Art 20 Abs 3 des Grundgesetzes -GG-) auf Grund aller in der Bundesrepublik geltenden Rechtsnormen zu prüfen und zu verbescheiden. Es kann keinen begründeten Zweifel geben, daß zum Bestand der in der Bundesrepublik geltenden Gesetze auch diejenigen bilateralen Sozialversicherungsabkommen zählen, denen der Deutsche Bundestag gemäß Art 59 Abs 2 Satz 1 GG "in der Form eines Bundesgesetzes" zugestimmt hat. Denn es ist ein Satz gemeindeutschen Verfassungsrechts, daß die Regierung zum Abschluß von Verträgen mit auswärtigen Staaten, die sich auf Gegenstände der Gesetzgebung des Bundes - hier des Sozialversicherungsrechts (Art 74 Nr 12 GG) - beziehen, der Zustimmung des Parlaments bedarf (BVerfGE 4, 276). Das Zustimmungsgesetz nach Art 59 Abs 2 Satz 1 aaO hat nach der herrschenden Meinung Transformationsfunktion, dh es überführt die Bestimmungen der zweiseitigen Verträge, die Rechte und Pflichten für Einzelpersonen begründen, in das materielle innerstaatliche Recht (BVerfGE 29, 348, 360; Maunz/Dürig/Herzog, Grundgesetz, Art 59 Rd Nr 22 und 25). Zustimmungsgesetze transformieren den Inhalt von völkerrechtlichen Verträgen insoweit in das innerstaatliche Recht, als sie ihn für die staatlichen Organe wie auch - falls sie sich auf die rechtlichen Verhältnisse einzelner Begünstigter und Verpflichteter beziehen - für diese Begünstigten und Verpflichteten verbindlich machen (Leibholz/Rinck, Grundgesetz, Art 59 Rd Nr 1). Solche Gesetze entfalten voll die verfassungsrechtlichen Wirkungen eines innerdeutschen Gesetzes, so, wenn sie voll der verfassungsgerichtlichen Nachprüfung sowohl im Normenkontrollverfahren wie im Verfahren über die Verfassungsbeschwerde unterliegen (BVerfGE 6, 294, 295).

Schon die Verfassungsordnung der Bundesrepublik schließt es hiernach aus, daß die Beklagte als öffentlicher Träger der Rentenversicherung, der sich nicht mit der bilateralen Kompetenz einer Vertrags-Verbindungsstelle begnügt, in bezug auf einen bestimmten Versicherten mehrere auf ihn anwendbare, in der Form des Zustimmungsgesetzes innerstaatlich wirksam gewordene völkerrechtliche Verträge nach freiem Belieben anwenden oder nicht anwenden könnte. Eine solche Beschränkung wäre willkürlich. Kein Rechtssatz der Bundesrepublik berechtigt den bundesgesetzlich zur Entscheidung berufenen Rentenversicherungsträger, das eine Vertragsgesetz anzuwenden und das andere Vertragsgesetz außer acht zu lassen. Art 20 Abs 3 GG und § 1630 Abs 2 Satz 1 RVO verpflichten ihn vielmehr, das Gesetzesrecht der Bundesrepublik lückenlos und nicht nur in beliebiger Auswahl zu prüfen. Deshalb ist es der Beklagten hinsichtlich der Prüfung des "multilateralen Effekts" mehrerer anwendbarer zweiseitiger Abkommen nicht gestattet, sich auf die Bilateralität "ihres" Abkommens zurückzuziehen. Sie begibt sich damit unzulässig auf die Argumentationsebene der "Verbindungsstelle" zurück; dort trifft ihre Argumentation zu; der Senat hat deshalb die Klage gegen ihren Bescheid vom 16. Februar 1978 insoweit abgewiesen.

Die Vertragsgesetze, zu denen auch das deutsch-österreichische und das deutsch-türkische Abkommen über soziale Sicherung zählen, begründen nach allem für die von ihnen begünstigten Personen gemäß den dort getroffenen Einzelbestimmungen Rechte und Pflichten, die jede öffentliche Gewalt in der Bundesrepublik zu beachten, zu wahren und durchzusetzen hat.

Der Beklagten kann freilich eingeräumt werden, daß sie die von ihr lückenlos zu prüfenden Vertragsgesetze im Einzelfall nicht alle notwendig anspruchsstützend anzuwenden haben wird. Das ist dann der Fall, wenn sich bestimmte Vertragsgesetze der gleichzeitigen Anwendung entziehen, weil sie sich gegenseitig ausschließen oder wesentlich beeinträchtigen oder weil sie entgegen dem Sinn und der Zielsetzung des deutschen Sozialversicherungsrechts zu unzulässigen Leistungshäufungen führen.

In der vorliegenden Sache ist dies nicht der Fall. Die vom Kläger verlangte Zusammenrechnung der deutschen, österreichischen und türkischen Zeiten zum Zwecke der Erfüllung der Wartezeit begründen allein einen einzigen Anspruch des Klägers auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nur aus den von ihm in der Bundesrepublik zurückgelegten deutschen Versicherungszeiten (Art 18 des Ersten deutsch-österreichischen Abkommens; Art 27 des deutsch-türkischen Abkommens).

Nach allem haben die Vorinstanzen zu Recht für die Erfüllung der deutschen Wartezeit des Klägers nach § 1247 Abs 3 RVO die deutschen, die österreichischen und die türkischen Zeiten zusammengerechnet, so daß mehr als 60 Kalendermonate zurückgelegt und, bei unstreitiger EU, der Rentenanspruch des Klägers begründet ist. Das angefochtene Urteil trifft zu, so daß die Revision der Beklagten, soweit sie die Aufhebung des Bescheides der Beklagten vom 16. Februar 1978 in bezug auf die multilaterale Anwendung mehrerer zweiseitiger Sozialversicherungsabkommen und ihre Verurteilung zu einer Leistung betrifft, als unbegründet zurückzuweisen war (im Ergebnis ebenso BSGE 34, 90 = SozR Nr 5 zu § 1263 RVO; BSG SozR Nr 2 zu Art IV Abkommen USA vom 29. Oktober 1954 und SozR 2200 § 1250 Nr 11; Bayer LSG - 5. Senat -, Entscheidung vom 3. Juni 1980 - L 5 Ar 513/78 -; Winkler SGb 73, 123; Lüdtke, BArBl 1974, 324, 326; Gobbers, SGb 1978, 470; ablehnend Bayer LSG - 14. und 6. Senat -, Entscheidungen vom 6. Dezember 1978 - L 14 Ar 161/76 - und vom 17. Juli 1979 - L 6 Ar 58/77 -; Hannemann, DAngVers 72, 277).

Die Beklagte hat dem im wesentlichen erfolgreichen Kläger die außergerichtlichen Kosten auch des Revisionsverfahrens zu erstatten (§ 193 SGG).

 

Fundstellen

BSGE, 5

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