Entscheidungsstichwort (Thema)

Uneingeschränkte Verurteilung zur Unfallentschädigung. Notwendigkeit einer zukünftigen Operation infolge des Unfalls zum Zeitpunkt der Berufungseinlegung. Zulässigkeit der Berufung

 

Leitsatz (amtlich)

Betrifft die Berufung Unfallentschädigungsansprüche, deren Dauer zum Zeitpunkt der Berufungseinlegung noch ungewiß ist, so betrifft sie nicht Rente für bereits abgelaufene Zeiträume und ist nicht durch § 145 Nr 2 SGG ausgeschlossen; auch eine nachträgliche Einschränkung des Klageantrages kann sie nicht ausschließen.

 

Orientierungssatz

1. Steht bei einer uneingeschränkten Verurteilung zur Unfallentschädigung zum Zeitpunkt der Berufungseinlegung angesichts einer notwendigen zweiten Operation bereits fest, daß der Unfall in Zukunft noch Heilbehandlungsansprüche des Verletzten gegen den Unfallversicherungsträger begründen könnte und ist die Dauer dieser Ansprüche und die mögliche Entstehung weiterer Ansprüche wegen des Operationsrisikos, zB auf Berufshilfe (§ 567 RVO) und fortdauernde Rente (§ 581 RVO), zu diesem Zeitpunkt noch objektiv unaufklärbar und damit ungewiß, dann liegt weder ein Berufungsausschließungsgrund nach § 144 Abs 1 Nr 2 RVO (Rente für einen beschränkten Zeitraum) noch nach § 145 Nr 2 SGG vor (Rente für einen abgelaufenen Zeitraum).

2. Die Zulässigkeit des Rechtsmittels richtet sich grundsätzlich nach den Verhältnissen, die vorlagen, als es eingelegt wurde (vgl BSG 19.1.1978 4 RJ 127/76 = SozR 1500 § 146 Nr 6).

 

Normenkette

SGG § 144 Abs 1 Nr 2, § 145 Nr 2, § 143

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 17.07.1985; Aktenzeichen L 4 U 64/84)

SG Lübeck (Entscheidung vom 08.05.1981; Aktenzeichen S 1 U 139/80)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Zulässigkeit der Berufung.

Der Kläger war Mitglied eines Turn- und Sportvereins und erlitt im Amt eines Trainers und Betreuers einer Jugendfußballmannschaft am 4. Dezember 1979 einen Außenknöchelbruch rechts. Der Bruch wurde während einer anschließenden stationären Behandlung operativ unter anderem mit einer Metallnagelung versorgt. Während einer erneuten stationären Behandlung im Januar 1982 wurde das Metall operativ entfernt.

Die beklagte Berufsgenossenschaft lehnte eine Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung ab, weil kein Versicherungsschutz bestanden habe (Bescheid vom 8. April 1980, Widerspruchsbescheid vom 10. Juli 1980). Dagegen hat das Sozialgericht (SG) Versicherungsschutz nach § 539 Abs 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) iVm § 539 Abs 1 Nr 1 RVO angenommen (Urteil vom 8. Mai 1981). Das Landessozialgericht (LSG) wiederum hat der Beklagten in der Sache Recht gegeben (Urteil vom 24. Februar 1982). Das Bundessozialgericht (BSG) hat dieses Urteil aufgehoben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen, weil noch erforderliche Tatsachenfeststellungen fehlten, bevor über die Frage des Versicherungsschutzes entschieden werden könne (Urteil des Senats vom 27. Juni 1984 in SozR 2200 § 539 Nr 101). Im fortgesetzten Berufungsverfahren hat die Beklagte ein von ihr eingeholtes chirurgisches Gutachten vom 22. Januar 1985 vorgelegt, nach dem der Kläger wegen des umstrittenen Unfalls nach Wegfall der Arbeitsunfähigkeit nur noch von März 1980 bis Ende August 1980 um 20 vH in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert gewesen sei; danach habe der Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) weniger als 20 vH betragen. Der Kläger hat daraufhin erklärt, er beschränke seinen geltend gemachten Anspruch auf die gutachterlich festgestellte MdE rentenberechtigenden Grades. Das LSG hat nunmehr die Berufung der Beklagten als unzulässig verworfen: Die Berufung habe entsprechend dem chirurgischen Gutachten vom 22. Januar 1985 bei ihrer Einlegung am 11. Juni 1981 nur Rente für einen abgelaufenen Zeitraum betroffen und sei deshalb nach § 145 Nr 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ausgeschlossen (Urteil vom 17. Juli 1985).

Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 145 Nr 2 SGG.

Die Beklagte beantragt, den Rechtsstreit unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist in dem Sinne begründet, daß das angefochtene Urteil des LSG aufzuheben und der Rechtsstreit wiederum an das LSG zurückzuverweisen war. Das LSG hat unter Berücksichtigung der Gründe des ersten Urteils des Senats in dieser Sache vom 27. Juni 1984 (9b RU 26/82) über die Berufung sachlich zu entscheiden.

Die Berufung der Beklagten war nach § 143 SGG zulässig. Das folgt aus dem Teil des entscheidungserheblichen Sachverhalts, den das LSG in seiner zweiten Entscheidung unberücksichtigt gelassen hat: Das LSG hat die zum Zeitpunkt der Berufungseinlegung noch bevorstehende zweite Operation nicht berücksichtigt.

Das SG hatte die Beklagte uneingeschränkt verurteilt: "den Kläger wegen seines Unfalles vom 4. Dezember 1979 zu entschädigen". Als die Berufung eingelegt wurde, betraf sie dementsprechend nicht "nur Rente für bereits abgelaufene Zeiträume" im Sinne des § 145 Nr 2 SGG. Das LSG hat unberücksichtigt gelassen, daß infolge des umstrittenen Unfalls noch eine zweite Operation zur Metallentfernung bevorstand. Zum Zeitpunkt der Berufungseinlegung stand angesichts der notwendigen zweiten Operation bereits fest, daß der umstrittene Unfall in Zukunft noch Heilbehandlungsansprüche des Klägers gegen die Beklagte begründen könnte (§§ 547, 557, 559, 565 Abs 1 in der Relativierung durch Abs 2 RVO). Die Dauer dieser Ansprüche und die mögliche Entstehung weiterer Ansprüche wegen des Operationsrisikos, zB auf Berufshilfe (§ 567 RVO) und fortdauernde Rente (§ 581 RVO), war zu diesem Zeitpunkt noch objektiv unaufklärbar und damit ungewiß. Darauf hat der Kläger im ersten Abschnitt des Berufungsverfahrens ausdrücklich hingewiesen und erklärt, er wolle sich sein Recht in dieser Hinsicht sichern (Schriftsatz vom 31. Juli 1981). Unter diesen Verhältnissen liegt weder ein Berufungsausschließungsgrund nach § 144 Nr 2 RVO (Rente für einen beschränkten Zeitraum) noch nach § 145 Nr 2 SGG vor (Rente für einen abgelaufenen Zeitraum). Denn die Zulässigkeit des Rechtsmittels richtet sich grundsätzlich nach den Verhältnissen, die vorlagen, als es eingelegt wurde (BSG 1500 § 146 Nr 6). Der Hinweis des LSG auf das Urteil des BSG vom 18. Januar 1978 (SozR 1500 § 146 Nr 5) begründet keinen Zweifel an diesem Grundsatz. Denn in dem damals entschiedenen Fall hatten sich die Verhältnisse bereits während des Klageverfahrens objektiv und aufklärbar so geändert - Wiederheirat der Witwe -, daß Rente nur für einen abgelaufenen Zeitraum begehrt werden konnte.

Hier brachte erst das chirurgische Gutachten vom 22. Januar 1985 in der rückschauenden Beurteilung Klarheit über den Verlauf der Unfallfolgen. Diese nachträglichen Tatsachen haben den Kläger veranlaßt, unter ausdrücklichem Hinweis darauf seine Klageansprüche einzuschränken (Schriftsatz vom 11. Juni 1985). Die nachträgliche Antragseinschränkung war notwendig, weil der Kläger immer nur das begehrt hatte, was ihm nach dem Gesetz zustehen würde. Das hat das LSG festgestellt. Entgegen der Meinung des LSG lag gerade hierin eine nachträgliche Antragseinschränkung des Rechtsmittelgegners, die die anfängliche Zulässigkeit des Rechtsmittels unbeschadet läßt.

Das LSG wird nunmehr nach wie vor nach Maßgabe des ersten Urteils des Senats in dieser Sache zu verfahren und auch über die Kosten dieses zweiten Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1665767

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