Leitsatz (amtlich)
Das Urteil eines Sozialgerichts betrifft nicht die Neufeststellung der Versorgungsbezüge wegen Änderung der Verhältnisse (SGG § 148 Nr 3), wenn es über einen Anspruch auf Gewährung der Pflegezulage (BVG § 35) entscheidet und dem mit der Klage angefochtenen Bescheid ein anderer Bescheid, durch den über die Gewährung einer Pflegezulage erkennbar entschieden worden war, nicht vorausgegangen ist.
Normenkette
SGG § 148 Nr. 3 Fassung: 1953-09-03; BVG § 35 Fassung: 1956-06-06
Tenor
Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 7. Oktober 1955 wird aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die Landesversicherungsanstalt (LVA.) Hessen, KB-Abteilung Marburg, gewährte dem Kläger im Umanerkennungsbescheid vom 6. April 1951 auf Grund des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) wegen Bechterew'scher Erkrankung mit rheumatischem Herzmuskelschaden Beschädigtenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) um 90 v. H. ab 1. Oktober 1950. Mit Schreiben vom 16. März 1952 beantragte der Kläger, ihm die Beschädigtenrente eines Erwerbsunfähigen und eine Pflegezulage zu gewähren. In dem Neufeststellungsbescheid vom 20. Mai 1952, der auf § 62 Abs. 1 BVG gestützt wurde, gewährte das Versorgungsamt (VersorgA.) die begehrte Rente ab 1. März 1952, lehnte aber die Gewährung einer Pflegezulage ab, da der Kläger nach dem Ergebnis der versorgungsärztlichen Untersuchung nicht hilflos sei (§ 35 BVG). In dem anschließenden Rechtsstreit wegen Gewährung der Pflegezulage wies das Sozialgericht (SG.) Marburg mit Urteil vom 22. April 1954 die Klage ab, da Hilflosigkeit nicht vorliege. Das Hessische Landessozialgericht (LSG.) verwarf durch Urteil vom 7. Oktober 1955 ohne Sachprüfung die Berufung des Klägers als unzulässig, weil das Urteil des SG. über eine Neufeststellung der Versorgungsbezüge wegen Änderung der Verhältnisse entschieden habe und die Berufung gegen ein solches Urteil gemäß § 148 Nr. 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ausgeschlossen sei. Um eine "Neufeststellung" im Sinne dieser Vorschrift handele es sich hier, weil die Pflegezulage ein Teil der Versorgungsbezüge des Klägers sei, die erstmals schon durch den Bescheid vom 6. April 1951 festgestellt worden seien; die Pflegezulage könne nur wegen wesentlicher Änderung der Verhältnisse nach § 62 BVG gewährt werden.
Der Kläger hat gegen das ihm am 1. November 1955 zugestellte Urteil des LSG. am 24. November 1955 Revision eingelegt und beantragt, das Urteil des Hessischen LSG. vom 7. Oktober 1955 und das Urteil des SG. Marburg vom 22. April 1954 aufzuheben und unter Abänderung des Bescheids vom 20. Mai 1952 ihm ab 1. März 1952 Pflegezulage zuzusprechen. Hilfsweise hat er beantragt, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.
Der Kläger rügt, daß das Verfahren des LSG. an einem wesentlichen Mangel leide. Das LSG. hätte eine Sachentscheidung treffen müssen. statt die Berufung als unzulässig zu verwerfen, da § 148 Nr. 3 SGG auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar sei. Die Ablehnung einer erstmals geltend gemachten Pflegezulage sei keine Neufeststellung der Versorgungsbezüge wegen wesentlicher Änderung der Verhältnisse.
Der Beklagte hat beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen, weil ein wesentlicher Verfahrensmangel nicht vorliege.
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie ist auch statthaft, da der nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG gerügte wesentliche Mangel des Verfahrens vorliegt, und mithin zulässig.
Nach § 148 Nr. 3 SGG können in Angelegenheiten der Kriegsopferversorgung Urteile mit der Berufung nicht angefochten werden, wenn sie "die Neufeststellung der Versorgungsbezüge wegen Änderung der Verhältnisse" betreffen. Diese Verfahrensvorschrift bezieht sich auf die im ersten Rechtszug entschiedenen Fälle, die für das Verwaltungsverfahren in § 62 BVG geregelt sind. Hiernach werden "die Versorgungsbezüge" "neu festgestellt", wenn in den Verhältnissen, die für die Feststellung maßgebend gewesen sind, eine wesentliche Änderung eintritt.
Das Wort "Versorgungsbezüge" wird sowohl in § 148 Nr. 3 SGG als auch in § 62 BVG als Sammelbegriff für mehrere Arten von wiederkehrenden Geldleistungen gebraucht, die alle von dem Begriff der "Versorgung" im Sinne des § 9 BVG umfaßt werden. Im einzelnen sind sie aber nach ihren Anspruchsvoraussetzungen verschiedene Leistungen, z. B. die Grund- und Ausgleichsrenten der Beschädigten und Hinterbliebenen, die Elternrente, die Pflegezulage. Die Feststellung dieser Bezüge nach ihrer Höhe hängt von bestimmten Verhältnissen ab - z. B. von dem Grad der MdE., der Höhe des Einkommens, dem Maße der Hilflosigkeit -, in deren Natur es liegt, daß sie sich im Laufe der Zeit ändern können. Ändern sich die maßgebenden Verhältnisse wesentlich zu Gunsten oder zu Ungunsten des Berechtigten, so sind die Bezüge entsprechend dieser Änderung gemäß § 62 BVG neu festzustellen.
Von einer Neufeststellung kann nur die Rede sein, wenn eine Vergleichsgrundlage für die fragliche Änderung vorhanden ist, d. h. wenn eine frühere Feststellung gleichartiger Bezüge vorausgegangen ist. Wenn dies nicht der Fall ist, handelt es sich um eine Erstfeststellung. Es kann jeweils nur die Feststellung gleichartiger Versorgungsbezüge miteinander verglichen werden, weil verschiedenartige Versorgungsbezüge von verschiedenen gesetzlichen Tatbeständen abhängen. Im Verhältnis zur Ablehnung einer Pflegezulage ist daher ein früherer Bescheid über die Gewährung einer Beschädigtenrente keine Erstfeststellung, vielmehr ist die Ablehnung der Pflegezulage eine Erstfeststellung, wenn die früheren Bescheide auf andere Versorgungsleistungen sich beziehen. Eine Feststellung von Versorgungsbezügen liegt bei der erstmaligen wie bei jeder späteren Feststellung stets dann vor, wenn die Verwaltungsbehörde durch einen Bescheid erkennbar darüber entschieden hat, ob und in welcher Höhe sie den geltend gemachten Anspruch auf Versorgungsleistungen anerkennt. Die Feststellung kann darin bestehen, daß eine Versorgungsleistung bewilligt, abgelehnt, erhöht, herabgesetzt oder entzogen wird.
In dem Bescheid vom 1. Oktober 1950 war zu der Frage, ob dem Kläger eine Pflegezulage zu gewähren sei, nicht Stellung genommen. Über die Pflegezulage wurde erstmals durch den Bescheid vom 20. Mai 1952, und zwar im ablehnenden Sinn entschieden. In diesem Bescheid, der mit der Klage angefochten ist, war daher in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des 9. Senats (BSG. 3, 271; SozR., SGG § 148 Bl. Da 5 Nr. 13) die erste Feststellung der Pflegezulage zu erblicken. Das Urteil des SG. v. 22. April 1954 betrifft mithin nicht die Neufeststellung der Versorgungsbezüge im Sinne des § 148 Nr. 3 SGG. Da ein sonstiger Berufungsausschließungsgrund nicht ersichtlich ist, hat das LSG. zu Unrecht die Berufung als unzulässig verworfen, anstatt ein Sachurteil zu erlassen. Die auf diesen Mangel des Verfahrens gestützte Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft.
Die Revision ist auch begründet; denn das angefochtene Urteil beruht auf diesem Mangel. Der Senat mußte es daher aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung gemäß § 170 Abs. 2 SGG an das LSG. zurückverweisen. Er konnte nicht selbst in der Sache entscheiden, da es an den tatsächlichen Feststellungen fehlt, die eine rechtliche Beurteilung des streitigen Anspruches auf Pflegezulage ermöglichen.
Die Entscheidung über die Erstattung außergerichtlicher Kosten des Verfahrens bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen