Leitsatz (amtlich)

Die Gewährung einer französischen Familienbeihilfe (prestation familiale) an den Stiefvater von in Frankreich lebenden Waisen steht der Auszahlung von Waisenrenten aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung nach Frankreich nicht entgegen (Anschluß an und Fortführung von EuGH 1978-03-16 115/77 = EuGHE 1978, 805).

 

Normenkette

AVG § 44 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1267 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1957-02-23; AVG § 97 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1960-02-25; RVO § 1318 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1960-02-25; EWGV 1408/71 Art. 79 Abs. 3 Fassung: 1971-06-14

 

Verfahrensgang

LSG Berlin (Entscheidung vom 31.10.1978; Aktenzeichen L 12 An 176/77)

SG Berlin (Entscheidung vom 31.10.1977; Aktenzeichen S 14 An 1391/77)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 31. Oktober 1978 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat den Klägerinnen die außergerichtlichen Kosten auch des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

Streitig ist die Zahlung von Waisenrente nach Frankreich.

Die Klägerinnen, geboren am 27. Oktober 1967 bzw am 23. April 1971, sind deutsche Staatsangehörige. Sie sind die Kinder aus der am 28. September 1972 geschiedenen Ehe des am 19. September 1974 verstorbenen J B (im folgenden: Versicherter) und seiner damaligen Ehefrau B.

Die Mutter der Klägerinnen, die für diese das Sorgerecht erhielt, verlegte mit ihnen im Oktober 1972 ihren Wohnsitz nach Frankreich und heiratete dort am 21. Dezember 1974 den französischen Staatsbürger B D, der eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübt. Er erhält aufgrund dieser Tätigkeit für die in seinen Haushalt aufgenommenen Klägerinnen seit Oktober 1972 Familienbeihilfen (prestations familiales) von der Caisse d' Allocations Familiales, Paris, in Höhe von je 169,- frs.

Für den Versicherten wurden von 1966 bis zu seinem Tode mehr als sechzig Monatsbeiträge zur Angestelltenversicherung entrichtet. Während einer mehrmonatigen Tätigkeit in Frankreich in den Jahren 1970 und 1971 war er bei einer Zusatzversicherungsanstalt versichert. Waisenrentenansprüche der Klägerinnen gegen eine französische Versicherung bestehen nicht.

Den im Oktober 1974 gestellten Antrag der Klägerinnen auf Zahlung von Waisenrente lehnte die Beklagte ab mit der Begründung, zwar bestehe ein Waisenrentenanspruch dem Grunde nach, die Leistung sei jedoch gemäß Art 78, 79 Abs 3 der EWG-Verordnung (EWG-VO) Nr 1408/71 auszusetzen und könne daher nicht ausgezahlt werden, weil der Stiefvater der Klägerinnen für diese Familienbeihilfen beziehe. Die Aussetzung des Anspruchs nach den genannten gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen diene der Verhinderung von Leistungskumulierungen (Bescheid vom 13. August 1976, Widerspruchsbescheid vom 2. Juni 1977).

Mit der dagegen erhobenen Klage hatten die Klägerinnen bei dem Sozialgericht (SG) Berlin teilweise Erfolg. Das SG hat die Beklagte verurteilt, den Klägerinnen Waisenrente nach ihrem Vater zu gewähren und abzüglich der von der Caisse d'Allocations Familiales geleisteten Familienbeihilfen auszuzahlen. Im übrigen hat es die Klage abgewiesen (Urteil vom 31. Oktober 1977). Zur Begründung hat es ausgeführt: Sinn und Zweck des hier anwendbaren Art 79 Abs 3 EWG-VO Nr 1408/71 sei es, Doppelleistungen zu vermeiden. Die Vorschrift sei dahingehend auszulegen, daß Leistungen - und gemäß Art 78 der Verordnung auch Waisenrenten - nur insoweit auszusetzen seien, als sie zusammen über die höhere Leistung hinausgingen. Da die deutsche Waisenrente höher als die französische Familienbeihilfe sei, sei die Waisenrente entsprechend zu kürzen, dh abzüglich der französischen Familienbeihilfe auszuzahlen.

Das Landessozialgericht Berlin (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und auf die Anschlußberufung der Klägerinnen unter Abänderung des angefochtenen Urteils die Beklagte verurteilt, den Klägerinnen Waisenrente aus der Versicherung ihres Vaters in voller Höhe nach Frankreich zu zahlen (Urteil vom 31. Oktober 1978; Breithaupt 1979, 635). Zur Begründung hat es ausgeführt:

Zwar umfasse der persönliche Geltungsbereich der EWG-VO Nr 1408/71 nicht nur Arbeitnehmer, sondern auch deren Familienangehörige und Hinterbliebene, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwanderten und in einem anderen Staat der Gemeinschaft ihren Wohnsitz hätten. Nach den Bestimmungen der Verordnung sei die Rente auch nur nach den Rechtsvorschriften des deutschen Staates zu gewähren, da der Versicherte nur der deutschen Rentenversicherung angehört habe. Die Antikumulierungsvorschrift des Art 79 Abs 3 EWG-VO Nr 1408/71, die zu einem Aussetzen (Ruhen) von Leistungsansprüchen führe, wenn für Kinder Anspruch auf Leistungen oder Familienbeihilfen nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates wegen Ausübung einer Erwerbstätigkeit bestehe, sei hingegen im zur Entscheidung stehenden Fall nicht anwendbar. Die genannten Leistungsansprüche seien nur auszusetzen, soweit sie mit Ansprüchen auf gleichartige Leistungen zusammenträfen. Waisenrenten einerseits und Familienbeihilfen andererseits seien aber Leistungen von unterschiedlicher Natur. Familienbeihilfen knüpften an eine gegenwärtig ausgeübte Erwerbstätigkeit - hier des Stiefvaters der Klägerinnen - an. Waisenrenten hingegen stünden den Kindern selbst unmittelbar und ausschließlich zu als Folge einer früheren Arbeitsbeziehung, die mit dem Tod des unterhaltsverpflichteten Arbeitnehmers (Versicherten) weggefallen sei. Von einer Doppelleistung im Sinne des Zusammentreffens rechtlich gleichartiger Ansprüche aufgrund desselben Sachverhalts in Fällen vorliegender Art könne daher nicht gesprochen werden. Dies ergebe sich auch aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 16. März 1978 (Slg 1978, 805 ff). Befänden sich die Kinder bei einem Stiefvater in Deutschland, würden ihre Waisenrentenansprüche dadurch, daß dieser für sie Kindergeld erhalte, nicht berührt. Würde ein Umzug innerhalb der Gemeinschaft aber zum Entzug von Rechtspositionen führen, so widerspräche dies dem innerhalb der Gemeinschaft geltenden Grundsatz der Freizügigkeit. Der EuGH habe häufig ausgesprochen, daß die Anwendung des Gemeinschaftsrechts auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit nicht die Kürzung oder den Verlust von solchen Ansprüchen zur Folge haben dürfe, die ohne die Verordnungen bestehen würden. Da der EuGH über die in Rede stehende Rechtsfrage entschieden habe, komme auch eine Vorlage zur - nochmaligen - Auslegung des Art 79 Abs 3 der EWG-VO Nr 1408/71 nicht in Betracht.

Diesem Urteil tritt die Beklagte mit der zugelassenen Revision entgegen. Sie rügt eine Verletzung des Art 79 Abs 3 der EWG-VO Nr 1408/71. Es handele sich um eine hier anwendbare Antikumulierungsvorschrift. Sei diese nur bei einem Zusammentreffen gleichartiger Leistungen anzuwenden, ginge sie für Waisenrenten stets ins Leere, weil bereits Art 78 Abs 2 der Verordnung die Kumulierung von Waisenrenten nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten ausschließe. Der Auffassung des EuGH in der genannten Entscheidung - der im übrigen ein nicht vergleichbarer Sachverhalt zugrundegelegen habe - könne daher nicht gefolgt werden. Überdies sei der Versicherte entgegen der Annahme des Berufungsgerichts auch nach französischen Rechtsvorschriften versichert gewesen. Für die Jahre 1970 und 1971 seien acht Trimester Versicherungszeit in der französischen Rentenversicherung nachgewiesen, so daß hinsichtlich des Waisenrentenanspruchs der Klägerinnen nicht Art 78 Abs 2 Buchst a der EWG-VO Nr 1408/71, sondern dessen Buchst b, ii Anwendung finde. Da Art 79 Abs 3 der Verordnung auf deren Art 78 insgesamt verweise, sei der Anspruch danach auszusetzen.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile des Landessozialgerichts Berlin vom 31. Oktober 1978 und des Sozialgerichts Berlin vom 31. Oktober 1977 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerinnen beantragen,

die Revision zurückzuweisen.

Sie halten das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten habe ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die durch Zulassung statthafte Revision der Beklagten ist zulässig, aber nicht begründet.

Gegenstand des Rechtsstreits ist allein die Frage, ob die den Klägerinnen zustehende Waisenrente nach Frankreich auszuzahlen ist. Hingegen hat der Senat nicht darüber zu befinden, ob eine Waisenrente den Klägerinnen dem Grunde nach zusteht. Dies hat die Beklagte mit dem Widerspruchsbescheid vom 2. Juni 1977 ausdrücklich anerkannt.

Das LSG hat zutreffend entschieden, daß die Waisenrente den Klägerinnen in voller Höhe nach Frankreich auszuzahlen ist.

Innerstaatliche Rechtsvorschriften stehen einer solchen Auszahlung nicht entgegen (zum Vorrang innerstaatlicher Vorschriften gegenüber solchen des Gemeinschaftsrechts hinsichtlich der "Aussetzung" von Ansprüchen vgl. BSGE 45, 95, 100 = SozR 5870 § 8 Nr. 3). Nach § 97 Abs 1 Satz 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) ist die Waisenrente auch für Zeiten des Aufenthaltes im Ausland zu zahlen. Sie entfällt ausschließlich auf im Geltungsbereich des AVG vom Versicherten zurückgelegte Versicherungsjahre.

Europäisches Gemeinschaftsrecht steht der Auszahlung der Waisenrenten nach Frankreich ebenfalls nicht entgegen.

Zwar ist die Anwendbarkeit der EWG-VO Nr 1408/71 auf den vorliegenden Fall nicht schon deshalb ausgeschlossen, weil die Klägerinnen nicht unter ihren persönlichen Geltungsbereich fallen. Ob der verstorbene Vater, die Mutter oder der Stiefvater der Klägerinnen Wanderarbeitnehmer iS dieser Verordnung sind oder gewesen sind, mag hier dahinstehen. Denn der persönliche Geltungsbereich der EWG-VO Nr 1408/71 umfaßt bereits nach deren Titel nicht nur Arbeitnehmer, sondern auch "deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern." Dies wird in Art 2 Abs 1 der Verordnung noch näher präzisiert; danach gilt diese für die Hinterbliebenen von Arbeitnehmern, für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten. Der Anwendungsbereich der EWG-VO Nr 1408/71 ist mithin nicht auf diejenigen Arbeitnehmer beschränkt, die in mehreren Staaten gearbeitet haben oder zwar nur in einem Staat arbeiten oder gearbeitet haben, jedoch in einem anderen gewohnt haben, oder ihre Hinterbliebenen. Die Verordnung ist vielmehr auch dann anwendbar, wenn nicht der Arbeitnehmer selbst, sondern seine Hinterbliebenen in einem anderen Mitgliedstaat wohnen. Diese Auffassung des erkennenden Senats zum persönlichen Geltungsbereich der EWG-VO Nr 1408/71 stimmt mit der des EuGH überein, die er in seinem Urteil vom 16. März 1978 (Slg 1978, 805, 814 f) dargelegt hat.

Ein gemeinschaftsrechtliches Kumulierungsverbot, das zum Ruhen bzw. Aussetzen der Waisenrentenansprüche der Klägerinnen führt, wird jedoch durch die EWG-VO Nr 1408/71 nicht begründet.

Nach Art 79 Abs 3 der Verordnung werden bestimmte Leistungsansprüche ausgesetzt, "wenn für die Kinder Anspruch auf Leistungen oder Familienbeihilfen nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wegen Ausübung einer Erwerbstätigkeit besteht. In diesem Fall gelten sie als Familienangehörige eines Arbeitnehmers." Hinsichtlich der auszusetzenden Leistungsansprüche verweist die genannte Vorschrift auf den hier allein in Betracht kommenden Art 78. Art 79 Abs 3 EWG-VO Nr 1408/71 gehört zu den Bestimmungen des Titels III, Kapitel 8 der Verordnung - "Leistungen für unterhaltsberechtigte Kinder von Rentnern und für Waisen" -. Über die Rechtsstellung von Waisen bestimmt Art 78 Abs 1 der Verordnung, daß Leistungen im Sinne dieses Artikels "Familienbeihilfen und gegebenenfalls zusätzliche oder besondere Beihilfen für Waisen sowie Waisenrenten ..." sind. Nach Art 78 Abs 2 Buchst a werden für Waisen eines verstorbenen Arbeitnehmers, für den die Rechtsvorschriften eines einzigen Mitgliedstaats gegolten haben, Leistungen gemäß den Rechtsvorschriften dieses Staates gewährt ohne Rücksicht darauf, in welchem Mitgliedstaat die Waisen oder die Person, die ihren Unterhalt bestreitet, wohnen.

Das Berufungsgericht führt dazu aus, nach der genannten Bestimmung sei Waisenrente nur nach deutschem Recht zu gewähren, weil der verstorbene Versicherte nur der deutschen Rentenversicherung angehört habe. Demgegenüber trägt die Beklagte vor, für den Versicherten seien acht Trimester Versicherungszeit in der französischen Rentenversicherung nachgewiesen, so daß hinsichtlich des Waisenrentenanspruchs der Klägerinnen nicht Art 78 Abs 1 Buchst a, sondern dessen Buchst b, ii Anwendung finde. Mit diesem Vortrag vermag die Beklagte indessen nicht durchzudringen. Das Revisionsgericht ist nach § 163 SGG an die in dem angefochtenen Urteil getroffenen Tatsachenfeststellungen - gegen die die Beklagte keine zulässigen und begründeten Revisionsrügen vorbringt - gebunden. Als Tatsache ist vom Berufungsgericht festgestellt worden, daß der verstorbene Versicherte 1970 und 1971 lediglich bei einer französischen Zusatzversicherung versichert gewesen ist, nicht hingegen, daß er der französischen Rentenversicherung angehört hat. Selbst wenn aber für den Versicherten die Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten gegolten hätten und damit hinsichtlich der Waisenrentenansprüche Art 78 Abs 2 Buchst b EWG-VO Nr 1408/71 zur Anwendung käme, würden sich diese Ansprüche allein nach deutschem Recht richten, weil deutsche Rechtsvorschriften für den verstorbenen Versicherten "die längste Zeit gegolten haben" und Waisenrentenansprüche nach deutschem Recht bestehen (Art 78 Abs 2 Buchst b, ii, 1. Halbs). Für die Frage nach der Aussetzung dieser Ansprüche, die allein nach Art 79 Abs 3 der Verordnung entschieden werden kann, ist das Vorbringen der Beklagten somit in jedem Fall unerheblich.

Nach der zuletzt genannten Vorschrift wären die Waisenrentenansprüche der Klägerinnen auszusetzen, wenn für sie - die Klägerinnen - Anspruch auf Leistungen oder Familienbeihilfen nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats - hier der französischen Republik - wegen Ausübung einer Erwerbstätigkeit bestehen würden. Der EuGH hat in dem genannten Urteil vom 16. März 1978 für einen entgegen der Auffassung der Beklagten durchaus vergleichbaren Fall, nämlich für die Kumulierung von belgischer Familienbeihilfe und deutscher Waisenrente, das gemeinschaftsrechtliche Kumulierungsverbot des Art 79 Abs 3 im Rahmen des Systems und der Ziele der Verordnung interpretiert und näher präzisiert. Er hat das Kumulierungsverbot darauf beschränkt, daß Leistungen zur Vermeidung einer Doppelversorgung nur auszusetzen sind, wenn sie mit Ansprüchen auf gleichartige Leistungen zusammentreffen, die einem und demselben Berechtigten zustehen. Zur Begründung hat der EuGH ausgeführt, es würde dem Zweck der gemeinschaftsrechtlichen Kumulierungsverbote auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit zuwiderlaufen, wenn die Gewährung einer Leistung an einen Berechtigten dadurch beeinträchtigt werden könnte, daß ein anderer Berechtigter eine Leistung erhalte. Deshalb sei Art 79 Abs 3 dahin auszulegen, daß der dort genannte "Anspruch auf Leistungen" einem und demselben Berechtigten zustehen müsse. Eine solche Auslegung stehe in Übereinstimmung mit allen anderen Kumulierungsverboten in den Rechtsvorschriften der Gemeinschaft auf dem Gebiet der Sozialen Sicherheit (insbesondere mit Art 12 der EWG-VO Nr 1408/71), welche sich nur auf gleichartige Leistungen bezögen (EuGH, aaO, S 816; zu anderen Kumulierungsfällen in der Rechtsprechung des EuGH s. Schulte/Zacher, Das Sozialrecht in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in: Wannagat (Hrsg), Jahrbuch des Sozialrechts der Gegenwart, Bd 1, 1979, S 370 ff, 373; ferner Pernice, Grundrechtsgehalte im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1979, S 146 ff). Daß Kumulierungsverbote bei Wanderarbeitnehmern und ihren Familien, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machen, nicht zu dem Verlust von Vergünstigungen der sozialen Sicherheit führen dürfen, die ihnen bereits das Recht eines einzigen Mitgliedstaats sichert, betont der EuGH darüber hinaus in ständiger Rechtsprechung (vgl die Urteile Niemann, Slg 1974, S 579, Rn 5, und Petroni, Slg 1975, S 1161, Rn 20; weitere Nachw bei Pernice, aaO, S 147 f).

Dieser "gemeinschaftsfreundlichen" Auslegung des europäischen Sekundärrechts, das durch eine Koordinierung noch nicht vereinheitlichter nationaler Rechtsvorschriften den Wanderarbeitnehmern und ihren Familien sozialversicherungsrechtliche Gleichstellung und Freizügigkeit gewährleisten soll und damit die Zielvorgaben des EWG-Vertrages zu verwirklichen hilft (s insbesondere Art 48 bis 51 EWGV), schließt sich der erkennende Senat an. Die Frage der Bindungswirkung von Entscheidungen des EuGH kann somit hier auf sich beruhen. Ebenso sieht der Senat keinen Anlaß für ein abermaliges Ersuchen an den EuGH um Vorabentscheidung über die Auslegung des Art 79 Abs 3 EWG-VO Nr 1408/71.

Die Beschränkung des Kumulierungsverbots des Art 79 Abs 3 der EWG-VO Nr 1408/71 nach den Erfordernissen der Gleichartigkeit der Leistungen und der Identität des Berechtigten findet im übrigen eine Parallele im deutschen Kindergeldrecht. Auch dieses ist von dem Grundsatz beherrscht, Doppelleistungen für dasselbe Kind auszuschließen (s § 8 BKGG; BSGE 45, 89, 90 f = SozR 5870 § 8 Nr 2 mw Nachw; s auch BSGE 26, 160, 162). Stets kommt es dabei aber auf die Vergleichbarkeit der Leistungen an (vgl BSG SozR 5870 § 8 Nr 1 und BSGE 45, 95, 101 ff = SozR 5870 § 8 Nr 3 jeweils mwN). Das Vergleichbarkeitskriterium hat das BSG auch bei dem Zusammentreffen von französischer Rente und deutschem Arbeitslosengeld im Rahmen des Art 12 der EWG-VO Nr 1408/71 herangezogen (vgl BSGE 43, 26, 30 ff = SozR 4100 § 118 Nr 3). Nichts anderes gilt für die Auslegung des Art 79 Abs 3 der EWG-VO Nr 1408/71 nach dem Urteil des EuGH vom 16. März 1978.

Für die Frage der Kumulation von belgischer Familienbeihilfe und deutscher Waisenrente hat der EuGH in dem genannten Urteil eine Vergleichbarkeit der Leistungsansprüche verneint: Die Familienbeihilfe habe nach dem System der EWG-VO Nr 1408/71 ihren Ursprung in einer tatsächlichen Arbeitsbeziehung (selbst wenn der Arbeitnehmer nicht mehr tätig sei) und stehe unmittelbar und ausschließlich dem Arbeitnehmer selbst zu. Andererseits stehe eine Waisenrente der Waise selbst unmittelbar und ausschließlich zu und sei wie die übrigen Leistungen an Hinterbliebene die Folge einer früheren Arbeitsbeziehung, die mit dem Tod des Arbeitnehmers weggefallen sei (EuGH, aaO, S 815). Der Gerichtshof hält somit die genannte Familienbeihilfe nicht mit einer Waisenrente für vergleichbar und die Antikumulierungsvorschrift des Art 79 Abs 3 nicht für anwendbar.

Im Verhältnis von französischen Familienbeihilfen (prestations familiales), die dem Stiefvater der Klägerinnen für diese gewährt werden, und deutschen Waisenrenten, die ausschließlich den Klägerinnen selbst und unmittelbar zustehen, handelt es sich auch um nicht vergleichbare Leistungen, so daß das Kumulierungsverbot des Art 79 Abs 3 der EWG-VO Nr 1408/71 nicht zur Anwendung kommt. Zwar ist bei der Entscheidung dieser Frage ausländisches Recht heranzuziehen, dessen Auslegung dem Revisionsgericht grundsätzlich entzogen ist (§ 162 SGG). Der Senat sieht sich jedoch veranlaßt, die Auslegung, die das Berufungsgericht in Anlehnung an das vorbezeichnete Urteil des EuGH dem Begriff der Familienbeihilfe gibt, speziell für die hier in Rede stehende französische Familienbeihilfe näher zu erläutern.

Das weitverzweigte System der französischen Familienbeihilfen (prestations familiales) umfaßt unterschiedliche Leistungen, von denen als wichtigste zu nennen sind (Art 510 ff Code de la sécurité sociale): Die "allocations familiales", die das eigentliche Kindergeld darstellen (Art 524 ff C séc soc); sie werden ab dem zweiten Kind, das im Inland wohnt, gewährt. Bei einzigem Einkommen wird ab dem ersten Kind außerdem eine "allocation de salaire unique" gewährt Art 533 ff C séc soc; s zu den einzelnen Leistungen: Dupeyroux, Droit de la sécurité sociale, 16. Edition, Paris 1975, S 551 ff, sowie Igl, VSSR Beiheft 1, 1978, S 74 ff). Die Familienbeihilfen haben kürzlich eine Reform erfahren, die zum 1. Januar 1978 in Kraft getreten ist. Danach sind die zentralen Beihilfen zu einer einzigen Familienzulage (complement familiale) zusammengefaßt worden (s dazu Igl, Teilreform der französischen Familienbeihilfen, FamRZ 1977, S 443).

Das Berufungsgericht hat nicht festgestellt, welcher Art die Familienbeihilfe im einzelnen ist, die der Stiefvater der Klägerinnen für diese erhalten hat und erhält. Dies kann jedoch dahinstehen. Im Rahmen der Vergleichbarkeitsprüfung kommt es allein auf den Zweck der Hilfen an, der ihnen allen gemeinsam ist: Die französischen Familienbeihilfen haben eine doppelte Finalität. Sie bezwecken - neben der Steuerung vor allem der Geburten- und Wirtschaftspolitik - primär einen Finanzausgleich zwischen Junggesellen und Familienvätern auf der Basis des gleichen Arbeitseinkommens (Dupeyroux, aaO, S 525 ff; Igl, VSSR Beiheft 1, aaO, S 74). Damit sind sie dem deutschen Kindergeld vergleichbar, das nach ständiger Rechtsprechung primär einen "Familienlastenausgleich" bezweckt (BVerfGE 22, 163, 168 = SozR Nr 63 zu Art 3 GG; BSGE 26, 160, 162 mw Nachw = SozR Nr 1 zu § 7 BKGG; BSG SozR 5870 § 8 Nr 1). Demgegenüber ist die Zwecksetzung der deutschen Waisenrente eine andere: Die Waisenrente hat ihre Grundlage in der Versicherung des verstorbenen Arbeitnehmers; sie steht, wie das Berufungsgericht im Anschluß an das Urteil des EuGH vom 16. März 1978 zutreffend ausführt, der Waise selbst unmittelbar und ausschließlich zu. Nach deutschem Recht würden die Waisenrentenansprüche der Klägerinnen, wie es das Berufungsgericht und der EuGH wiederum zutreffend hervorheben, nicht deshalb entfallen oder ruhen, weil deren Stiefvater, würden sie bei ihm in der Bundesrepublik Deutschland wohnen, für sie - die Klägerinnen - Kindergeld erhielte (vgl Wickenhagen/Krebs, BKGG, Bd 2, Stand 1979, § 8, RdNr 4). Auch diese gesetzliche Wertung mag als Anhaltspunkt für die Ungleichartigkeit von Familienbeihilfe (Kindergeld) und Waisenrente dienen.

Nach allem entsprechen sich zwar deutsche und französische Familienbeihilfe (Kindergeld) in ihrer primären Zwecksetzung; französische Familienbeihilfe (Kindergeld) und deutsche Waisenrente sind hingegen nicht vergleichbar. Die Antikumulierungsvorschrift des Art 79 Abs 3 der EWG-VO Nr 1408/71 steht damit der vollen Auszahlung der Waisenrenten an die Klägerinnen nicht entgegen.

Dies hat das LSG zutreffend erkannt. Somit ist die Revision der Beklagten als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs 1 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1655490

BSGE, 210

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