Entscheidungsstichwort (Thema)

Arbeitslosenhilfe. Erziehungsgeld. Umzug. Erreichbarkeit. Verfügbarkeit. Änderung der Verhältnisse. Mitteilungspflicht. gesetzliche Fiktion. Auslegung. Aufhebung

 

Leitsatz (amtlich)

Während des Bezugs von Erziehungsgeld wird der Anspruch auf Arbeitslosenhilfe nicht dadurch ausgeschlossen, daß der Arbeitslose für das Arbeitsamt nicht erreichbar ist (Fortführung von BSG SozR 3-4100 § 134 Nr 8).

 

Normenkette

AFG § 103 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, § 134 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, Abs. 4; SGB X § 48 Abs. 1; SGB I § 60; BErzGG § 2 Abs. 4

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Urteil vom 25.01.1996; Aktenzeichen L 8 Ar 286/95)

SG Aurich (Urteil vom 11.07.1995; Aktenzeichen S 5 Ar 50116/94)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 25. Januar 1996 aufgehoben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Aurich vom 11. Juli 1995 zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin die Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die Klägerin wendet sich gegen die Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosenhilfe (Alhi) für die Zeit ab 11. August 1993 bis 19. Januar 1994 und die Rückforderung der in diesem Zeitraum erbrachten Leistungen.

Die 1966 geborene Klägerin stand bei der beklagten Bundesanstalt für Arbeit (BA) seit längerem im Leistungsbezug. Anläßlich der Geburt ihres ersten Kindes (24. Dezember 1992) bezog sie ab 11. November 1992 bis 18. Februar 1993 Mutterschaftsgeld. Im Anschluß daran bewilligte das Arbeitsamt (ArbA) der Klägerin antragsgemäß Alhi ab 19. Februar 1993 wieder (Bescheide vom 22. März 1993, 27. Mai 1993). Gleichzeitig mit der Alhi bezog die Klägerin Erziehungsgeld (Erzg).

Am 1. August 1993 zog die Klägerin von ihrem bisher gegenüber der Beklagten angegebenen Wohnort (B.…, B.…) in die Wohnung ihrer Eltern in der K.…-S.…-S.… in L.…-B.… um. Eine Umzugsmitteilung erreichte das ArbA nicht. Nach entsprechender Anhörung der Klägerin hob das ArbA mit Bescheid vom 9. Februar 1994 die Alhi-Bewilligung für die Zeit ab 2. August 1993 bis 19. Januar 1994 auf, weil die Klägerin wegen des nicht mitgeteilten Umzugs der Arbeitsvermittlung nicht mehr zur Verfügung gestanden habe. Sie habe 4.955,50 DM zuviel erhaltene Alhi sowie 1.529,96 DM an Krankenkassenbeiträgen zu erstatten. Der Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 28. April 1994).

Der auf die Zeit ab 11. August 1993 beschränkten Klage hat das Sozialgericht (SG) mit Urteil vom 11. Juli 1995 stattgegeben und die angefochtenen Bescheide der Beklagten insoweit aufgehoben, weil die Beklagte die Beweislast dafür trage, daß die Klägerin ihren Umzug nicht mitgeteilt habe. Diesen Beweis habe die Beklagte nicht geführt.

Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 25. Januar 1996 das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es hat im wesentlichen ausgeführt, die Voraussetzungen einer Aufhebung der Leistungsbewilligung seien im Fall der Klägerin erfüllt. Eine wesentliche Änderung der maßgebenden Verhältnisse sei bei ihr dadurch eingetreten, daß sie am 1. August 1993 einen Wohnortwechsel vorgenommen habe, ohne dies dem ArbA nachweislich mitzuteilen. Für die Absendung der Veränderungsmitteilung trage die Klägerin die Beweislast. Unter Würdigung der Gesamtumstände habe die Klägerin nicht bewiesen, daß sie ihrer Mitteilungspflicht durch Absendung der Veränderungsmitteilung an das ArbA nachgekommen sei.

Mit der Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter und bekämpft die Rechtsansicht des LSG.

Sie beantragt sinngemäß,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision der Klägerin zurückzuweisen.

Sie hält die Entscheidung des LSG jedenfalls im Ergebnis für zutreffend. Sie trägt – nach entsprechendem Hinweis des Senats auf dessen Entscheidung vom 30. September 1992 (BSG SozR 3-4100 § 134 Nr 8) – ergänzend vor, auch während des Bezugs von Erzg sei für einen Anspruch der Klägerin auf Alhi Voraussetzung, daß sie für das ArbA erreichbar iS des § 103 Abs 1 Satz 1 Nr 3 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) gewesen sei. Die gesetzliche Fiktion des § 2 Abs 4 Bundeserziehungsgeldgesetz (BErzGG), wonach während des Bezugs von Erzg der Anspruch auf Alhi nicht ausgeschlossen sei, beziehe sich nur auf die objektive und subjektive Verfügbarkeit iS des § 103 Abs 1 Satz 1 Nrn 1 und 2 AFG. Soweit der Senat in seiner Entscheidung vom 30. September 1992 die gesetzliche Fiktion über ihren Wortlaut hinaus auch auf das Tatbestandsmerkmal der Erreichbarkeit erstreckt habe, könne dieser Rechtsauffassung nicht gefolgt werden. Die gegenständliche Beschränkung der Norm auf die Fiktion der objektiven und subjektiven Verfügbarkeit entspreche dem Sinn und Zweck der Vorschrift. Begünstigt solle nur derjenige sein, der wegen der Betreuung und Erziehung des Kindes nicht in der Lage sei, eine Arbeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts auszuüben. Für die Erfüllung des Betreuungs- und Erziehungsauftrags sei die Erreichbarkeit des Arbeitslosen unbedeutend, weil die Erfüllung dieses Auftrags weder im Falle der Erreichbarkeit noch im Falle der Nichterreichbarkeit gefährdet wäre. Hieraus könne nur gefolgert werden, daß der Gesetzgeber durch den fehlenden Verweis auf § 103 Abs 1 Satz 1 Nr 3 AFG in § 2 Abs 4 BErzGG den Arbeitslosen insofern nicht – auch noch – begünstigen wollte.

Das mit der Voraussetzung der Erreichbarkeit verfolgte originäre Ziel, den Arbeitslosen zum Zwecke der Arbeitsvermittlung schnellstmöglich zu erreichen, könne bei gleichzeitigem Bezug von Alhi und Erzg zwar nicht erreicht werden. Insofern unterscheide sich der vorliegende Fall aber nicht von Fallgestaltungen nach § 105c AFG oder § 249e AFG, für die nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) geklärt sei, daß Erreichbarkeit aus übergeordneten Gesichtspunkten gegeben sein müsse.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Klägerin ist begründet. Das Urteil des LSG beruht auf einer Verletzung des § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) iVm § 134 Abs 1 Satz 1 Nr 1 AFG, § 2 Abs 4 BErzGG.

1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der Bescheid vom 9. Februar 1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. April 1994, soweit darin die Alhi-Bewilligung für die Zeit vom 11. August 1993 bis 19. Januar 1994 aufgehoben und die auf diesen Zeitraum entfallenden Leistungen und Krankenversicherungsbeiträge zurückgefordert worden sind. Nicht streitbefangen ist der Zeitraum vom 2. bis 10. August 1993, denn insoweit hat sich durch die teilweise Klagerücknahme der Klägerin der Rechtsstreit erledigt (§ 102 SGG) und sind die Bescheide bindend geworden (§ 77 SGG).

2. In der Sache erweisen sich die angefochtenen Bescheide der Beklagten als rechtswidrig. Denn entgegen der Rechtsansicht der Beklagten setzt während des Bezugs von Erzg der Anspruch auf Alhi die Erreichbarkeit des Arbeitslosen (§ 103 Abs 1 Satz 1 Nr 3 AFG) nicht voraus. Vielmehr wird – was auch die Vorinstanzen verkannt haben – während des Bezugs von Erzg die subjektive und objektive Verfügbarkeit einschließlich der Erreichbarkeit für den Anspruch auf Alhi fingiert (§ 2 Abs 4 BErzGG).

2.1 Die materiell-rechtliche Rechtmäßigkeit der Aufhebung der Leistungsbewilligung beurteilt sich nach § 48 Abs 1 SGB X. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlaß vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben (Satz 1). Der Verwaltungsakt soll mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse ua aufgehoben werden, soweit der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist (Satz 2 Nr 2).

Der Bewilligungsbescheid vom 27. Mai 1993, durch den der Klägerin Alhi ab 26. Mai 1993 bewilligt wurde, ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung (vgl hierzu etwa BSG SozR 4100 § 138 Nr 25; BSGE 66, 134, 136 = SozR 3-4100 § 138 Nr 1). Wesentliche Änderung iS des § 48 Abs 1 SGB X ist eine für die Anspruchsvoraussetzungen der bewilligten Leistung rechtserhebliche Änderung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse oder – anders ausgedrückt – wesentlich sind alle Änderungen, die dazu führen, daß die Behörde unter den nunmehr objektiv vorliegenden Verhältnissen den Verwaltungsakt nicht hätte erlassen dürfen (vgl BSG SozR 3-1300 § 48 Nr 48 mwN). Die Feststellung einer wesentlichen Änderung richtet sich somit nach dem für die Leistung von Alhi maßgeblichen materiellen Recht.

2.2 Die tatsächlichen Verhältnisse, die bei Erlaß des Bewilligungsbescheides vom 27. Mai 1993 vorlagen, haben sich insofern geändert, als die Klägerin ab 1. August 1993 ihre bisherige Wohnung aufgegeben hat und in die Wohnung ihrer Eltern umgezogen ist, ohne daß dieser Umzug dem ArbA bekannt geworden ist. Diese Änderung der tatsächlichen Verhältnisse ist jedoch nicht wesentlich, denn sie hat nicht zur Folge, daß die Klägerin ab diesem Zeitpunkt keinen Anspruch auf Alhi mehr hatte.

Anspruch auf Alhi hat ua nur, wer der Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht (§ 134 Abs 1 Satz 1 Nr 1 und Abs 4, § 103 AFG). Nach § 103 Abs 1 Satz 1 Nr 3 AFG ist Voraussetzung für die Verfügbarkeit ua, daß der Arbeitslose das ArbA täglich aufsuchen kann und für das ArbA erreichbar ist (sog Residenzpflicht). Hierzu bestimmt § 1 Satz 1 der Aufenthaltsanordnung des Verwaltungsrats der BA vom 3. Oktober 1979 (ANBA S 1388), die auf der gesetzlichen Ermächtigung in § 103 Abs 5 Satz 1 AFG beruht, daß das ArbA den Arbeitslosen während der üblichen Zeit des Eingangs der Briefpost unter der von ihm benannten, für die Zuständigkeit des ArbA maßgeblichen Anschrift erreichen können muß. Dies war bei der Klägerin nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG ab 1. August 1993 deshalb nicht mehr der Fall, weil sie ihre Wohnung (B.…, B.…) aufgegeben hatte und vom Umzug an unter dieser im Antragsformular angegebenen Anschrift nicht mehr täglich während der üblichen Zeit des Eingangs der Briefpost erreichbar war.

Auf die tatsächliche Erreichbarkeit des Arbeitslosen unter der von ihm benannten Anschrift (§ 103 Abs 1 Satz 1 Nr 3 AFG, § 1 Aufenthaltsanordnung) kommt es hier jedoch nicht an. Denn die Klägerin bezog in der streitigen Zeit Erzg und betreute ihren damals halbjährigen Sohn. Ebensowenig wie der Anspruch der Klägerin auf Alhi während des Bezuges von Erzg dadurch ausgeschlossen wird, daß sie wegen der Betreuung und Erziehung ihres Kindes der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung stand und ggf nicht bereit war, an zumutbaren Maßnahmen der beruflichen Bildung teilzunehmen (§ 103 Abs 1 Satz 1 Nrn 1 und 2 AFG), kommt es für ihren Anspruch auf Alhi darauf an, ob sie in der streitigen Zeit für das ArbA erreichbar war. Dies ergibt sich aus der gesetzlichen Sonderregelung in § 2 Abs 4 (1. Halbsatz) BErzGG idF der Bekanntmachung vom 21. Januar 1992 (BGBl I 68). Danach wird während des Bezugs von Erzg der Anspruch auf Alhi nicht dadurch ausgeschlossen, daß der Arbeitslose wegen der Betreuung und Erziehung eines Kindes die Voraussetzungen des § 103 Abs 1 Satz 1 Nrn 1 und 2 AFG nicht erfüllt.

2.3 § 2 Abs 4 BErzGG enthält also eine gesetzliche Fiktion der objektiven und subjektiven Verfügbarkeit. Nicht genannt ist die in § 103 Abs 1 Satz 1 Nr 3 AFG geregelte Erreichbarkeit. Aus der begrenzten Verweisung des § 2 Abs 2 Satz 3 BErzGG auf § 103 Abs 1 Satz 1 Nrn 1 und 2 AFG ist indes nicht zu folgern, daß sich die Vergünstigung auf die Erreichbarkeit (§ 103 Abs 1 Satz 1 Nr 3 AFG) nicht bezieht (so allerdings Wiegand, Komm zum BErzGG, Stand: September 1995, § 2 RdNr 20; unklar insoweit Zmarzlik/Zipperer/Viethen, Mutterschutzgesetz – Mutterschaftshilfe, Erzg, Erziehungsurlaub –, 5. Aufl 1986, § 2 BErzGG, RdNr 61, wonach sich die gesetzliche Fiktion nur auf die Verfügbarkeit – nicht auf die übrigen Voraussetzungen der Alhi ≪zB Bedürftigkeit, Meldung beim ArbA≫ beziehe; ebenso Grüner/Dalichau, Komm zum BErzGG, Stand: 1. März 1996, § 2 unter V). Dies ergibt sich sowohl aus dem Sinn und Zweck der gesetzlichen Fiktion als auch aus der Gesetzesgeschichte der Vorschrift.

Wie sich aus der Gesetzesgeschichte zu § 2 Abs 2 Satz 3 BErzGG aF – jetzt § 2 Abs 4 BErzGG nF – ergibt, geht die Regelung – eine Anregung des Bundesrats aufnehmend (BT-Drucks 10/3926) – auf eine Beschlußempfehlung des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit (13. Ausschuß) zurück, der entgegen dem Gesetzentwurf der Bundesregierung (BT-Drucks 10/3792) den gleichzeitigen Bezug von Erzg und Alhi, nicht aber von Erzg und Arbeitslosengeld (Alg) befürwortete (Ausschußbericht vom 12. November 1985, BT-Drucks 10/4212, S 3). Die Bezieher von Alhi sollten bei Bestehen eines Anspruchs auf Erzg Sozialhilfeempfängern gleichgestellt werden, ohne sie “von vornherein auf den Weg zum Sozialamt zu drängen, zumal dies zu erheblichen Mehrbelastungen für die Sozialhilfeträger führen würde” (aaO, S 3). Für die Gesetz gewordene Regelung fand sich eine Mehrheit, weil die Alhi – ähnlich wie die Sozialhilfe – von einer Bedürftigkeitsprüfung abhängt (BT-Drucks 10/4212, S 5 zu § 2 Abs 2). Mit der Fiktion der Verfügbarkeit für Ansprüche auf Alhi hat der Gesetzgeber – unter Zurückstellung rechtssystematischer Bedenken – letztlich eine Entscheidung über die Verteilung der Kostenlast zwischen den Trägern der Alhi und der Sozialhilfe zu Lasten der Alhi getroffen und eine Gleichstellung von Alhi-Empfängern und Sozialhilfeempfängern bezweckt (so auch BSG SozR 3-4100 § 107 Nr 9).

2.4 Hierauf hat der erkennende Senat bereits in der Entscheidung vom 30. September 1992 (SozR 3-4100 § 134 Nr 8) zu dem insoweit wortgleichen § 2 Abs 2 Satz 3 BErzGG idF vom 6. Dezember 1985 (BGBl I 2154) verwiesen. In diesem Zusammenhang ist der Senat auch auf die Frage eingegangen, ob wegen der begrenzten Verweisung des § 2 Abs 2 Satz 3 BErzGG aF – ebenso § 2 Abs 4 BErzGG nF – auf § 103 Abs 1 Satz 1 Nrn 1 und 2 AFG weiterhin die Erreichbarkeit iS des § 103 Abs 1 Satz 1 Nr 3 AFG zu fordern ist oder dieses Tatbestandsmerkmal “als Teilaspekt der objektiven Verfügbarkeit im vorliegenden Zusammenhang entbehrlich ist”. Letzteres hat der Senat bejaht. Bei gesetzlicher Fiktion der Verfügbarkeit komme eine Arbeitsvermittlung praktisch nicht in Betracht und sei es mit dem Zweck der Fiktion in der Regel nicht vereinbar, auf der Erreichbarkeit des Arbeitslosen zu bestehen. An dieser Rechtsprechung ist nach Überprüfung festzuhalten.

2.5 Denn für diese Interpretation der Vorschrift spricht einerseits die vom Gesetzgeber bezweckte Gleichstellung von Alhi-Empfängern und Sozialhilfeempfängern. Sie steht andererseits aber auch im Einklang mit dem vom Gesetzgeber mit der Einführung des Erzg verfolgten Ziel, nämlich die Erziehungskraft der Familie und die Anerkennung der Familienleistung durch die Möglichkeit zur Wahl zwischen Familien- und Erwerbstätigkeit zu stärken (BT-Drucks 10/3792, S 1 und 13). Denn wenn der Erzg-Berechtigte die Möglichkeit haben soll, sich vorrangig der Betreuung und Erziehung des Kindes zu widmen und deshalb weder objektiv noch subjektiv der Arbeitsvermittlung zur Verfügung stehen muß, fehlt jeder Grund für die Forderung, der Versicherte müsse für das ArbA erreichbar sein. Das Merkmal der Erreichbarkeit iS des § 103 Abs 1 Satz 1 Nr 3 AFG hat hier keine eigenständige Bedeutung. Wie der 7. Senat des BSG in seiner Entscheidung vom 15. Mai 1985 (BSGE 58, 104, 106 = SozR 4100 § 103 Nr 36) ausgeführt hat, ist dieses erst nachträglich durch das 5. AFG-Änderungsgesetz vom 23. Juli 1979 (BGBl I 1181) aufgenommene Tatbestandsmerkmal als klarstellende Konkretisierung des “Können” iS des § 103 Abs 1 Satz 1 Nr 1 AFG zu verstehen. Wenn es auf das “Können” iS des § 103 Abs 1 Satz 1 Nr 1 AFG, also auf die objektive Verfügbarkeit nicht ankommt bzw sie gesetzlich fingiert wird (§ 2 Abs 4 BErzGG), macht es auch keinen Sinn, an der sog Residenzpflicht für den von dieser Regelung erfaßten Personenkreis festzuhalten.

2.6 Nicht überzeugen kann auch die von der Beklagten gezogene Parallele zu den in § 105c AFG und § 249e AFG geregelten Fallgestaltungen. Nach § 105c AFG (eingefügt durch Art 1 Nr 20 des 7. AFG-Änderungsgesetzes vom 20. Dezember 1985 – BGBl I 2484), hat Anspruch auf Alg nach § 100 Abs 1 AFG auch, wer das 58. Lebensjahr vollendet hat und die in den §§ 101 bis 103 AFG genannten Voraussetzungen für den Anspruch auf Alg allein deshalb nicht erfüllt, weil er nicht bereit ist, jede zumutbare Beschäftigung anzunehmen oder an zumutbaren beruflichen Bildungsmaßnahmen teilzunehmen (§ 103 Abs 1 Satz 1 Nr 2 AFG). Dieser Vorschrift – die für die Alhi entsprechend gilt (§ 134 Abs 4 AFG) – liegt die Zielsetzung zugrunde, Arbeitnehmern nach Vollendung des 58. Lebensjahres den Bezug von Alg bzw Alhi unter erleichterten Voraussetzungen zu ermöglichen, weil ihnen im allgemeinen kein Arbeitsplatz mehr vermittelt werden kann, der ihrer bisherigen – in der Regel durch langjährige Betriebszugehörigkeit geprägten – Tätigkeit annähernd gleichwertig ist und ein erneuter Aufstieg im Betrieb kaum noch möglich erscheint (BT-Drucks 10/3923, S 21). Anders als bei der gesetzlichen Fiktion in § 2 Abs 4 BErzGG wird also – wie schon die Formulierung “allein deshalb” deutlich machtlediglich die sog subjektive Verfügbarkeit in Form der Vermittlungsbereitschaft als (teilweise) entbehrlich angesehen, an den Merkmalen der objektiven Verfügbarkeit, also der Verfügbarkeit iS des § 103 Abs 1 Satz 1 Nr 1 AFG und der Erreichbarkeit iS des § 103 Abs 1 Satz 1 Nr 3 AFG, sollte jedoch festgehalten werden (vgl BSG, Urteil vom 14. September 1995 – 7 RAr 14/95, unveröffentlicht; BSG SozR 3-4100 § 103 Nr 16).

Entsprechendes gilt für das in § 249e AFG geregelte Altersübergangsgeld (Alüg). Nach § 249e Abs 2 Nr 2 AFG hat Anspruch auf Alüg auch, wer die in den §§ 101 bis 103 genannten Voraussetzungen allein deshalb nicht erfüllt, weil er nicht bereit ist, jede zumutbare Beschäftigung anzunehmen oder an zumutbaren beruflichen Maßnahmen teilzunehmen (§ 103 Abs 1 Satz 1 Nr 2). Die Regelung entspricht also insoweit wortgleich § 105c Abs 1 Satz 1 AFG und bezieht die Vergünstigung nur auf die subjektive Seite der Verfügbarkeit (vgl BSG, Urteil vom 28. November 1996 – 7 RAr 30/95, zur Veröffentlichung vorgesehen).

Nicht zu überzeugen vermag schließlich auch der Einwand der Beklagten, es könne – ähnlich wie bei dem Personenkreis des § 105c AFG und des § 249e AFG – auf die Erreichbarkeit iS des § 103 Abs 1 Satz 1 Nr 3 AFG hier nicht verzichtet werden, weil sie die Möglichkeit haben müsse, die Erfüllung von Obliegenheiten (beispielsweise Anforderung der Lohnsteuerkarte nach § 150b AFG) zu überwachen oder Meldekontrollen nach § 132 AFG durchzuführen. Denn diese Ziele lassen sich im Rahmen der Mitwirkungspflicht des Leistungsberechtigten nach § 60 Abs 1 Nrn 1 und 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) verwirklichen. Danach hat der Leistungsempfänger alle Tatsachen anzugeben, die für die Leistungen erheblich sind und auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers der Erteilung der erforderlichen Auskünfte durch Dritte (beispielsweise Arbeitgeber) zuzustimmen (Nr 1). Das Unterlassen der Mitwirkung berechtigt den Leistungsträger gemäß § 66 SGB I, die Leistung ohne weitere Ermittlungen bis zur Nachholung der Mitwirkung ganz oder teilweise zu versagen oder zu entziehen. Darüber hinaus enthält § 120 AFG eine eigenständige Regelung der Folgen der Nichterfüllung der sich aus § 132 AFG ergebenden Meldepflichten. Es ist nicht ersichtlich, aus welchen Gründen sich Bezieher von Erzg über die in § 60 f SGB I und § 132 AFG geregelten Mitwirkungspflichten hinaus zusätzlich ständig im Nahbereich des ArbA und am Wohnort aufhalten sollen, um dem ArbA eine jederzeitige Nachprüfung der materiellen Leistungsberechtigung zu ermöglichen. Ein solches Verlangen wäre – worauf der Senat bereits in seiner Entscheidung vom 30. September 1992 hingewiesen hat – auch unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit verfassungsrechtlich bedenklich (BSG SozR 3-4100 § 134 Nr 8). Denn immerhin hat der Gesetzgeber selbst bei den Fallgestaltungen nach § 105c AFG und § 249e AFG die Möglichkeit einer gewissen Lockerung der sog Residenzpflicht vorgesehen, von der der Verwaltungsrat der BA auch Gebrauch gemacht hat (§ 103 Abs 5 Satz 3 AFG, § 249 Abs 3 Nr 4 Satz 1 und Satz 2 AFG iVm § 7 der Aufenthaltsanordnung vom 3. Oktober 1979 – ANBA S 1388 idF vom 9. März 1990 – ANBA S 600, vgl auch BSG SozR 3-4100 § 103 Nr 16).

2.7 Da es somit während des Bezugs von Erzg für den Anspruch der Klägerin auf Alhi nicht darauf ankommt, ob sie in der Zeit vom 11. August 1993 bis 19. Januar 1994 für das ArbA erreichbar war, fehlt es an einer wesentlichen Änderung im Vergleich zur Rechts- und Sachlage bei Erlaß des Bewilligungsbescheides. Die Aufhebung der Leistungsbewilligung für den umstrittenen Zeitraum war daher rechtswidrig. Infolgedessen kommt es auf die von den Vorinstanzen kontrovers erörterte Pflicht der Klägerin zur Mitteilung des neuen Wohnorts nicht mehr an.

Auf die Revision der Klägerin war demzufolge die erstinstanzliche Entscheidung im Ergebnis wiederherzustellen und die hiergegen gerichtete Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 955632

NWB 1997, 1362

SozSi 1997, 439

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