Leitsatz (amtlich)

Ein Hauer, der die Sehfähigkeit auf einem Auge fast völlig verloren hat und zur Vermeidung von Doppelbildern ein Mattglas tragen muß, ist berufsunfähig, wenn er wegen seines beeinträchtigten Sehvermögens unter Tage unsicher ist und deshalb nicht mehr den Sicherheitsanforderungen entspricht, und zwar auch dann, wenn er nach ärztlicher Auffassung, objektiv gesehen, unter Tage arbeiten könnte. Voraussetzung ist jedoch, daß diese Unsicherheit medizinisch und bergpolizeilich erhärtet ist.

 

Normenkette

RKG § 35

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 12. Mai 1961 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I.

Der Kläger war von 1941 an als Gedingeschlepper und Lehrhauer, von 1949 an als Hauer tätig. Er erlitt am 30. Januar 1954 einen Unfall, durch den u. a. eine Verletzung des linken Auges eintrat. Er muß deshalb ein Mattglas tragen, um Doppelbilder zu vermeiden. Für diesen Unfall erhält er eine Teilrente von 30 v. H. Seit März/April 1954 ist er als Bergeklauber, Entlader und Transportarbeiter tätig.

Im April 1954 beantragte er die Knappschaftsrente alten Rechts. Die Beklagte lehnte den Antrag ab, weil der Kläger noch gleichartige und wirtschaftlich gleichwertige Tätigkeiten unter und über Tage verrichten könne. Der Widerspruch wurde zurückgewiesen. Das Sozialgericht (SG) verurteilte die Beklagte, dem Kläger vom 1. Mai 1954 an Knappschaftsrente zu gewähren. Das Landessozialgericht (LSG) wies die Berufung der Beklagten zurück, nachdem diese Berufsunfähigkeit bis Januar 1955 anerkannt hatte. Zur Begründung führte es aus, der Kläger sei berufsunfähig, weil er seine Tätigkeit als Hauer nicht mehr ausüben könne und eine Verweisung auf andere Untertagetätigkeiten oder die einem Hauer gleichartigen Übertagetätigkeiten eines Reservefördermaschinisten oder eines ersten Anschlägers nicht in Betracht komme. Prof. Dr. J habe die Auffassung vertreten, vom augenärztlichen Standpunkt aus sei nichts gegen die Beschäftigung eines Einäugigen unter Tage einzuwenden; ein solcher Versicherter könne aber nicht zu dieser Tätigkeit gezwungen werden, ihm müsse die letzte Entscheidung selbst überlassen bleiben. Die Verweisung auf eine bestimmte Tätigkeit bedeute, daß dem Versicherten Solche Arbeiten nach dem Urteil des Sachverständigen und des Gerichts ohne Bedenken zugemutet werden können; die Verweisung könne aber nur erfolgen, wenn der Sachverständige und das Gericht bereit seien, die Verantwortung dafür zu übernehmen, den Versicherten zur Aufnahme einer bestimmten Arbeit "zu zwingen", weil ihm sonst der Rentenanspruch versagt würde. Die Vernehmung des Sachverständigen Dr. S habe eindeutig ergeben, daß ein Einäugiger zur Verrichtung von Untertagearbeiten objektiv in der Lage sei, jedoch könne ein einäugig gewordener Bergmann durchaus in eine solche psychische Situation geraten, daß ihm die Aufnahme der Tätigkeit unter Tage unmöglich erscheine. Dabei sei zu beachten, daß der Kläger durch den Verlust eines Auges unsicher geworden sei und in dieser Situation weder sich noch gegebenenfalls andere Mitarbeiter durch reaktionsschnelles, zweckgerichtetes Handeln vor Unfällen zu schützen vermöge. Es wäre deshalb unverantwortlich, einen derartig unsicher gewordenen Versicherten im Untertagebetrieb einzusetzen. Dies würde dem Sicherheitsgedanken widersprechen, den die Bergaufsichtsbehörde in den Vordergrund ihrer Aufgaben stellen müsse. Zwar gelte das Verbot der Beschäftigung Einäugiger unter Tage nur für die erstmalige Anlegung; es erscheine aber einleuchtend, den durch die Ausschaltung des linken Auges unsicher gewordenen Kläger vom Standpunkt der Unfallgefährdung einem erstmalig in einem Bergwerk Beschäftigten gleichzuerachten. Tätigkeiten als Sprengstoffausgeber und Pumpenwärter unter Tage kämen nicht infrage, weil diese Beschäftigungen normalerweise von ausgedienten, auf diesem Gebiet bisher tätig gewesenen Arbeitern besetzt würden.

Der Kläger sei auch, objektiv gesehen, für die Tätigkeit eines ersten Anschlägers oder Reservemaschinisten geeignet, jedoch schließe Einäugigkeit den Einsatz als Fördermaschinisten nach bergbehördlichen Vorschriften aus. Ein erster Anschläger müsse sehr umsichtig sein, er müsse aufgenommene akustische und optische Signale an die Fördermaschine weitergeben; diese Umsicht besitze aber der Kläger nach Auffassung des Sachverständigen nicht. Revision wurde zugelassen.

Die Beklagte legte gegen das Urteil Revision ein.

Sie rügt Verletzung der §§ 103, 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) sowie des § 35 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) aF: Der Kläger sei objektiv in der Lage, Untertagearbeiten auszuführen. Bei der Anwendung des § 35 RKG aF komme es nur auf den objektiven Krankheitsbefund, nicht aber auf subjektive Momente wie die Meinung des Versicherten an, weil anderenfalls die Rentengewährung nicht mehr von der objektiven Leistungsfähigkeit, sondern von der Einstellung des Rentenbewerbers und seinem Willen abhängig wäre. Wenn nach den Richtlinien des Oberbergamts Dortmund Einäugigkeit die Anlegung in der Grube ausschließe, so sei dafür maßgebend, daß eine Person, die mit den besonderen Bedingungen des Untertagebetriebs noch nicht vertraut sei, einer erhöhten Gefahr ausgesetzt ist. Diese Gefahr sei aber nicht mehr so groß, wenn ein mehrere Jahre im Bergbau beschäftigter Versicherter, der die besonderen Bedingungen des Untertagebetriebes kenne, die Sehkraft auf einem Auge verliere. Es beständen auch keine Bedenken, daß der Kläger unter Tage eine Brille trage. Das LSG habe nicht die Frage geprüft, ob die vom Kläger geäußerte Unsicherheit etwa die Folge einer seelischen Fehlhaltung und deshalb eine Krankheit im Sinne des § 35 RKG aF sei; zu diesen Ermittlungen hätte es sich aber gedrängt fühlen müssen.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile des LSG Nordrhein-Westfalen vom 12. Mai 1961 und des SG Münster vom 20. März 1959 aufzuheben und die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

II.

Die nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthafte Revision ist zulässig, konnte aber keinen Erfolg haben.

Nach § 35 RKG aF ist berufsunfähig der versicherte Arbeiter, der infolge von Krankheit oder anderer Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte weder imstande ist, die von ihm bisher verrichtete knappschaftliche Tätigkeit noch andere, im wesentlichen gleichartige und wirtschaftlich gleichwertige Tätigkeiten von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten in knappschaftlich versicherten Betrieben auszuüben. Wie das LSG, von der Revision nicht angegriffen, festgestellt hat, kann der Kläger seine Arbeit als Hauer nicht mehr verrichten. Er kann aber auch keine gleichartigen und wirtschaftlich gleichwertigen Tätigkeiten anderer Art mehr ausüben. Zunächst scheidet eine Beschäftigung unter Tage aus. Zwar hat das LSG festgestellt, daß der Kläger trotz seiner Einäugigkeit objektiv noch unter Tage beschäftigt werden kann. Jedoch lassen die besonderen Verhältnisse des Klägers eine solche Verweisung nicht zu. Denn die Weigerung des Klägers, unter Tage zu arbeiten, ist bei vernünftiger Würdigung der gesamten Umstände berechtigt. Es kommt zwar grundsätzlich bei der Prüfung, ob jemand noch eine bestimmte Tätigkeit ausüben kann, nicht auf subjektive Vorstellungen und Auffassungen des Betreffenden, sondern auf den objektiven Sachverhalt an. Doch ist im vorliegenden Fall zu beachten, daß die Weigerung des Klägers sich aus objektiven, auch von den Sachverständigen anerkannten Gründen erklärt. Der Kläger fühlt sich infolge der fast völligen Erblindung eines Auges durch das einäugige Sehen unsicher, und diese Unsicherheit hat zur Folge, daß er unter Tage bei ungewöhnlichen Ereignissen nicht mehr so schnell reagiert oder zu reagieren befürchtet, wie dies unter Umständen die jeweiligen Situationen erfordern. Jemand, der nur auf einem Auge sieht, darf nach den maßgebenden bergpolizeilichen Anordnungen nicht für eine Untertagetätigkeit angelegt werden, obwohl sich hier einwenden ließe, daß er ja schon an ein einäugiges Sehen gewöhnt sei. Für jemand, der erst im Laufe seiner Untertagetätigkeit auf einem Auge erblindet, fehlt eine entsprechende Anordnung. Zwar läßt sich hier sagen, daß der Betreffende auf Grund seiner früheren Tätigkeit die Verhältnisse unter Tage schon kennt, aber er muß sich auch an ein einäugiges Sehen gewöhnen, das nicht für alle Tätigkeiten ausreichend ist. Dabei ist ferner von Bedeutung, daß die Beleuchtungsverhältnisse unter Tage anders sind als über Tage; der Vergleich mit einem einäugigen Kraftfahrer ist daher nicht zulässig. Weiter ist zu beachten, daß die Erblindung plötzlich (durch einen Unfall) und nicht allmählich eingetreten ist, so daß sich also der Kläger nicht nach und nach an die Beeinträchtigung des Sehvermögens und an die dadurch bedingten Arbeitsverhältnisse unter Tage anpassen konnte. Hinzu kommt noch, daß ein Einäugiger der erhöhten Gefahr einer völligen Erblindung ausgesetzt ist. Auch ist bei ihm die Gefährdung durch Staubeinwirkung größer. Schließlich muß noch die Beeinträchtigung hinzugerechnet werden, die durch das Tragen eines Mattglases entsteht. Daher ist nicht nur subjektiv, sondern auch objektiv die Annahme gerechtfertigt, daß der Kläger den Anforderungen überraschender Situationen unter Tage nicht gewachsen ist und damit sich und andere gefährdet.

Diese Auffassung des Senats steht auch mit anderen Urteilen des Bundessozialgerichts (BSG) zu ähnlichen Fragen in Einklang. In BSG 8, 209 hat der 11. Senat ausgesprochen, daß auch seelische Begleiterscheinungen einer Wehrdienstbeschädigung bei der Höhe der Erwerbsminderung zu berücksichtigen sind. Weiter wird auf das Urteil des gleichen Senats vom 20. Juli 1959 und auf das Urteil des 9. Senats vom 3. November 1959 (SozR BVG § 1 Nr. 35 und Nr. 40) verwiesen, wonach auch neurotische und psychogene Reaktionen als Folge des Wehrdienstes anzusehen sind. In derartigen Fällen ist bei Bemessung der Auswirkungen und damit für die Höhe der Erwerbsminderung nicht auf die normale Reaktion eines Menschen mit durchschnittlicher Empfindlichkeit, sondern auf die konkrete Reaktion des Betroffenen abzuheben, wobei allerdings wunschbedingte Vorstellungen oder Begehrensvorstellungen, die auf Willensschwäche beruhen, außer Betracht zu bleiben haben. Letzteres scheidet aber nach dem vom LSG festgestellten Sachverhalt aus, so daß die Weigerung des Klägers, noch unter Tage zu arbeiten, nach den gesamten Umständen berechtigt ist. Damit scheidet aber eine Verweisung des Klägers auf gleichartige Tätigkeiten unter Tage aus.

Auch auf die gleichartige Tätigkeit eines ersten Anschlägers oder Reservefördermaschinisten über Tage kann der Kläger nicht verwiesen werden, wie das LSG ohne Rechtsirrtum festgestellt hat. Auch hier wäre die objektive Fähigkeit des Klägers zu bejahen, jedoch scheitert der Einsatz als Reservefördermaschinist an bergbehördlichen Vorschriften, die Verwendung als erster Anschläger über Tage an der fehlenden Umsicht des Klägers, die Signaleinrichtungen zu bedienen und aufgenommene akustische und optische Signale an die Fördermaschine weiterzugeben.

Da somit der Kläger berufsunfähig im Sinne des § 35 RKG aF ist, muß die Revision zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2325482

BSGE, 241

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