Leitsatz (redaktionell)
Als Facharbeitertätigkeit kann die Ausübung eines Berufes, der im allgemeinen von ungelernten Arbeitern verrichtet wird und verrichtet werden kann, nur dann bewertet werden, wenn der Versicherte in dem neuen Beruf nicht nur die als Facharbeiter erworbenen Kenntnisse und Erfahrungen in erheblichem Umfang verwerten kann, sondern sie auch tatsächlich verwertet; wenn er also nach den Tätigkeitsmerkmalen seiner neuen beruflichen Arbeit nicht die Tätigkeit eines ungelernten Arbeiters, sondern die eines gelernten Arbeiters verrichtet. Zur Prüfung der Berufsunfähigkeit bei einem Postomnibusfahrer, der den Beruf eines Maschinenschlossers und Eisendrehers erlernt hat.
Orientierungssatz
Zur Frage der Berufsunfähigkeit eines "Postomnibusfahrers".
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 11. Dezember 1963 mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Der Kläger begehrt Rente wegen Berufsunfähigkeit. Streitig ist, ob er berufsunfähig im Sinne des § 1246 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) ist.
Der im Jahre 1904 geborene Kläger erlernte den Beruf des Maschinenschlossers und Eisendrehers, legte im November 1926 die Gesellenprüfung ab und übte seinen erlernten Beruf bis 1927 aus. Alsdann war er als Kraftfahrer tätig. Im Mai 1929 wurde er bei der Post als Postomnibusfahrer eingestellt. Nach den damals geltenden Laufbahnvorschriften der Post wurde neben dem Nachweis der Fahrtüchtigkeit eine abgeschlossene Lehre in einem artverwandten Beruf als Einstellungsbedingung gefordert. Im Jahre 1942 wurde der Kläger in das Beamtenverhältnis übernommen.
Den im August 1961 gestellten Antrag des Klägers, ihm Versichertenrente zu gewähren, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 29. September 1961 ab. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 20. Februar 1962), weil der Kläger gelernter Schlosser und Dreher sei und in diesem Beruf noch in ausreichendem Umfang arbeiten könne. Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung des Klägers das Urteil des SG und den Bescheid der Beklagten aufgehoben und diese verurteilt, dem Kläger Rente wegen Berufsunfähigkeit ab 1. August 1961 zu gewähren; es hat die Revision zugelassen. Das LSG hat angenommen, der Kläger sei gelernter Postomnibusfahrer, weil er in diesem neuen Beruf die Kenntnisse und Erfahrungen, die er als Schlosserlehrling und Schlossergeselle erworben gehabt habe, verwertet habe. Diesen Beruf könne er infolge von Krankheiten nicht mehr ausüben. Dem ursprünglich erlernten Schlosserberuf sei er entfremdet. Auf ungelernte Tätigkeiten könne er nicht verwiesen werden. Der Kläger sei deshalb als berufsunfähig anzusehen.
Gegen das Urteil hat die Beklagte Revision eingelegt, mit der sie unrichtige Anwendung des § 1246 Abs. 2 RVO rügt; außerdem rügt sie Verletzung des § 128 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Sie beantragt sinngemäß, das Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 11. Dezember 1963 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Koblenz vom 20. Februar 1962 zurückzuweisen.
Der Kläger, der die angefochtene Entscheidung für zutreffend hält, beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II
Die Revision der Beklagten ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.
Soweit die Revision rügt, das LSG habe in seinem Verfahren gegen die Vorschrift des § 128 Abs. 1 SGG verstoßen, greift ihre Rüge nicht durch. Nach dieser Vorschrift entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind. Diese Bestimmung bezieht sich lediglich auf die Feststellung der Tatsachen, also des Sachverhalts, den das Gericht bei seiner Entscheidung der rechtlichen Würdigung zugrunde gelegt hat; sie ist nur dann verletzt, wenn die Tatsachen, die das Gericht als festgestellt angesehen hat, deshalb fehlerhaft sind, weil das Gericht die Grenzen seines Rechts der freien Beweiswürdigung überschritten hat. Daß die in dem angefochtenen Urteil festgestellten Tatsachen in dieser Weise fehlerhaft sind, hat die Revision nicht gerügt; sie hat sich nur darauf berufen, daß die "rechtliche Würdigung des Sachverhaltes" gegen die Denkgesetze verstoße. Sie rügt also in Wirklichkeit die rechtliche Beurteilung durch das LSG, nicht aber eine Verletzung des § 128 Abs. 1 SGG.
In sachlicher Hinsicht ist unter den Beteiligten nur streitig, ob für den vom Kläger erhobenen Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit die Voraussetzungen des § 1246 Abs. 1 RVO auch insoweit erfüllt sind, daß der Kläger berufsunfähig im Sinne des § 1246 Abs. 2 RVO ist. Dabei geht es auch nur darum, welche Tätigkeiten dem Kläger unter Berücksichtigung seines bisherigen Berufes zuzumuten sind.
Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten zu beurteilen ist, umfaßt nach § 1246 Abs. 2 RVO alle Tätigkeiten, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufes und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Als bisheriger Beruf kommt, wie das LSG zutreffend angenommen hat, nur die vom Kläger zuletzt seit 1929 ausgeübte Berufstätigkeit als Postomnibusfahrer in Betracht.
Mit Recht wendet die Revision sich gegen die Auffassung des LSG, der Kläger sei "gelernter Postomnibusfahrer" und deshalb Facharbeiter gewesen. Den anerkannten Lehrberuf eines "gelernten Postomnibusfahrers" gibt es ebensowenig wie den des Kraftfahrers. Hierauf hat das LSG selbst hingewiesen. Der Kläger ist als Postomnibusfahrer in die Gruppe der gelernten Arbeiter - Facharbeiter - nicht schon deshalb einzuordnen, weil bei seiner Einstellung durch die Post die abgeschlossene Lehre eines artverwandten Berufes vorausgesetzt worden ist und weil er in diesem Beruf die Kenntnisse und Erfahrungen, die er als Schlosserlehrling und Schlossergeselle erworben hatte, verwertet hat. Auch bleibt ein Facharbeiter, der in einem anderen Beruf, der im allgemeinen von ungelernten Arbeitern ausgeübt wird, hinüberwechselt, nicht schon dann Facharbeiter - und zwar nunmehr des neuen Berufs -, wenn er nur deshalb eingestellt worden ist und beschäftigt wird, weil er gelernter Arbeiter ist um in dem neuen Beruf auch die als Facharbeiter erworbenen Kenntnisse und Erfahrungen in erheblichem Umfang verwerten kann. Als Facharbeitertätigkeit kann die Ausübung eines Berufes, der im allgemeinen von ungelernten Arbeitern verrichtet wird und verrichtet werden kann, nur dann bewertet werden, wenn der Versicherte in dem neuen Beruf nicht nur die als Facharbeiter erworbenen Kenntnisse und Erfahrungen in erheblichem Umfang verwerten kann, sondern sie auch tatsächlich verwertet; wenn er also nach den Tätigkeitsmerkmalen seiner neuen beruflichen Arbeit nicht die Tätigkeit eines ungelernten Arbeiters, sondern die eines gelernten Arbeiters verrichtet. Es kommt also auf die näheren Umstände des einzelnen Beschäftigungsverhältnisses an, insbesondere darauf, ob der Versicherte innerhalb des Betriebes als Facharbeiter eingesetzt worden ist, die Tätigkeiten eines gelernten Arbeiters tatsächlich verrichtet hat und für die Tätigkeiten eines Facharbeiters entlohnt worden ist.
Zu beachten bleibt, daß dem Kläger der besondere Schutz des § 1246 Abs. 2 RVO nicht nur dann zukommt, wenn er als Facharbeiter beschäftigt und für eine solche Tätigkeit entlohnt worden ist, sondern auch dann, wenn er auf Grund der besonderen Gestaltung seines Beschäftigungsverhältnisses wie ein Facharbeiter oder wie ein Arbeiter mit einem anerkannten Anlernberuf - Spezialarbeiter - gearbeitet hat, also tatsächlich die Tätigkeiten eines gelernten Arbeiters oder Spezialarbeiters verrichtet hat und für solche qualifizierte Arbeit entlohnt worden ist; denn nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist ein Versicherter einem Facharbeiter oder Spezialarbeiter gleichzustellen, wenn er wie ein gelernter Arbeiter oder wie ein Spezialarbeiter beschäftigt und entlohnt worden ist (vgl. hierzu die Urteile des Senats vom 28. November 1963, 27. Februar 1964 sowie auch die Entsch. vom 28. Mai 1963 in SozR Nrn. 35, 37 und 32 zu § 1246 RVO).
Die Beurteilung, ob die Berufstätigkeit des Klägers als Postomnibusfahrer als die Tätigkeit eines gelernten Arbeiters in Betracht kommt, hängt somit davon ab, ob er als gelernter Schlosser und Dreher bei seiner Tätigkeit als Postomnibusfahrer die in diesem Beruf erlernten Kenntnisse und Fähigkeiten tatsächlich verwertet hat und deshalb als Postomnibusfahrer mit einem erlernten Handwerk nach den wirklich gegebenen Tätigkeitsmerkmalen dieser Arbeit als Facharbeiter gearbeitet hat und entlohnt worden ist. Dafür, ob die Berufstätigkeit des Klägers als Postomnibusfahrer der Tätigkeit eines gelernten Arbeiters gleichgestellt werden kann, ist von Bedeutung, ob er als Postomnibusfahrer die Tätigkeiten eines gelernten Arbeiters verrichtet hat und für eine Facharbeitertätigkeit entlohnt worden ist oder ob er als Postomnibusfahrer wie andere ungelernte Arbeiter, die den entsprechenden Führerschein besaßen und fahrtüchtig waren, in dem Betrieb als ungelernte Kraft eingeordnet und tätig gewesen und für ungelernte Arbeiten entlohnt worden ist.
Nach den nicht angegriffenen Feststellungen in dem angefochtenen Urteil ist der Kläger infolge der bei ihm bestehenden Gesundheitsstörungen nicht mehr in der Lage, als Postomnibusfahrer oder als Kraftfahrer tätig zu sein. Er ist aber noch fähig, zu ebener Erde leichte bis mittelschwere Arbeiten zu verrichten. Entsprechend der ständigen Rechtsprechung des BSG kann der Kläger, wenn er in seiner letzten Beschäftigung als Postomnibusfahrer die Tätigkeit eines Facharbeiters verrichtet hat, oder wenn er solche Tätigkeiten verrichtet hat, daß er einem Facharbeiter gleichzustellen ist, auf ungelernte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsfeldes grundsätzlich nicht verwiesen werden. Ihm sind aber selbst dann alle Tätigkeiten eines gelernten Arbeiters und eines Arbeiters mit einem anerkannten Anlernberuf zuzumuten, soweit er die dafür erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten besitzt und solche Arbeiten nach dem ihm verbliebenen Leistungsvermögen verrichten kann (Urteil des Senats vom 29. März 1963 in BSG 19, 57 ff = SozR Nr. 26 zu § 1246 RVO). In diesem Rahmen kann der Kläger entgegen der Auffassung des LSG auch auf die Tätigkeiten eines gelernten Schlossers und Drehers, aber ebenso auf jede andere gelernte Berufstätigkeit verwiesen werden. Entscheidend ist allerdings, ob der Kläger nach seinem körperlichen und geistigen Leistungsvermögen derartige Arbeiten noch verrichten kann und ob er die dafür erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten besitzt.
Da das angefochtene Urteil diesen rechtlichen Gesichtspunkten nicht Rechnung trägt, rügt die Revision mit Recht, daß das LSG die Vorschrift des § 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO nicht dem Gesetz entsprechend angewandt hat. Die Revision ist deshalb begründet. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben.
Die tatsächlichen Feststellungen in dem angefochtenen Urteil reichen zu einer Beurteilung, ob der Kläger im Sinne des § 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO berufsunfähig ist, nicht aus. Der Senat kann daher selbst nicht entscheiden. Die Sache ist deshalb zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Das LSG wird für seine erneute Entscheidung festzustellen haben, welche Tätigkeiten der Kläger bei seiner Beschäftigung als Postomnibusfahrer tatsächlich verrichtet hat, ob er hierbei seine Kenntnisse und Fähigkeiten als gelernter Schlosser und Dreher zu verwerten hatte und auch wirklich verwertet hat und ob er im Unterschied zu den als ungelernte Arbeiter beschäftigten Postomnibusfahrern wie ein gelernter Arbeiter in den Betrieb eingeordnet und tätig gewesen ist sowie für eine Facharbeitertätigkeit entlohnt worden ist. Sodann wird das LSG festzustellen haben, welche Kenntnisse und Fähigkeiten der Kläger als gelernter Schlosser und Dreher besitzt und ob er auf Grund seiner Kenntnisse und Fähigkeiten mit den ihm verbliebenen körperlichen und geistigen Kräften trotz seiner Gesundheitsschäden die Tätigkeiten eines gelernten Arbeiters oder eines Arbeiters mit einem anerkannten Anlernberuf noch verrichten kann, wenn ihm die Tätigkeiten eines ungelernten Arbeiters nicht zuzumuten sind. Für die Beurteilung ob und welche ungelernten Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsfeldes dem Kläger zuzumuten sind, wird das LSG die tatsächlichen Feststellungen auch dafür zu treffen haben, ob die Berufstätigkeit des Postomnibusfahrers als die Tätigkeit eines Arbeiters mit einem anerkannten Anlernberuf zu bewerten oder ob sie einer solchen Tätigkeit gleichzustellen ist.
Die Entscheidung darüber, inwieweit die Beteiligten außergerichtliche Kosten im Revisionsverfahren zu erstatten haben, bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen