Entscheidungsstichwort (Thema)
Gerichtskunde
Leitsatz (redaktionell)
Eine im Urteil erklärte Auffassung, für den Versicherten kämen noch Überwachungs- und Kontrolltätigkeiten sowie Apparatebedienung in Betracht, die mit Gewißheit irgendwo auf dem Arbeitsfeld der Bundesrepublik anzutreffen und mit Sicherheit von Tarifverträgen erfaßt seien, können als Kundgabe einer entsprechenden Gerichtskunde betrachtet werden. Eine solche Gerichtskunde muß zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht werden, damit die Beteiligten selbst sie erkennen und sich zu ihr äußern können.
Normenkette
SGG § 62 Fassung: 1953-09-03, § 128 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 24. April 1978 aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Streitig ist die Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit.
Der 1919 geborene Kläger, von Beruf Stukkateur und Putzer, beantragte nach einem 1974 erlittenen Unfall Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Mit Bescheid vom 21. November 1975 lehnte die Beklagte diesen Antrag mit der Begründung ab, daß der Kläger noch nicht berufsunfähig sei; er könne trotz verminderter Leistungsfähigkeit des verletzten linken Sprunggelenks vorwiegend sitzende Tätigkeiten verrichten.
Klage und Berufung des Klägers sind in den Vorinstanzen ohne Erfolg geblieben. Das Landessozialgerichts (LSG) führt in dem angefochtenen Urteil vom 24. April 1978 aus, wegen der Folgen des vorgenannten und eines weiteren Unfalls 1976 - Einschränkung der Funktion des linken Sprunggelenks - könne der Kläger nicht mehr in seinem Beruf als Stukkateur arbeiten. Für ihn kämen aber noch Überwachungs- und Kontrollarbeiten sowie Apparatebedienung in Betracht, die mit Gewißheit irgendwo auf dem Arbeitsfeld der Bundesrepublik Deutschland anzutreffen und, da sie vorwiegend in der industriellen Produktion anfielen, mit Sicherheit von Tarifverträgen erfaßt seien. Der Kläger sei deshalb noch nicht berufsunfähig.
Diesem Urteil tritt der Kläger mit der zugelassenen Revision entgegen. Er führt aus, weder der 5. noch der 4. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) billige den rigorosen Rechtsstandpunkt des LSG. Die vom LSG vorgenommene generelle und abstrakte Verweisung auf das weite Feld der Revisions- und Überwachungsarbeiten sowie auf mechanisierte Produktionsarbeiten mittels Bedienen von Apparaten reiche zur konkreten Bezeichnung von objektiv und subjektiv zumutbaren Verweisungstätigkeiten nicht aus. Das LSG habe ferner nicht beachtet, daß die im angefochtenen Urteil genannten Revisions- und Überwachungsarbeiten unterschiedlicher Art sein können; die einfacheren von ihnen ragten nach ihrer tariflichen Bewertung häufig nicht in die Gruppe der Arbeiter mit dem Leitberuf des Angelernten hinein, und die höherwertigeren setzten nicht selten eine Ausbildung von mehr als drei Monaten voraus. Die Feststellung des LSG, er, der Kläger, sei für die in Betracht gezogenen Überwachungs- und Kontrollarbeiten geeignet, sei verfahrensfehlerhaft zustande gekommen. Das LSG verschweige, woher es sein Wissen habe. Auf eine etwaige Gerichtskunde hätte das LSG die Beteiligten hinweisen müssen. § 128 Abs 1 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) sei verletzt.
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil, das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 27. April 1977 sowie den Bescheid der Beklagten vom 21. November 1975 aufzuheben und diese zu verurteilen, ihm antragsgemäß Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit zu zahlen,
hilfsweise,
den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Berufungsinstanz zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist im Sinne der Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz begründet.
Nach § 1246 Abs 2 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) ist berufsunfähig ein Versicherter, dessen Erwerbsfähigkeit infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist. Bei der Bestimmung des "Kreises der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit des Versicherten zu beurteilen ist", kommt es nach Satz 2 aaO entscheidend auf dessen "bisherigen Beruf" (= "bisherige Berufstätigkeit") sowie auf dessen "besondere Anforderungen", dh auf seine positiven Merkmale, insgesamt also auf den qualitativen Wert des bisherigen Berufs an (vgl dazu den erkennenden Senat in SozR 2200 § 1246 Nr 29 und die dort in Bezug genommene Rechtsprechung des 4. und des 5. Senats des BSG).
Bisheriger Beruf des Klägers ist, wie das LSG zutreffend angenommen hat, der des Stukkateurs und Putzers. Nur diesen Beruf hat der Kläger nach den nicht angegriffenen und daher für den Senat bindenden Feststellungen (§ 163 SGG) seit 1934 bis zum angeblich Berufsunfähigkeit bedingenden Unfall im Jahre 1974 versicherungspflichtig ausgeübt. Unangegriffen und damit bindend für den Senat hat das LSG weiter festgestellt, daß der Kläger aus gesundheitlichen Gründen seinen bisherigen Beruf nicht mehr ausüben kann. Hiernach ist zu entscheiden, ob der Kläger auch auf berufsfremde Tätigkeiten zumutbar verwiesen und damit Berufsunfähigkeit verneint werden kann. Dies läßt sich mangels ausreichender Feststellungen des LSG nicht abschließend entscheiden.
Nach der übereinstimmenden Rechtsprechung des 1., 4. und 5. Senats des BSG spiegelt die tarifliche Einstufung die Bewertung des Berufs durch die unmittelbar am Arbeitsleben teilnehmenden Bevölkerungskreise (Tarifpartner), also den betrieblichen Stellenwert einer bestimmten Berufstätigkeit noch am zuverlässigsten wider. Die tarifliche Einstufung ist daher ein geeignetes Hilfsmittel, die Qualität des bisherigen Berufs und damit die Breite der nach § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO "zumutbaren" Verweisung des Versicherten auf eine andere Tätigkeit zu ermitteln. Dabei ist davon auszugehen, daß sich in der Berufswelt, bezogen auf die tarifliche Bewertung, mehrere Gruppen von Arbeiterberufen auffinden lassen, die durch Leitberufe, nämlich den des Vorarbeiters mit Leistungsfunktion, des Facharbeiters, des angelernten Arbeiters und schließlich des Ungelernten charakterisiert werden. Zumutbar im Sinne von § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO sind dem Versicherten, der nach seinem bisherigen Beruf einer dieser Gruppe zuzuordnen ist, jeweils (nur) die Tätigkeiten der nächstunteren Gruppe, soweit sie "seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen", dh ihn weder nach seinem beruflichen Wissen und Können, noch bezüglich seiner gesundheitlichen Kräfte überfordern (vgl zB BSGE 43, 243 = SozR 2200 § 1246 Nr 16; BSGE 44, 288 = SozR 2200 § 1246 Nr 23; BSG SozR 2200 § 1246 Nr 16, 21, 23, 26, 27, 29). Demnach sind dem Kläger als ehemaligen Facharbeiter alle Tätigkeiten zumutbar, die nach ihrer tariflichen Bewertung in die Gruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters oder des angelernten Arbeiters fallen, vorausgesetzt, daß sie der Kläger nach seinem beruflichen Können und seinen gesundheitlichen Kräften noch verrichten kann.
Das LSG hat den Kläger auf "Überwachungs- und Kontrolltätigkeiten sowie Apparatebedienung" verwiesen und ausgeführt, solche Arbeiten mit dem Tariflohn mindestens eines Angelernten seien "mit Gewißheit" selbst dann "irgendwo auf dem Arbeitsmarkt der Bundesrepublik Deutschland anzutreffen", wenn die Nachforschung in einzelnen Tarifverträgen ergebnislos geblieben sein solle. An diese tatsächlichen Feststellungen ist der Senat indessen nicht gebunden, weil sie der Kläger erfolgreich mit Verfahrensrügen angegriffen hat (§§ 163, 164 Abs 2 Satz 3 SGG).
Das LSG hat seine Feststellung allein darauf gestützt, daß es sich hierbei um eine "bereits bekannte Tatsache" handele, hinsichtlich derer "Gewißheit" bestehe. Da diese Bekanntheit und Gewißheit nach Auffassung des LSG jede Beweisaufnahme erübrigt, scheint es anzunehmen, daß es sich insoweit um eine gerichtskundige, wenn nicht gar um eine allgemeinkundige Tatsache handelt. Da zB der erkennende Senat über keine entsprechende Kenntnis verfügt, kann die Tatsache nicht allgemeinkundig sein. Was in bezug auf eine bestimmte Tatsache die Gerichtskundigkeit betrifft, so muß diese nach der ständigen Rechtsprechung des BSG zum Gegenstand der Verhandlung gemacht werden, damit die Beteiligten sie erkennen und sich zu ihr äußern können. Geschieht dies nicht, liegt eine Verletzung des Anspruchs der Beteiligten auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 des Grundgesetzes - GG -, § 62 SGG) und zugleich des § 128 Abs 2 SGG vor (vgl zB BSGE 22, 19 = SozR Nr 70 zu § 128; BSG SozR Nr 91 zu § 128 SGG; BSG SozR 1500 § 62 Nrn 2 und 3; Entscheidung des erkennenden Senats vom 14. Dezember 1978 - 1 RJ 72/78). Da weder dem angefochtenen Urteil noch den Berufungsakten zu entnehmen ist, daß das LSG seine Gerichtskunde zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht hat, ist der Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör verletzt. Auf diesem Verfahrensmangel beruht auch das angefochtene Urteil, weil sich nicht ausschließen läßt, daß es bei einwandfreier Verfahrensweise anders ausgefallen wäre.
Dringt aber der Kläger mit seiner Verfahrensrüge durch, dann fehlen in bezug auf die Frage der Verweisbarkeit des Klägers bereits die grundlegenden tatsächlichen Feststellungen. Das Urteil des LSG war daher mit den zugrundeliegenden verfahrensfehlerhaften Feststellungen aufzuheben und an die Vorinstanz zurückzuverweisen, damit diese verfahrensfehlerfrei die erforderlichen Feststellungen treffen kann (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
Bei seiner neuen Entscheidung wird das LSG nicht umhin können, entsprechend der oben angeführten BSG-Rechtsprechung vorzugehen. Insbesondere wird es auf die Heranziehung von Tarifverträgen nicht verzichten können; dem Urteil des LSG ist nicht zu entnehmen, wieso dies "unzumutbar" sein sollte. Das LSG kann sich nach der vorzitierten Rechtsprechung darauf beschränken, die Tarifverträge desselben Tarifbezirks heranzuziehen, und unter diesen auch nur diejenigen, die wegen der großen Zahl der von ihnen erfaßten Arbeitnehmer für den Tarifbezirk repräsentativ sind (vgl insbesondere BSGE 43, 243 = SozR 2200 § 1246 Nr 16; BSG SozR 2200 § 1246 Nr 23; der erkennende Senat in SozR 2200 § 1246 Nr 29). Aus der angeführten Rechtsprechung folgt weiter, daß entgegen der Ansicht des LSG für eine Verweisung in Betracht kommende Tätigkeiten grundsätzlich konkret zu prüfen und zu benennen sind; dies haben der 4. Senat des BSG in seiner Entscheidung SozR 2200 § 1246 Nr 30 und der 5. Senat im Urteil vom 28. November 1978 (5 RKn 10/77) noch besonders herausgestellt. Was die Verweisung eines Facharbeiters auf sogenannte leichte Prüf- und Kontrollarbeiten sowie auf die Bedienung von Apparaturen betrifft, wird das LSG in Betracht zu ziehen haben, daß eine Verweisung auf Tätigkeiten ausscheidet, die eine längere als drei Monate dauernde Anlernung verlangen (vgl BSG SozR Nr 40 zu § 45 RKG, Urteil des BSG vom 31. Mai 1978 - 5 RJ 28/77; Entscheidung des erkennenden Senats vom 30. Mai 1978 - 1/5 RJ 104/77).
Nach allem war zu entscheiden wie geschehen und der Ausspruch im Kostenpunkt der abschließenden Entscheidung in der Sache vorzubehalten.
Fundstellen