Entscheidungsstichwort (Thema)

Verschlimmerung des Gesundheitszustandes

 

Orientierungssatz

Lehnt das LSG angesichts des Entlassungsberichts einer Klinik eine sich aufdrängende weitere Sachaufklärung mit dem Hinweis ab, es bedürfe der beantragten weiteren Beweiserhebung nicht, weil durch frühere Gutachten sowohl der Gesundheitszustand als auch das Leistungsvermögen des Klägers geklärt sei, verletzt es seine Aufklärungspflicht gemäß § 103 SGG, wenn Feststellungen zu den Fragen fehlen, ob es sich seitens des Entlassungsberichts nur um eine anderweitige medizinische Beurteilung des gleichen Sachverhalts gehandelt habe, die ihm aus näher darzulegenden Gründen nicht überzeugend erschienen oder ob es sich um eine Verschlimmerung des Gesundheitszustandes handelte.

 

Normenkette

SGG § 103 S 1

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 06.06.1984; Aktenzeichen L 2 J 1940/81)

SG Mannheim (Entscheidung vom 30.04.1981; Aktenzeichen S 3 J 527/79)

 

Tatbestand

Die 1928 geborene Klägerin, eine jugoslawische Staatsangehörige, hat in Jugoslawien als Fabrikarbeiterin und Köchin und in der Bundesrepublik Deutschland als Fabrikarbeiterin und als Küchenhilfe bis zum August 1976 gearbeitet. Ihren im gleichen Monat gestellten Rentenantrag lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 27. Januar 1978 mit der Begründung ab, die Klägerin könne nach der medizinischen Beurteilung noch leichte Frauenarbeiten im Sitzen in gut temperierten Räumen ohne Schicht- und Nachtarbeit, ohne besonderen Zeitdruck und ohne überwiegend einseitige Körperhaltung vollschichtig verrichten. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 6. Februar 1979).

Im Klageverfahren hat das Sozialgericht (SG) Mannheim ein orthopädisches Gutachten des Dr. Sch. vom 11. Juli 1979 mit internistischem Zusatzgutachten des Dr. H. vom 3. August 1979, sodann auf Antrag der Klägerin das Gutachten des Urologen Dr. M. vom 29. September 1980 und des Orthopäden Dr. K. vom 29. Oktober 1980 sowie von Amts wegen das orthopädische Gutachten des Prof. Dr. R. vom 17. Februar 1981 eingeholt. Mit Urteil vom 30. April 1981 hat es die Klage abgewiesen und sich der mit der Beurteilung der Beklagten übereinstimmenden Beurteilung der Sachverständigen angeschlossen.

Im Berufungsverfahren hat das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg Auskünfte der behandelnden Ärzte der Klägerin aus dem Frühjahr 1982 und sodann ein innerfachärztliches Gutachten des Prof. Dr. W. vom 16. August 1982 mit nervenärztlichem Zusatzgutachten des Dr. K. vom 30. Juni 1982 sowie mit chirurgischem Zusatzgutachten des Dr. U. vom 15. Juli 1982 eingeholt. Nach Auskünften der behandelnden Ärzte aus der Zeit von November 1982 bis Februar 1983 hat das LSG noch das chirurgische Gutachten des Dr. U. vom 21. März 1983 und einen ärztlichen Befundbericht des Neurologen und Psychiaters Dr. K. vom 16. Juni 1983 eingeholt. Durch Urteil vom 6. Juni 1984 hat es die Berufung der Klägerin zurückgewiesen, weil die Klägerin, wenn auch unter gewissen Einschränkungen, noch vollschichtig leichte ungelernte Frauenarbeiten verrichten könne. Den Antrag der Klägerin, den Orthopäden Dr. R., die Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. G. und die Praktische Ärztin Dr. K. als sachverständige Zeugen zu hören und weitere ärztliche Sachverständige zuzuziehen hat das LSG mit der Begründung abgelehnt, durch die bereits vorliegenden Gutachten auf innerfachärztlichem, nervenärztlichem und orthopädisch-chirurgischem Fachgebiet seien Gesundheitszustand und Leistungsvermögen der Klägerin hinreichend geklärt.

Die Klägerin macht zur Begründung der vom Senat zugelassenen Revision in erster Linie eine Verletzung des § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) geltend. Aber auch die §§ 62 und 128 SGG wie Art 103 Abs 1 des Grundgesetzes (GG) seien verletzt.

Die Klägerin beantragt, die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 27. Januar 1978 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Februar 1979 sowie der Urteile des Sozialgerichts Mannheim vom 30. April 1981 und des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 6. Juni 1984 zu verurteilen, ihr für die Zeit ab 9. August 1977 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit, hilfsweise Übergangsgeld zu gewähren.

Die Beklagte hat sich zur Revision nicht geäußert.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs 2 SGG einverstanden.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist iS der Aufhebung des angefochtenen Urteils und der Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz begründet.

Das LSG hat - wie mit der Revision zutreffend gerügt wird - die ihm nach § 103 SGG obliegende Sachaufklärungspflicht verletzt. Nach dieser Bestimmung hat das Gericht den Sachverhalt ohne Bindung an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten zu erforschen. Für die Frage, ob das LSG diese Pflicht erfüllt oder § 103 SGG verletzt hat, kommt es darauf an, ob der Sachverhalt, wie er dem LSG zur Zeit der Urteilsfällung bekannt gewesen ist, von dessen sachlich-rechtlichem Standpunkt aus zur Entscheidung des Rechtsstreits ausreichte oder ob er das LSG zu weiteren Ermittlungen hätte drängen müssen (BSG SozR Nrn 7 und 40 zu § 103 SGG).

Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, daß es für die Feststellung der Voraussetzungen der Berufs- bzw Erwerbsunfähigkeit auf das Ergebnis des Berufungsverfahrens für die Zeit ab Antragstellung und damit auf die Leistungsfähigkeit der Klägerin bis zum Zeitpunkt der Urteilsfällung ankommt. Es hat nämlich im Berufungsverfahren umfangreiche Ermittlungen hierzu angestellt. Das LSG hat jedoch übersehen, daß die seinem Urteil zugrunde gelegten ärztlichen Gutachten überwiegend aus dem Jahre 1982 und der Zeit davor stammen. Jedenfalls sind die Gutachten, auf die sich das LSG zur Ablehnung der beantragten weiteren Beweiserhebungen gestützt hat, in den Jahren 1981 und 1982 erstattet worden. Dem LSG war aber, wie es im Tatbestand des angefochtenen Urteils wiedergegeben hat, bekannt, daß die Klägerin in der Zeit vom 27. September bis zum 25. Oktober 1983 in stationärer Heilbehandlung der LVA B. gestanden hatte und aus dieser als arbeitsunfähig entlassen worden war. Dem LSG war auch der Entlassungsbericht der D.-Klinik vom 25. Oktober 1983 über diese stationäre Heilbehandlung bekannt. Aus diesem unter Beteiligung einer Fachärztin für Neurologie und Psychotherapie erstellten Bericht ging hervor, daß die Klägerin aus der stationären Behandlung als arbeitsunfähig entlassen worden war und daß es ärztlich wegen der bei ihr festgestellten "ganz ausschlaggebenden Depression" nicht für wahrscheinlich gehalten wurde, sie wieder in einen Arbeitsprozeß eingliedern zu können. Diese fachärztliche Beurteilung erfolgte mehr als ein Jahr nach der letzten neurologisch-psychiatrischen Begutachtung der Klägerin durch Dr. K. im nervenärztlichen Zusatzgutachten vom 30. Juni 1982 und wich davon deutlich ab.

Das LSG mußte bei diesem Beweisergebnis der Frage nachgehen, worauf die abweichende Beurteilung beruhte. Dabei konnte sich ergeben, daß es sich nur um eine abweichende Beurteilung unveränderter Befunde handelte. In diesem Fall hätte es dem LSG freigestanden, der Beurteilung des Dr. K. oder derjenigen der D.-Klinik zu folgen und darzulegen, aus welchem Grunde ihm die eine oder die andere Beurteilung überzeugender erschien. Es konnte sich aber auch ergeben, daß seit der Beurteilung durch Dr. K. eine Verschlimmerung des Zustandes der Klägerin auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet eingetreten war. In diesem Falle hatte das LSG Anlaß, sich mit der Beurteilung der D.-Klinik auseinanderzusetzen und entweder dieser Beurteilung zu folgen oder aber - bei Zweifeln an ihrer Zuverlässigkeit - eine medizinische Klärung der ihm zweifelhaft erscheinenden Punkte in dieser Beurteilung herbeizuführen, wie es die Klägerin in ihrem Beweisantrag in der mündlichen Verhandlung sinngemäß auch erbeten hatte.

Keinesfalls durfte das LSG den Beweisantrag der Klägerin und die sich angesichts des Entlassungsberichts der D.-Klinik aufdrängende weitere Sachaufklärung mit dem Hinweis ablehnen, es bedürfe der beantragten weiteren Beweiserhebung nicht, weil durch die in den Jahren 1981 und 1982 erstatteten internistischen, nervenärztlichen und orthopädisch-chirurgischen Gutachten sowohl der Gesundheitszustand der Klägerin als auch deren Leistungsvermögen in überzeugender Weise geklärt sei. Auf diese Gutachten hätte sich das LSG zur Ablehnung des Beweisantrages der Klägerin nur stützen können, wenn es darzulegen vermocht hätte, daß auch die in der D.-Klinik erhobenen Befunde nicht von den Befunden in den genannten Gutachten abwichen, wenn es sich also seitens der D.-Klinik nur um eine anderweitige medizinische Beurteilung des gleichen Sachverhalts gehandelt hätte, die ihm aus den näher darzulegenden Gründen im Vergleich zu den genannten Gutachten nicht überzeugend erschienen. Da jedoch Feststellungen in dieser Richtung ebenso fehlen wie zu der Frage, ob der von der D.-Klinik angenommene Gesundheitszustand der Klägerin eine Verschlimmerung auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet darstellt, ist das LSG der ihm gemäß § 103 SGG obliegenden Sachaufklärungspflicht nicht hinreichend nachgekommen. Sein Urteil muß deshalb aufgehoben und die Sache an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden.

Das LSG wird nunmehr bis zum Zeitpunkt der Urteilsfällung reichende Feststellungen über die gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Klägerin seit der Rentenantragstellung treffen müssen, um eine verläßliche Basis für die Entscheidungen über ihren Anspruch auf Berufs- bzw Erwerbsunfähigkeitsrente zu erhalten. Bei dieser Entscheidung wird das LSG davon ausgehen können, daß es bei den auf das allgemeine Arbeitsfeld verweisbaren Versicherten grundsätzlich nicht der konkreten Benennung zumindest einer Verweisungstätigkeit bedarf. Ausnahmen davon gelten jedoch, wenn der Versicherte selbst leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes nur noch mit vielfältigen oder erheblichen gesundheitlichen Einschränkungen ausführen kann (BSG in SozR 2200 § 1246 Nrn 75, 78, 90, 104, 109 und 117). Namentlich bei der Gruppe der ungelernten Arbeiter ist wegen der selbst für die Tarifpartner bestehenden Unmöglichkeit, die Fülle der nicht durch Ausbildung oder Berufserfahrung qualifizierten Tätigkeiten kurz und charakterisierend zu benennen, das Tatsachengericht der Pflicht zur konkreten Benennung wenigstens einer Verweisungstätigkeit enthoben. Das gilt aber dann nicht, wenn bei dem Versicherten besondere Umstände gegeben sind, die ihn gesundheitlich stärker oder in spezifischer Weise einschränken oder ihm nur die Tätigkeit unter besonderen, unüblichen Arbeitsbedingungen ermöglichen. Es muß sich jedoch um Einschränkungen handeln, die so erheblich sind, daß von vornherein ernste Zweifel daran aufkommen müssen, ob der Versicherte mit dem ihm verbliebenen Leistungsvermögen auch in einem Betrieb einsetzbar ist. Kommt das LSG zu dem Ergebnis, daß bei der Klägerin solche besonderen Einschränkungen ihrer Leistungsfähigkeit vorliegen, bedarf es im Berufungsurteil der Bezeichnung zumindest einer näher bezeichneten Verweisungstätigkeit. Dann allerdings muß das LSG der Klägerin zur Wahrung des Anspruchs auf rechtliches Gehör auch Gelegenheit geben, dazu Stellung zu nehmen, ob sie diese Verweisungstätigkeit nach ihren gesundheitlichen Beeinträchtigungen für zumutbar oder aus welchen Gründen sie sie für nicht zumutbar hält (BSG in SozR 1500 § 62 Nr 11).

Die Kostenentscheidung bleibt dem den Rechtsstreit abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1657670

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