Leitsatz (amtlich)
Einem Vertriebenen, der in den Jahren 1945 und 1946 volksschulpflichtig war, das 14. Lebensjahr nicht vollendet hatte und noch nicht versichert war, kann die pauschale Ersatzzeit des RVO § 1251 Abs 1 Nr 6 nicht angerechnet werden.
Normenkette
RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 6 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 21. Mai 1963 aufgehoben.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt/Main vom 24. Januar 1968 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Der ... 1933 geborene Kläger begehrt als Heimatvertriebener von der Beklagten die Berücksichtigung der Jahre 1945 und 1946 als Ersatzzeit nach § 1251 Abs. 1 Nr. 6 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Er kam im Februar 1946 nach der Ausweisung aus der Tschechoslowakei in das Gebiet der heutigen Bundesrepublik (Land Hessen). Für ihn wurden erstmals zum 1. Mai 1949 Pflichtbeiträge zur Rentenversicherung der Arbeiter entrichtet.
Die Beklagte erkannte eine Ersatzzeit nicht an (Bescheid vom 21. Februar 1967, Widerspruchsbescheid vom 27. Juli 1967). Die Klage ist erfolglos geblieben (Urteil des Sozialgerichts Frankfurt/Main vom 24. Januar 1968). Das Hessische Landessozialgericht (LSG) hat die Beklagte verpflichtet, die Zeit vom 1. Januar 1945 bis zum 31. Dezember 1946 nach § 1251 Abs. 1 Nr. 6 RVO als Ersatzzeit gelten zu lassen (Urteil vom 21. Mai 1968). Zur Begründung hat des LSG ausgeführt: Dem Begehren des Klägers stehe nicht entgegen, daß er während der fraglichen Zeit erst im 12. und 13. Lebensjahre gestanden habe und noch schulpflichtig gewesen sei. Ersatzzeiten seien nicht nur gutzubringen, wenn nach Lage des konkreten Einzelfalles anzunehmen sei, der Versicherte hätte ohne das Vorliegen der in der Vorschrift genannten Voraussetzungen eine versicherungspflichtige Tätigkeit ausgeübt (BSG 23, 89 = SozR Nr. 12 zu § 1251 RVO). Nur wenn aus rechtlichen Gründen eine Versicherung überhaupt unmöglich gewesen sei, scheide die Anrechnung einer Ersatzzeit aus. Der Kläger sei aber in den Jahren 1945 und 1946 zum freiwilligen Eintritt in die Versicherung (Selbstversicherung) berechtigt gewesen (§ 1243 RVO aF); auf den Nachweis der Versicherungsabsicht komme es nicht an.
Mit der zugelassenen Revision rügt die Beklagte die unrichtige Anwendung des § 1251 Abs. 1 Nr. 6 RVO. Eine rechtliche Möglichkeit der Beitragsentrichtung sei nicht zu beachten, wenn hiervon nach allgemeiner Lebenserfahrung kein Gebrauch gemacht worden wäre. Dies treffe für die Kinderarbeit (vor Wegfall der Volksschulpflicht und vor Vollendung des 14. Lebensjahres) und für die Selbstversicherung zu.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er trägt vor: Eine auf den Einzelfall abgestellte Betrachtungsweise sei nach dem Gesetz weder nötig noch möglich. Die bekanntermaßen an ein Mindestalter nicht gebundene Selbstversicherung habe ihm offen gestanden. Das Jugendschutzgesetz habe Kinderarbeit nicht ausgeschlossen. Die Festlegung eines Mindestalters sei willkürlich.
Die Revision der Beklagten ist begründet.
Dem Kläger kann die pauschale Ersatzzeit des § 1251 Abs. 1 Nr. 6 RVO (1. Januar 1945 bis zum 31. Dezember 1946) nicht angerechnet werden. Der Kläger zählt zwar zum Kreis der Vertriebenen. Dennoch ist es nicht gerechtfertigt, ihm die Vertreibungszeit als Versicherungszeit zu bestätigen. Als volksschulpflichtiges Kind, das das 14. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte, hätte er zwar ausnahmsweise während der Ersatzzeit versichert sein können; diese Möglichkeit liegt aber so fern, daß sie außer Betracht bleiben muß.
Ersatzzeiten sind Zeiten ohne Beitragsleistung; sie ersetzen Beitragszeiten. Der Versicherte soll dadurch, daß er den im Gesetz genannten außergewöhnlichen Umständen unterworfen war, keinen rentenversicherungsrechtlichen Schaden erleiden. Unabhängig vom Einzelfall wird unterstellt, daß allein der Ersatzzeittatbestand eine Beitragsleistung verhindert habe. Diese Fiktion des ursächlichen Zusammenhangs beseitigt vor allem Beweisschwierigkeiten. Aus ihr ergeben sich aber auch Vorteile für Personen, die des Schutzes der Rentenversicherung nicht bedürfen. Hat eine Versicherung bei Beginn der Ersatzzeit bestanden (§ 1251 Abs. 2 Satz 1 RVO), so ist die vereinfachende Tatbestandsgestaltung des Gesetzes verständlich. Auch wenn der Versicherungsverlauf gegen eine Beitragsentrichtung während des Bestehens des Aufopferungstatbestandes spricht, läßt sie sich nicht mit Sicherheit ausschließen. Vor allem war aber die Verbindung des Versicherten zur Rentenversicherung - wenn auch gelockert - vorhanden. Schließlich folgt aus der Vorversicherung in aller Regel, daß der Versicherte schon vor der Ersatzzeit im Arbeits- und Berufsleben gestanden hatte, also zu den Arbeitnehmern gehörte, deren Betreuung und Schutz Aufgabe der Rentenversicherung ist. Anders liegt der Fall, wenn die Beziehung zur Rentenversicherung erst nach der Ersatzzeit hergestellt worden ist (§ 1251 Abs. 2 Satz 2 RVO). Die Frist von drei Jahren zwischen der Beendigung der Ersatzzeit und der Aufnahme der rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit begrenzt zwar den Kreis der Berechtigten. Auch bei dieser Grenzziehung können jedoch die Vorteile des Ersatzzeitenrechts solchen Personen zugute kommen, für die in der in Betracht kommenden Zeit nach aller Wahrscheinlichkeit keine Beiträge entrichtet worden wären. Das gilt besonders, wenn der einzelne wegen seines Lebensalters regelmäßig nicht von der Versicherung erfaßt worden wäre. Damit das Gesetz nicht zweckwidrig weit angewendet wird, ist seine einschränkende Auslegung geboten. Der Wille des Gesetzgebers verbietet dies nicht.
Der Regierungsentwurf (§ 1256 RVO) sah die Anrechnung von Ersatzzeiten ohne Vorversicherung - von den Verfolgten des Nationalsozialismus abgesehen - nur in den Fällen des Absatzes 1 Nr. 1, also bei militärischem oder militärähnlichem Dienst vor. Ein solcher Dienst wurde aber in aller Regel nicht vor dem Zeitpunkt geleistet, in dem auch der Eintritt in das Arbeits- und Berufsleben üblich war. Die anderen Ersatzzeiten wurden einbezogen, um "vor allem den Wünschen von Personen Rechnung zu tragen, die in jungen Jahren, insbesondere während und nach dem zweiten Weltkrieg interniert oder verschleppt oder in Sowjetzonenhaft gewesen sind" (BT-Drucks. zu 3080 S. 11). Hieraus ist eine Absicht des Gesetzgebers, auch Kindern die Vorteile des Ersatzzeitenrechts einzuräumen, indessen nicht zu entnehmen. Das gesetzliche Vorbild für diese Regelung (§ 4 Abs. 6 Satz 2 des Gesetzes über die Behandlung der Verfolgten des Nationalsozialismus in der Sozialversicherung - VerfolgtenG -) sah ein Mindestalter von fünfzehn Jahren ausdrücklich vor.
In der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts hat sich außerdem die Auffassung durchgesetzt, daß die Anrechnung von Ersatzzeiten die rechtliche Möglichkeit der Entrichtung gültiger Beiträge voraussetzt (BSG 26, 274, 275). Aber auch diese Einschränkung reicht dann nicht immer zur Verwirklichung der Grundsätze des in den gesetzlichen Tatbeständen stark verkürzt dargestellten Ersatzzeitenrechts aus, wenn die Ersatzzeit vor dem Eintritt in die Versicherung liegt. Deshalb muß auch eine theoretische Versicherungsmöglichkeit außer acht bleiben, wenn sie äußerst selten, d.h. praktisch nie oder so gut wie nie genutzt wurde. Sonst würde ein "Ausgleich" gewährt, wo ein Schaden allenfalls denkbar, aber nicht im geringsten Grade wahrscheinlich ist. Ein echter Schaden ist in Fällen wie dem gegenwärtigen ohnedies nicht anzunehmen, weil der Sachverhalt, der als Ersatzzeit qualifiziert werden soll, bereits abgeschlossen war, bevor der - später - Versicherte das Alter erreichte, in dem man gewöhnlich in das Erwerbsleben eintritt.
Der Kläger war in den Jahren 1945 und 1946 erst elf, zwölf und dreizehn Jahre alt. Er unterlag noch bis zum Ende des Schuljahres 1947/48 der Volksschulpflicht (§§ 2 Abs. 1, 4 Abs. 1 des Reichsschulpflichtgesetzes vom 6. Juli 1938; Hessisches Gesetz über die Verlängerung der allgemeinen Schulpflicht vom 28. März 1947). Nach dem Gesetz über Kinderarbeit und über die Arbeitszeit der Jugendlichen (Jugendschutzgesetz) vom 30. April 1938 war Kinderarbeit grundsätzlich verboten (§ 4 Abs. 1). Volksschulpflichtige Kinder durften vor der Vollendung des 12. Lebensjahres überhaupt nicht, im Alter von zwölf bis vierzehn Jahren nur mit leichten Arbeiten im Handelsgewerbe, mit dem Austragen von Waren, mit anderen Botengängen und mit Handreichungen beim Sport beschäftigt werden (§§ 1 Abs. 2, 5 Abs. 2). Die Arbeitszeit war auf zwei Stunden täglich, während der Ferien auf vier Stunden täglich beschränkt; eine Beschäftigung war vor acht Uhr, vor dem Vormittagsunterricht und nach neunzehn Uhr ohne jede Ausnahme, nach dem Vormittags- oder Nachmittagsunterricht vor Ablauf einer längeren Ruhezeit untersagt; darüber hinaus bestanden weitere Einschränkungen (§ 5 Abs. 3). Für den Kläger hätte sich demnach kein erlaubtes Arbeitsfeld geboten, das mit dem sonst im Arbeits- und Berufsleben üblichen vergleichbar gewesen wäre. Selbst wenn er aber die Möglichkeiten des Jugendschutzgesetzes voll ausgenutzt hätte, wäre seine Tätigkeit vermutlich wegen der Geringfügigkeit des Entgelts versicherungsfrei gewesen. Eine unerlaubte Tätigkeit hätte möglicherweise zur Versicherungspflicht geführt. Dieser Fall kann aber im Rahmen des Ersatzzeitenrechts nicht berücksichtigt werden.
Der Senat brauchte nicht abschließend zu entscheiden, welches Mindestalter für die Anrechnung von Ersatzzeiten zu gelten hat. Vor der Vollendung des 14. Lebensjahres und vor der Beendigung der Volksschulpflicht konnte eine Ersatzzeit jedenfalls zur Zeit der Geltung des Jugendschutzgesetzes nicht zurückgelegt werden. Diese Auffassung lehnt sich an mehrere vergleichbare Hinweise des Gesetzes auf ein Mindestalter an (Vollendung des 14., 15. und 16. Lebensjahres; § 8 Abs. 2 der Versicherungsunterlagenverordnung, § 4 Abs. 6 Satz 2 VerfolgtenG , § 1259 Abs. 1 Nr. 4 RVO aF und nF, § 16 des Fremdrentengesetzes). Die Betrachtungsweise des Senats ist auch nicht auf den Einzelfall abgestellt. Vielmehr kann gerade ein genereller Ausschluß des Kindesalters von dem materiell nicht gerechtfertigten Vorteil der Anrechnung von Ersatzzeiten klare Verhältnisse schaffen und die Verwaltungstätigkeit der Versicherungsträger wesentlich erleichtern.
Die gleichen und ähnliche Überlegungen gelten für die Selbstversicherung (§ 1243 RVO aF), zu der der Kläger theoretisch berechtigt gewesen sein mag (vgl. BSG 3, 201 = SozR Nr. 1 zu § 1243 RVO aF). Hinzu kommt, daß derselbe Gesetzgeber, der die pauschale Ersatzzeit für Personen im Sinne der §§ 1 bis 4 des Bundesvertriebenengesetzes geschaffen hat, die Selbstversicherung beseitigte. Daß er gleichwohl dieses Rechtsinstitut im Zusammenhang mit der Ersatzzeitenregelung habe begünstigen wollen, und dies zudem bloß in Fällen, in denen eine Selbstversicherung lediglich hypothetisch in Betracht zu ziehen wäre, ist ohne weiteres zu verneinen.
Zu bedenken ist ferner, daß eine Selbstversicherung nicht zur Anrechnung einer zuvor zurückgelegten Ersatzzeit führt (§ 1251 Abs. 2 Satz 2 Buchst. a RVO), und zwar selbst dann nicht, wenn sie durchaus zu Recht vor dem 1. Januar 1957 innerhalb des vorgeschriebenen Zeitraums begonnen wurde. Der Selbstversicherte steht nach neuem Recht in einer weniger engen Beziehung zur Versichertengemeinschaft als der Pflichtversicherte und hat deshalb nicht immer die gleichen Anwartschaften und Ansprüche. Dies entspricht der Gesamtkonstruktion des Gesetzes. Selbst der Weiterversicherte, der grundsätzlich die Wartezeit für die Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit als Pflichtversicherter erfüllt haben muß (§ 1233 Abs. 1 Satz 1 RVO), hat mit Nachteilen zu rechnen, weil er der Versichertengemeinschaft nach seinem Ausscheiden aus der Versicherungspflicht nicht mehr so nahe wie früher steht (vgl. zB § 1259 Abs. 3 RVO).
Scheidet die theoretische Möglichkeit der Selbstversicherung bei der Prüfung, ob ein versicherungsrechtlicher Nachteil entstanden sein kann, ohne Einschränkung aus, so kommt es nicht auf die "Versicherungsabsicht" an. Wäre sie als rechtserheblich anzusehen, so wäre in schwierige, zeitraubende und wenig erfolgversprechende Ermittlungen einzutreten. Gerade solche Ermittlungen wollte das Gesetz aber durch seine verkürzte Tatbestandsgestaltung vermeiden.
Hiernach ist das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen